Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 21, 2016
Was Lebendigkeit ist, wird in vielen Formen von außen an uns herangetragen. In diesen, auch geschlechterspezifischen Konventionen zeigt sich aber oft vor allem die Begrenzung unseres wahren Lebenspotenzials: Die Emergenz in das ganz Neue, die schon immer den Lebensprozess zu einem unberechenbaren Geheimnis gemacht hat.
Wenn wir die Uhr der Evolution rückwärts laufen lassen, so sagen uns Biologen, dannverpassen wir den außergewöhnlichen und unerwarteten Prozess der Emergenz, derdie Sterne, Blaualgen, Bienen, Panther und auch uns selbst, als männlich undweiblich, ins Leben gebracht hat. »Man kann sich Emergenz als die Form derKreativität in der Natur vorstellen«, schreiben Ursula Goodenough und TerrenceDeacon in einem Artikel mit dem Titel »Die heilige Emergenz der Natur«. DieGeburt der Elemente aus den Sternen war ein geheimnisvolles Ereignis, doch nochgeheimnisvoller ist die Tatsache, dass sich irgendwann Sauerstoff, Wasserstoff,Stickstoff, Kalzium, Phosphor und ein paar Spurenelemente zusammengetan haben,aufstanden und sich umsahen – durch die Augen von Echsen, Elefanten undschließlich auch durch unsere Augen.
»Emergenz«,erklären Goodenough und Deacon, »ist mehr als nur ›Das Ganze ist mehr als dieSumme der Teile‹. Sie ist überraschender. Jede neue Entfaltung in der Natur,jeder Sprung erschafft etwas anderes. Dieses andere hat Fähigkeiten und Eigenschaften, die es vorhernoch nicht gab. In ihren Worten: »etwas anderes aus dem (zuvorigen) ›nichtsals‹«. Aus dem nichts als Wasserstoff und Sauerstoffentsteht etwas anderes, vollkommen Neues: Wasser. Aus nichtsals Bakterien entsteht das andere: die Zelle.Aus nichts als den Allelen, die sich in frühen Zellenmiteinander verbinden, entsteht das andere: männlichund weiblich.
Emergenz ist unsere Verbindung mit den Tiefen des Lebensprozesses.
Die Biologie weiß nicht, warum wir männlich und weiblich sind, und doch haben wirMenschen ganze Welten um diese Emergenz herum aufgebaut. Auch mit der Emergenzdes Menschen geschieht etwas anderes. »Biologischsind wir nur eine Form von Affen, mental gesehen sind wir eineganz neue Spezies«,erklärt Deacon in The Symbolic Species (Die symbolischeArt). Emergenz hat durch menschliche Hände und menschlichen Verstand denReichtum unserer Kulturen entstehen lassen, durch die wir definieren, was esbedeutet, männlich oder weiblich zu sein. Von der Verbundenheit der Frauen undihres Menstruationszyklus’ mit dem Mond bis hin zu medizinischen Eingriffen,die heutzutage Geschlechtsumwandlung möglich machen – die Grenzen der Emergenzsind heute keine physischen mehr, sondern sie bestehen in Sprache, Narrativen,Sinn, der Tiefe der Selbstwahrnehmung und unserer Fähigkeit zugemeinschaftlichem Handeln. Hier liegt heute der Grenzbereich des Lebendigen.
Wir bestehen aus Emergenz, und je mehr wir befreit sind von den Notwendigkeiten desbloßen Überlebens, desto mehr sehnen wir uns danach. Emergenz ist unsere Verbindung mit den Tiefen des Lebensprozesses. Wie sehr sind wir mit diesemProzess des Lebens verbunden? Je mehr sich der Ort der Emergenz vom Physischenhin zu Kultur und Verstand und weiter bis zum Bewusstsein selbst verschiebt,desto mehr müssen wir durch die Schichten unserer Persönlichkeithindurchdringen, die uns umhüllen wie eine dicke Wattierung. Wir alle sindeingehüllt von Narrativen, die mit den ökonomischen und politischen Systemenzusammenhängen, in denen wir leben. Zwar können wir nicht einfach außerhalb derSysteme leben, die unsere Kultur konstituieren, und doch hängt jede neue Emergenz, jede Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel davon ab, dass wir unsaus ihrem Griff lösen.
Vor einigen Jahren hat mir eine Kollegin die ernüchternde Geschichte eines Workshops erzählt, den sie in einer ärmeren Gegend von Philadelphia mit Kindern abhielt, die alle jünger als zehn Jahre waren. Sie hatte gehofft, den Kindern dabei helfen zu können, mit den Traumata fertig zu werden, die ihnen das Lebenin einer von Gewalt gebeutelten Gegend zufügt. Sie bat sie, ein Bild von einem ihrer Träume zu malen. Die Kinder malten mit leuchtenden Augen lebendige Bilder– lauter Cartoon-Figuren wie Batman oder Belle aus dem Disney-Film Die Schöne und das Biest, Kinoheldinnen und -helden. Sie war etwas verdutzt und bat sie ein weiteres Mal, einen Traum zu malen, an den sie sich erinnerten. Jetzt waren die Kinder verblüfft. Das waren doch ihre Träume, erklärten sie. »Könnt ihr mir nicht etwas aus einem Traum malen,wenn ihr mal nicht von einem Film oder einem Cartoon träumt?«, fragte sie.»Dann träumen wir gar nicht«, war die Antwort. Dreamworks hat unsere Kinder kolonisiert.
Unsere Alltagsrealität wirkt schäbig neben den Bildschirmen, deren Farben zu bunt und strahlend für das menschliche Auge sind. Wir werden in Welten gelockt, die wir nie bewohnen werden und angesichts derer die Gewöhnlichkeit des Lebens langweilig wirkt. Heutzutage versteht es so gut wie jedes zwölfjährige Mädchen, wie ein Supermodel über den Catwalk zu stöckeln. Zum Glück regt sich auchWiderstand: Der Kampf gegen das Photoshoppen ist ein Widerstand gegen Gesichter ohne Poren, torpedoförmige Brüste und Beine, deren Umfang nur der Hälfte der zum Gehen nötigen Muskelmasse entspricht. Dieser Widerstand gestaltet sich allerdings nicht einfach, denn diese Kolonisierung findet auf der Ebene desSelbst statt. Die ich-zentrierte Welt von iPhone und Facebook fordert einenständigen Aufwand an Selbsterschaffung, bei dem nichts herauskommt als Selfies.»Wir stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit«, schreibt Thomas de Zengotita in seinem brillanten Buch Mediated (Vermittelt), »aber die Dinge sind irgendwie dünn, glatt, abgedimmt – alles ist wie gedämmt … Alles weist die kantenlose Anmutung einer Computergrafik auf, wie die Lobby eines Marriott-/Ramada-/Sheraton-Luxushotels: die skulpturalen Blumenarrangements, die schimmernde, purpurne, gedämpfte Holz-Marmor-Atmosphäre.«
Messen und Zählen stehen für die neue Form der Selbstwahrnehmung.
Viele Menschen scheinen sich bewusst darüber zu werden, dass unsere Verbindung mit demLeben ihre Unmittelbarkeit verloren hat. Eine Kultur der Intensität ist im Entstehen als Gegenbewegung zu dieser Verflachung des Menschlichen auf eindigitales Bildschirmformat. Eine Fitnesskultur wie etwa der CrossFit-Kulteifert danach, die Muskulatur in kürzester Zeit zu einem Maximum an Spannungund Umfang aufzubauen: kürzer, schneller, stärker. Wie kann ich die Zeitaustricksen, um aus einem irrsinnig vollen Tag das Maximum herauszuquetschen?Also lassen wir uns Fitness-Armbänder für die »Lebensoptimierung« andrehen, dieuns dazu auffordern, unsere täglichen intimen Rituale zu vermessen. Messen undZählen stehen für die neue Form der Selbstwahrnehmung. Bei all dem gibt es keinInnenleben mehr. Alles kommt von außen.
Als Reaktion kommt der Ruf nach Authentizität und Transparenz. Ich fühle mich immeretwas geschockt und betrübt, wenn ich Posts von »Freunden« auf Facebook lese,die ich nie persönlich kennengelernt habe und die mir trotzdem ihren neuestenAnfall von Depression mitteilen. Wo sind eigentlich ihre echten Freunde?Natürlich, ich hoffe, dass es die gibt, irgendwo untergemischt in der Liste allder anonymen Zuschauer. Aber ist das gleichzeitig nicht ein Haschen nach authentischer Beziehung? Oder Transparenz, en masse? Mehr als einmal habe ich erlebt,wenn in einem Seminar für Frauen das Thema Transparenz aufkam – wenn es also darum ging, echt, authentisch, nackt einander gegenüberzustehen –, dass eine der Frauen aufsprang und sich die Kleider vom Leib riss, ganz aufgekratzt durch ihre »Transparenz«. Was aber hat eine tiefere Transparenz mit physischer Nacktheit zu tun?
In einer Kultur, deren dominante Ideologie allein das Materielle würdigt – Wieviel wiegt es? Was kostet es? – wird Lebendigkeit mit Intensität und Sensationverwechselt. Wenn sich etwas intensiv oder unerhört oder spritzig anfühlt, dannexistieren wir. Aber das ist wie Junk-Food: Es produziert nur mehr Sehnsuchtund leeres Hungergefühl.
Die Moderne hat im Westen zwei Narrative entstehen lassen: die Heldensage für dieMänner und die Romanze für die Frauen. Diese Narrative sind nicht nur vonDisney und Marvel vereinnahmt worden, sie sind als Narrative auch nicht mehrhilfreich, um Sinn und Zweck eines authentischen Lebens als Mann oder Frau zu definieren.Ich sage nicht, dass Heldentum dämlich und eine Liebesgeschichte schlecht ist.Solche Geschichten bergen in sich wunderbare Ideale und Träume. Das Problem ist, dass sie nicht mehr zu den emotionalen, kreativen, spirituellen undpraktischen Dimensionen unseres Wesens passen. Und doch leben sie weiter, nichtnur auf der Leinwand, sondern tief eingewoben in unsere Identität. Solangeunsere Erwartungen ans Leben unter dem Bann dieser Geschichten stehen, sind das Ergebnis Frustration, ein Gefühl des Versagens oder der Desillusionierung, ganz einfach deshalb, weil die soziale Wirklichkeit, die diese Geschichtenbeschreiben, nicht existiert.
Was geschieht, wenn die Identität als Mann an das tapfere, kriegerische Heldentumgekoppelt ist, das den Stoff für Legenden ausmacht? Der Lohn des Helden istnatürlich das, was er liebt: eine Frau, die ihn heiratet und ihm Kinderschenkt. In weniger als hundert Jahren wurde dieses Narrativ neuübersetzt:Statt Geschichten über Kriegshelden werden nun Geschichten vom Mann alskapitalistischem Abenteurer erzählt, der entweder eine Firma (seine »Armee«)aufbaut oder für eine Firma arbeitet, um für seine Familie zu sorgen. Das Schutzangebot wurde vom physischen Kampfeinsatz auf den Broterwerb verlagert. Bei manchen lebt die Hoffnung auf ein Heldenleben weiter in verschiedenenFormen des Unternehmertums, besonders in der Vorstellung »Tu Gutes, um gut dazustehen« des Social Entrepreneurship. Doch die Regeln des Einsatzes und auchder Lohn haben sich drastisch geändert. Was geschieht mit einem Mann mit traditionellen Werten und Vorstellungen, wenn immer mehr Frauen die Rolle derNebendarstellerin im Leben eines anderen nicht mehr genügt? Oder wenn – weil die Arbeit dreckig, schlecht bezahlt und entfremdet ist – sich die Sehnsuchtnach Heldentum deformiert und als der hohle Kitzel daherkommt, Killer in einem gewalttätigen Computerspiel zu sein? Es überrascht mich nicht, einen Aufwärtstrend bei Männergewalt zu beobachten, der einhergeht mit rechtsextremen, traditionalistischen Werten. Möglicherweise sehnen sich all diese Männer einfach danach, Helden zu sein.
Lebendigkeit wird mit Intensität und Sensation verwechselt.
Um die Realität der Romantik steht es nicht viel besser. Der derzeit hippe Trend, mit Polyamorie zu experimentieren, dehnt das romantische Drama nur noch aus undschafft noch größere emotionale Intensität. Das Sich-Herumschlagen mitmächtigen Emotionen wie Eifersucht und Unsicherheit mag alle Beteiligtenvibrieren lassen wie die Saiten einer Geige – aber befreit es wirklich von demNarrativ, dass eine Frau nicht vollständig ist, wenn sie niemanden hat, der sieliebt? Der Megaseller Shades of Grey verlegt die klassische Liebesgeschichte »Mädchen trifft reichen Mann« ins pornografische Milieu. Ein gar nicht so feinsinniges Thema aller Liebesgeschichten war schonimmer das Zur-Ware-Werden des Selbstes – die Objektivierung, das »Verkaufen« der eigenen Persönlichkeit, des Aussehens, des Körpers –, was ein Abrutschen inPornografie und Prostitution allzu nahe legt. »Pornografie«, stellt Audre Lordefest, »betont die sinnliche Erfahrung ohne Gefühl.«
Wenn wir uns selbst als gefangen in einem zu engen Narrativ erleben, das die Entfaltungsmöglichkeiten unseres Lebens einschränkt, ist die BauchreaktionTrotz und Regelverstoß. Die fortdauernde Faszination der Sechzigerjahre kommtvon dem greifbaren Gefühl der Emergenz, das diese Zeit so aufregend sein ließ.Damals wurde ein Potenzial geboren, eine neue Lebendigkeit, die die bürgerliche Selbstzufriedenheit wegfegte, um sich für die Gleichheit der Rassen und Geschlechterund für die Sorge um Mutter Erde einzusetzen. So wie die russischen Punkrockerinnen von Pussy Riot Obszönitäten in einer Kirche aufführten, haben wir es damals gewagt, gegen die Regeln zu verstoßen, Verbotenes auszuprobieren und unsere Freiheit unter Beweis zu stellen. Aber an einem Punkt – und dieser Punkt liegt mindestens zehn Jahre zurück – haben wirgemerkt, dass alles gesagt und getan ist. Wir haben die grünen Haare, diePiercings und Tätowierungen satt. Feilen wir als Nächstes unsere Zähne spitz? Oder geht das Nachdenken darüber, was als Nächstes dran ist, etwas mehr in dieTiefe?
Emergenz hat mit Regelverstößen nichts zu tun. Sie ist weitaus radikaler – sie geht andie Wurzel. Die Unmittelbarkeit des Lebens, nach der wir uns sehnen, verlangtnach mehr als nur nach Regelverstoß und Trotzhaltung. »Wir sind so erzogen,dass wir das Ja in uns fürchten, unser tiefstes Sehnen«, sagt Lorde. Das tiefste Ja in uns will unsdaran erinnern, woher wir stammen: Die Gesamtheit der Schöpfung lebt in uns und kommt durch uns zu neuem Leben. An diesem Punkt, als die komplexen, multidimensionalen Geschöpfe, die wir sind, ist es an der Zeit, die Verlockungen der alten Geschichten zu durchschauen, die uns ihre beschränkten,zunehmend pornografischen Verführungen präsentieren, und sie loszulassen. Es istTranszendenz in Aktion, im Leben als Leben, als ein Ausgreifen nach vorn, überdas Althergebrachte hinaus.Es geht um neue Formen des Zusammenlebens, um neue Potenziale desZusammenseins, um das Erzählen neuer Geschichten, wer wir sind und wohin wirunterwegs sind. Lasst uns aus dem »nichts als das«, was wir jetzt sind, etwasAnderes, Neues,Zukünftiges schaffen. Das ist menschliche Lebendigkeit.