Sich den globalen Schatten stellen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

January 24, 2018

Mit:
Donata Nebel
Joanna Macy
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AUSGABE:
Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
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Entwicklungsarbeit auf Augenhöhe

Donata Nebel war im Rahmen eines Bildungsprojekts für junge Menschen während des Erdbebens 2015 in Nepal. Diese Erfahrung hat sie tief greifend verändert. Wir sprachen mit ihr über ihre Fragen und Erfahrungen zu einem Wirken in der Welt, das aus Demut und Wertschätzung anderer Kulturen erwachsen kann.

evolve: Du hast an dem Bildungsprojekt Project Peace teilgenommen und aus diesem Anlass auch einige Zeit in Nepal verbracht. Was hat dich bewogen, an diesem Bildungsjahr teilzunehmen?

Donata Nebel: Das Project Peace war für mich genau die richtige Mischung aus tiefer inhaltlicher Auseinandersetzung mit mir selber im Kontext einer Gruppe und dem Erfahren konkreter Methoden, wie gewaltfreie Kommunikation, Meditation oder Gruppenprozessen. Und gleichzeitig für ein halbes Jahr in die Welt entlassen zu werden, um allein meinen Fragen auf den Grund zu gehen. In dem halben Jahr in der Gruppe habe ich sehr viel über mich selbst gelernt und auch meine Spiritualität selbst entdeckt, unabhängig von meinen Eltern.

e: Wie war die Erfahrung in Nepal für dich, auch während des Erdbebens dort?

DN: Unglaublich intensiv. Ich habe anfangs in einer deutschen Organisation gearbeitet und bin mit den Schattenseiten der Entwicklungspolitik konfrontiert worden, weil ich das Gefühl hatte, dass die beiden Leiterinnen versteckt kolonialistisches Management betrieben. Dabei wurde im Grunde davon ausgegangen, dass wir als Deutsche den Nepalesen erklären müssen, wie sie es richtig machen sollten. Für mich entstand die Frage, warum ich als Weiße mit 20 Jahren, die die Sprache nicht spricht, plötzlich in der Position bin, dass mir Menschen Macht geben, etwas zu tun, von dem ich eigentlich gar keine Ahnung habe. Mir fiel es schwer, dort meinen Platz zu finden, und deshalb habe ich das Projekt verlassen und bin in eine kleine Schule für Straßenkinder gegangen. Ich habe mich einfach in diese Kinder verliebt. Ein Schlüsselerlebnis war, dass mir gleich angeboten wurde zu unterrichten. Dagegen habe ich mich aber gesträubt, denn was gibt mir als Weiße, die die Sprache nicht spricht, diese Autorität? Stattdessen wollte ich mich nur hinsetzen und dem Unterricht zuschauen. Das war dann der Moment, wo ich wirklich angekommen bin: Demut üben, zuschauen und es auf mich einwirken lassen. Wie ist der Umgang mit Gewalt an der Schule? Denn die Kinder wurden alle geschlagen. Damit tun sich viele Dilemmata auf. Ich fragte mich, wie ich damit umgehen kann, was meine Rolle dabei ist. Erst danach habe ich mich eingebracht und mit den Kindern viel Kunst gemacht, alles sehr improvisiert.

Dann kam das Erdbeben und damit begann ein ganz neues Kapitel. Ich hatte begonnen, die Kinder zum Zahnarzt zu bringen. Aber jetzt ging es darum, Kinder zu suchen. Und für mich hat dieses Erlebnis auch neue Fragen aufgeworfen. Es war eine große Katastrophe, die ich auch erlebt habe, aber immer mit einer gewissen Schutzschicht, weil ich eine Weiße bin, die ein Rückflugticket hat, die in einem Haus lebte, das nicht eingestürzt ist. Trotz der Nahrungsengpässe hatte ich genug Geld, um mir Essen zu kaufen. Deshalb habe ich das Erdbeben erlebt und doch nicht erlebt – das wahre Ausmaß konnte ich nicht begreifen, weil ich so privilegiert war. Ich fragte mich, was ich in dieser Situation tun kann, weil ich nicht ausgebildet war, um Häuser aufzubauen oder Tote zu bergen. Im Endeffekt habe ich dann versucht, einzelnen Menschen, die ich schon kannte, zu helfen.

Aber es hat für mich Fragen über die Entwicklungshilfe als solche entstehen lassen. Denn eigentlich sollte es ja Hilfe zur Selbsthilfe sein, aber oft genug habe ich dann doch das gemacht, was ich für richtig hielt. Ich habe gesehen, dass die Kinder kaputte Zähne haben, bin mit ihnen zum Zahnarzt gegangen und habe das selbst bezahlt. Aber nachhaltig ist es nicht, weil es nicht von den Menschen selbst kommt. Auf all diese Fragen habe ich keine Antworten, sie arbeiten immer noch in mir.

Das Geheimnis liegt für mich darin, die Welt immer wieder neu zu bestaunen. 

e: Wie bist du diesen Fragen nach deiner Zeit in Nepal weiter nachgegangen?

DN: Ich habe ein Praktikum bei der Organisation SOS Mediterranee gemacht, die mit Schiffen Flüchtlinge im Mittelmeer retten. Dort habe ich die NGO-Arbeit kennengelernt und war im Fundraising aktiv. Danach bin ich mit einer Freundin von Deutschland aus in den Iran getrampt. Für mich ist das Trampen eine der tiefsten Lernmöglichkeiten, weil ich dabei für kurze Zeit in den Lebenskosmos eines Menschen eintauchen kann. Das ist so etwas wie meine aktive Demutsübung, weil ich ganz unterschiedliche Lebenskontexte wahrnehmen kann. Diese Reise in den Iran hat mir gezeigt, wie wenig ich eigentlich von der Welt weiß und wie behütet ich aufgewachsen bin. Dass ich von Frieden spreche, aber merke, wie tief Grenzen in uns verankert sind und dass Menschen andere Menschen hassen, ohne sie zu kennen. Und dass das ein Gefühl ist, das ich nicht nachvollziehen kann, weil ich nicht damit aufgewachsen bin, dass mir gesagt wird, diese anderen Menschen sind für dein Leid verantwortlich. Bei den vielen Diskussionen während der Reise wurde mir immer wieder vorgeworfen: »You have no idea, because you grew up in a peaceful country.« Und das stimmt. Natürlich will ich Frieden, und so bin ich auch aufgewachsen, aber mir wurde bewusst, was für ein unglaublich langer Weg das ist, wenn man es global betrachtet.

e: Hat sich durch all diese Erfahrungen auch deine Spiritualität gewandelt?

DN: Ja, ich denke schon. Ich habe ein ganz tiefes Vertrauen in irgendetwas, von dem ich mich gehalten fühle, bin aber auch permanent auf der Suche, wie weit dieses Vertrauen reicht. Es gibt einen Anteil in mir, der das herausfordern möchte und wissen möchte, ob dieses Vertrauen hält. Ich weiß nicht, was ich als meine Spiritualität bezeichnen kann, aber es ist eine ganz große Liebe zur Welt, in der ich berührt bin durch die Ästhetik, die ich überall entdecke. Besonders wenn ich auf Reisen bin, habe ich einen direkten Zugang zur Ästhetik, weil mein Blick dann nicht so verschleiert ist. Wenn man in einem Auto mit türkischer Musik durch die Wüste fährt oder in einem Auto sitzt, in dem sich Menschen mit Gebärdensprache unterhalten – das sind diese kleinen Momente, die so unglaublich viel Schönheit in sich tragen.

e: Wie siehst du nach diesen verschiedenen Erfahrungen, durch die du auf die eine oder andere Weise das Leben und dich selbst besser verstehen und die Welt ein wenig zum Besseren verändern wolltest, deine Zukunft?

DN: Ich habe einen sehr konkreten Plan, ich studiere »Liberal Arts and Science«, ein vierjähriges Studium generale mit Vertiefungsmöglichkeiten. Im ersten Jahr konnte ich Einblicke in alle Natur- und Geisteswissenschaften gewinnen und habe mich jetzt in das Thema Governance vertieft, also Politik, Soziologie und Wirtschaft. Dieser breit gefächerte Studiengang ist eine sehr gute Möglichkeit, all den Fragen, die ich habe, nachzugehen. Nach meinem Studium möchte ich eine Ausbildung im zivilen Friedensdienst machen und dann am liebsten einen Master in Not- und Katastrophenhilfe. Es ist zwar ein ungeheurer Reichtum, sich theoretisch mit diesen Themen auseinanderzusetzen, aber ich verspüre ein ganz großes Bedürfnis, praktische Fähigkeiten zu erlernen. Ich möchte herausfinden, wie Entwicklungsarbeit wirklich auf Augenhöhe geschehen kann, auch wenn das Geld dafür fast immer aus dem Westen kommt. Und wie ich anderen Kulturen gegenüber demütig sein kann, auch wenn sie nicht meinen Werten entsprechen.

Vielleicht liegt für mich das Geheimnis darin, die Welt immer wieder neu zu bestaunen, um mich ihrer Ästhetik hinzugeben. Die Welt als Geliebte zu betrachten, wie Joanna Macy es ausdrückt. Aber dabei bodenständig und tatkräftig zu bleiben. Was bedeutet es, sich verbunden zu fühlen, wenn ich die privilegierte Position der weißen Europäerin genieße und nie wirklich die Ungerechtigkeit dieser Welt zu spüren bekam? Ich habe keine Antworten. Allerdings habe ich Lust, es herauszufinden.

Author:
Mike Kauschke
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