Radikaler Respekt

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 26, 2015

Mit:
Monica Sharma
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AUSGABE:
Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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DIE SPIRITUELLE QUELLE GLOBALER DIALOGE

Was lehrt uns die Erfahrung spiritueller Tiefe in der Begegnung mit Menschen anderer Kulturen? Wir haben mit der sozialen Aktivistin und UN-Mitarbeiterin Monica Sharma und der spirituellen Lehrerin Annette Kaiser über ihre Vision eines globalen Dialogs gesprochen.

evolve: Die globale Realität, in der wir heute leben, stellt uns vor neue Herausforderungen. In eurer Arbeit versucht ihr auf je eigene Weise, verschiedene Kulturen miteinander in einen Dialog zu bringen. Was macht aus eurer Sicht kulturübergreifende Dialoge möglich?

Monica Sharma: Im Rahmen meiner Arbeit mit den Vereinten Nationen war ich in etwa 60 Ländern aktiv und mit schwierigen Fragen in diesen Kulturen konfrontiert, wie zum Beispiel gesundheitliche Versorgung in entlegene Gegenden zu bringen, den Umgang mit AIDS in Afrika oder Kinderprostitution. Bei all diesen Gelegenheiten war es für mich immer wichtig, das volle Potenzial und die inneren Möglichkeiten der Beteiligten zu sehen. Als Menschen haben wir alle die Fähigkeit zu lieben, wir haben Ängste und suchen nach Verbundenheit. Wenn wir in dieser Haltung unseres gemeinsamen Menschseins verwurzelt sind, ermöglichen wir einen Dialog, der nicht durch Hierarchie, Stereotypisierung oder Etikettierung bestimmt wird. Wir handeln aus einer tiefen Weisheit. Wichtig ist aber, dass wir diesen Dialog mit dem Ziel führen, zu konkreten Ergebnissen zu kommen, die den beteiligten Menschen wichtig sind und nicht auf meinen Ideen oder den Vorstellungen der Vereinten Nationen beruhen. Wir sollten nicht schon alle erforderlichen Schritte im Voraus bestimmten, sondern dem Prozess der Emergenz vertrauen, der zwei Voraussetzungen hat: die Erkenntnis, wer wir im tiefsten Wesen sind, und die Vision eines möglichen Wandels.

Annette Kaiser: Dafür ist es notwendig, eine introspektive Haltung zu entwickeln. Wir müssen tief in uns selbst hineinhören, in den raumlosen Raum, die ursprüngliche Einheit – eine Einheit vor allen Unterschieden. In diesem reinen Ort der Einheit ist es viel einfacher, einen Dialog zu beginnen, weil jeder Mensch auf einer bestimmten Ebene weiß, dass es keine Trennung gibt. In dieser Einheit erfahren wir ein Bewusstseinsfeld, in dem die Liebe alles durchdringt. Und das macht den Dialog viel einfacher, es ermöglicht eine Begegnung von Herz zu Herz, inmitten aller Unterschiede. In diesem ungeteilten Einssein sehen wir uns selbst, den anderen und die Welt im reinen Bewusstsein. Diese Präsenz ermöglicht einen globalen Dialog, der alle Unterschiede überwinden kann, und eine Einfachheit, die die Komplexität unserer heutigen Welt zu halten vermag.

¬ ICH MACHE KEINEN UNTERSCHIED ZWISCHEN SEIN UND TUN. ¬

e: Wie ist es aus eurer Sicht möglich, in solch einem Dialog unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Perspektiven wertzuschätzen und gleichzeitig nicht in Konflikte abzugleiten?

MS: Wichtig ist zunächst einmal, die Unterschiede anzuerkennen. In jeder Kultur, jedem Land, auf jedem Kontinent gibt es viele Unterschiede, die zum Beispiel auf Geschlecht oder Klassen beruhen. Diese Unterschiede existieren – die Frage ist, wie wir damit umgehen. Die Globalisierung ist eine Möglichkeit, nicht nur diese Unterschiede zu sehen, sondern auch das Verbindende zwischen uns Menschen. Das ist die Dimension, die Annette als raumlosen Raum bezeichnet, die Einheit, die wir mit Worten nicht ausdrücken können. Wie können wir uns mit diesem wortlosen Raum verbinden und ihn erforschen? Wenn ich mit Männern und Frauen arbeite, die aus unterschiedlichen Ländern kommen, ist es manchmal möglich, zusammen diesen Einen Raum zu erfahren. Und das hat tief gehende Konsequenzen, denn wenn wir mit dieser Energie der Einheit in Berührung kommen, kann zwischen uns etwas Kraftvolles entstehen, eine neue Möglichkeit des Handelns, die aus dieser tieferen Einheit kommt.

Wenn wir an kultureller Veränderung arbeiten, betrachten wir die sozialen Normen, die in einer Kultur wirken und sagen: »Wenn diese sozialen Normen den Einzelnen bestärken, werden wir sie akzeptieren, wenn sie aber unterdrückend wirken, dann nicht!« Wir lassen die Menschen aus der entsprechenden Kultur selbst herausfinden, was in ihrer Kultur einen Wandel unterstützt und was nicht – wir kommen nicht von außen und sagen, was sich verändern muss. Es ist entscheidend wichtig, dass wir nicht mit dem Finger aufeinander zeigen, egal ob wir aus reichen oder armen Ländern kommen, oder aus Ländern, in denen die Menschenrechte mehr Beachtung finden als in anderen. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um die Zukunft, die sich aus dieser kraftvollen Erkenntnis unserer Einheit als Menschen entwickelt, aus der der Wille zum Handeln und tiefes Mitgefühl entstehen. Unser Herz ist offen und wir können nicht einfach zusehen, wenn Unrecht geschieht und andere leiden. Es ist schlicht unmöglich, weil das Leiden des anderen auch meines ist. Aus einem gebrochenen Herzen, aus dem Mitgefühl erwächst, können wir global einen echten Dialog und eine neue Kultur erschaffen, die unserer Einheit als Menschen, Brüder und Schwestern, wirklich gerecht wird.

AK: In einem globalen Dialog voller Mitgefühl – was für eine wunderbare Formulierung, Monica – werden unser wacher Geist und unser weites Herz eins. Wenn wir in dieser Präsenz verwurzelt sind, können wir einen radikalen Respekt für die verschiedenen Kulturen finden und gleichzeitig Unterscheidungen treffen – wir sehen das »einzigartige Selbst«, das Geschenk jeder Kultur als Beitrag zum Ganzen. In diesem Dialog kommen wir aus dem Nicht-­Wissen. Wir brauchen die Offenheit für das, was wir noch nicht wissen, für das, was entstehen will. In diesem mitfühlenden Dia­log ist es besonders wichtig, dass wir aus dem Herzen sprechen und mit dem Herzen zuhören. Solch ein aktives Zuhören ist die Grundlage für jeden echten Dialog. Dann hören wir nicht nur das, was wir schon kennen oder hören wollen, sondern wir sind wirklich offen, um mit einem Geist zuzuhören, der herausfinden will, was sich im gemeinsamen Feld der Präsenz zeigt.

In der Villa Unspunnen haben wir in den letzten Jahren bei unserem Global Friends Retreat solch einen globalen Dialog praktiziert. Bei diesem Retreat kommen Menschen aus aller Welt zusammen, die sich aus einer spirituellen Tiefe heraus sozial engagieren. Wir stellen tiefe Fragen, teilen unsere Visionen für den Wandel und eröffnen den Raum, in dem sich eine neue Kultur zeigen kann, die in der Welt entstehen will. Dabei arbeiten wir mit innerer Stille und aktivem Dialog. Es ist dann nicht nur so, dass ein Mensch sich mit einem anderen durch Dialog verbindet, obwohl das auch sehr wertvoll ist. Aber in solch einem gemeinsamen Feld entsteht etwas, das größer ist, als die am Dialog Beteiligten.

¬ SPIRITUALITÄT IST EINE LEBENSWEISE UND NICHT ETWAS GEDACHTES. ¬

e: Ihr betont beide, dass ein Dialog auch zu konkreten Ergebnissen führen kann, die einen kulturellen Wandel ermöglichen. Der Dialog beinhaltet also einerseits diesen offenen Raum zwischen uns und andererseits wollen wir positive Veränderung bewirken. Wie seht ihr diese beiden Aspekte in eurer Arbeit?

AK: Wir müssen uns fragen: In welcher Welt wollen wir leben? Jeder von uns hat im Herzen die Ahnung einer besseren Welt; wir wissen, wie sie aussehen könnte. Im Dialog können wir unsere tiefste Vision und unser Wissen des Möglichen finden und miteinander teilen. Das ist der erste Schritt zu einer tieferen Bewegung in uns, in der sich die Zukunft offenbaren will. Wenn wir in der Quelle unseres Seins verwurzelt sind, wollen wir diese tiefere Erfahrung zum Ausdruck bringen und dafür müssen wir handeln. Es ist aber nicht so, dass jeder von uns allein handelt, sondern aus der Einheit sind wir in einem Feld der kollektiven Weisheit verbunden, aus der der Strom der Emergenz die Vision verwirklicht, die wir in unserem Herzen tragen: eine friedvolle Welt, in der alle Menschen und fühlenden Wesen in Harmonie und Würde leben.

MS: In meiner Arbeit gibt es innere Haltungen, die es mir erlauben, anders mit Konflikten und konkreten Veränderungen umzugehen. Zunächst mache ich keinen Unterschied zwischen Sein und Tun. Wie Annette sagt, wird aus diesem Raum der Einheit unser Handeln fließen. Jeder von uns hat in sich Zugang zu diesem Raum und wenn wir ihn öffnen, werden wir herausfinden können, was sich verändern muss; es wird sich zeigen, weil es mit der tieferen Wahrheit unseres Menschsein nicht übereinstimmt.

Wichtig für mich ist auch, dass wir einen tieferen Blick entwickeln, mit dem wir die unsichtbaren Normen und Regeln einer Kultur sehen können. In der Form des Dialoges, über die wir hier sprechen, wird auch das zum Thema: In welcher Wirklichkeit leben wir eigentlich? Oft können wir diese tieferen Dynamiken erst im Dialog offenlegen. Dann können wir auch vestehen, welche Probleme durch diese Wirklichkeit entstehen und wie sie sich verändern muss. Das tun wir aber nicht aus einer Haltung der Gegnerschaft oder mit wütendem Aktivismus, sondern als Aktivisten mit einem mitfühlenden Herzen und dem Verständnis dafür, wie eine Kultur gewachsen ist. Es gibt eine Haltung, in der beides zusammengeht – ich kann den inneren Raum von Einheit und Mitgefühl halten und gleichzeitig entschieden handeln und nötige Veränderungen umsetzen.

AK: Ich denke, was du beschreibst, verweist auf die Tatsache, dass wir uns von einer rationalen Bewusstseinsebene in ein integrales Bewusstsein entwickeln müssen, das über die Trennung hinausgeht. Spiritualität ist eine Lebensweise und nicht etwas Gedachtes. Es bedeutet, die Veränderung selbst zu sein, die wir wünschen – und dies ganz praktisch: in unserer Familie, an unserem Arbeitsplatz und wie wir z. B. lokal-global politische Verantwortung übernehmen. Es geht darum, beispielhaft voranzugehen: mit Respekt, Toleranz und in Liebe für die ganze Welt. Im Moment gibt es in Europa die riesige Herausforderung der Migration. Sie verlangt von uns, dass unsere Gedanken, Worte und Taten aus dem großen Raum des offenen Herzens kommen, wo wir die untrennbare Einheit allen Seins und Werdens erkennen und daraus – mit gesundem Menschenverstand – wirksam werden.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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