Bewusstsein für systemische Veränderung
In seiner Arbeit mit Veränderungsprozessen in globalen Unternehmen und Regierungen betont Otto Scharmer, dass wir für eine gesellschaftliche Veränderung auch unser Bewusstsein verändern müssen. Im Interview beschreibt er diesen Schritt von einer fragmentierten Wahrnehmung der Welt zum Denken und Handeln in komplexen, sich entwickelnden Prozessen.
evolve: Sie haben am MIT über Jahre ein Prozessdesign entwickelt, das Transformationsprozesse unterstützt. Was ist Ihre Vision von sozialer Transformation und wie kann sie möglich werden?
Otto Scharmer: In Hinblick auf soziale Transformation gibt es eigentlich zwei Sichtweisen. Die eine sagt: Transformationen im Großen sind das Ergebnis der Summe von Einzeltransformationen. Also wenn es nur genug individuelle Entwicklung gibt, dann wird sich auch die Transformation der größeren Systeme ereignen. Die andere Sicht sagt: Das ist vielleicht eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, denn wir müssen auch auf die systemischen Akupunkturpunkte schauen.
In meiner Arbeit mit systemischen Veränderungsprozessen und der Begegnung mit Menschen, die an sozialer Transformation arbeiten, sehe ich immer wieder eine Verengung des Fokus. Die Experten, die sich mit Geld befassen, sagen, dass man nur das Geldsystem ändern müsste, dann würde sich das gesamte System ändern. Und für andere ist die Ökologie der entscheidende Punkt, etwa der Kampf gegen den Klimawandel. Eine dritte Gruppe sieht den Schlüssel in Entrepreneurship, ihnen geht es gewissermaßen um die Befreiung der Arbeit. Eine vierte Gruppe, die wir vor allem im Silicon Valley finden, setzt voll auf neue Technologien, die uns die Befreiung bringen werden.
Acht Akupunkturpunkte
e: Können Sie diese Akupunkturpunkte näher erläutern?
OS: Die acht Akupunkturpunkte, wie wir sie sehen, beziehen sich auf die ökonomische Produktion und deren notwendige Weiterentwicklung. Das sind (1) Natur (vom Rohstoff zum Ökosystem), (2) Arbeit (von Jobs zu kreativem Unternehmertum), (3) Kapital (vom Profit zu sinnvoller Investition) – also die klassischen ökonomischen Produktionsfunktionen. Heute sind (4) Technologie (vom System-Fokus zum Fokus auf Mensch und Natur) und (5) Leadership (von individuellen Helden zur gemeinsamen Wahrnehmung und Willensbildung) hinzugekommen. Dazu kommen noch (6) Konsum (vom Konsumismus zum bewussten, kollaborativen Teilen), (7) Governance (von Hierarchie und Konkurrenz zu ko-kreativen Feldern) und (8) Eigentum (vom Staats- und Privateigentum zum Gemeingut).
¬ ÖKOSYSTEM-BEWUSSTSEIN BEZIEHT SICH AUF EIN SICH ENTWICKELNDES, GESAMTÖKOLOGISCHES, SOZIALES UND SPIRITUELLES FELD. ¬
Das sind acht Brennpunkte der ökonomischen Transformation, die ursächlich sind für die heutige ökologische, soziale und spirituelle Krise. Das Grundproblem ist eigentlich ein altes Verständnis ökonomischer Systeme, worin diese acht Kategorien ökonomischen Denkens vor dem Hintergrund eines Egosystem-Bewusstseins gedacht werden. Wir sind der Meinung, dass man diese acht Kategorien vor dem Hintergrund eines Ökosystem-Bewusstseins neu denken kann und muss – eines Bewusstseins, das auf dem gesamten sozialen Feld basiert und nicht nur auf einer Einzelrationalität. Ökosystem-Bewusstsein bezieht sich also auf die Rationalität eines sich entwickelnden, gesamtökologischen, sozialen und spirituellen Feldes.
e: Der zentrale blinde Fleck in unseren Systemen ist also eigentlich das Bewusstsein. Wie kann eine Veränderung unseres Bewusstseins zu sozialer Transformation beitragen? Und in welche Richtung muss sich unser Bewusstsein dafür entwickeln?
OS: In den letzten 10 bis 15 Jahren hat Achtsamkeit immer mehr Interesse geweckt. Achtsamkeit ist von einem marginalen Thema immer mehr in den Mainstream gerückt und spielt heute in der Kognitionsforschung, in Gesundheit und Medizin sowie in der Bildung und seit Kurzem auch im Bereich Leadership eine Rolle. Grundsätzlich ist das ja eine sehr positive Entwicklung. Dabei wird Mindfulness meist als eine Achtsamkeitsmethode verstanden, die auf die Kultivierung des Individuums angewendet wird. Der blinde Fleck liegt aber darin, Achtsamkeit auch auf die Transformation des gesamten sozialen Feldes anzuwenden. Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen. Mit Achtsamkeit meine ich die Fähigkeit, sich dessen bewusst zu werden, dass wir bewusst sind, »paying attention to your paying attention«. Es ist eine Umwendung des Blicks, zurück auf den eigenen Prozess, zurück auf die eigene Quelle. Und das nicht nur als Einzelner, sondern auch im Hinblick auf Gruppen, Organisationen und größere soziale Systeme.
Für diesen Umschlag im Bewusstsein verwende ich im Englischen die Formulierung »bending the beam of observation onto the observing self«, also das Umbiegen des Blicks zurück auf die eigene Quelle. Wenn das in der Gruppe stattfindet, dann nennen wir das Dialog. Dialog bedeutet ja nicht, dass Leute einfach miteinander reden, sondern Dialog ist die Fähigkeit des Systems, sich selber anzuschauen. Und genau das Gleiche findet letztendlich auch in den Entwicklungsprozessen größerer Systeme statt.
Wenn wir in Indonesien, China, Brasilien oder Nordamerika mit Systemen arbeiten, in denen es viele Interessengruppen gibt, ist das strategische Ziel diese Umwendung des Blicks. Das ist natürlich umso schwieriger, je komplexer und widersprüchlicher die Interessengruppen sind. Aber der Grundvorgang ist eigentlich ganz einfach und immer der Gleiche. Insofern geschieht bei der Achtsamkeit, im Dialog und in einer bewusstseinsgesteuerten Systemtransformation immer der gleiche Bewusstseinsumschwung. Die Essenz dieses Umschwungs ist der Blickwechsel von »mir« zu »wir«, von »Ego« zu »Öko«, d. h. von einer fragmentierten Silo-Perspektive auf das Problem zu einer mehr ganzheitlichen Perspektive, die es mir erlaubt, ein Problem aus der Sicht unterschiedlicher Interessengruppen wahrzunehmen und zu erleben. Zum Beispiel: Kann ich als Unternehmer meine Wertschöpfung wirklich aus der Sicht der Kunden erleben? Können die Entscheidungsträger im Gesundheitssystem wirklich die Wirkung ihrer Entscheidungen aus der Sicht der am meisten marginalisierten Nutzer/Patienten erleben?
Das Rettende wächst
e: Wo sehen Sie Beispiele für solch eine Entwicklung?
OS: Hier in Nordamerika gibt es auf lokaler Ebene eine Bewegung mit dem Namen BALLE, Business Association For Local Living Economies. BALLE ist das am schnellsten wachsende Unternehmernetzwerk für nachhaltiges Wirtschaften. Oftmals beginnen solche Initiativen mit ökologischer Landwirtschaft, woran sich dann Verarbeitungsbetriebe und weitere unternehmerische Prozesse anschließen. Dabei entstehen Kooperationsverhältnisse auf lokaler Ebene und neue ökologische Kreisläufe. Durch gemeinwirtschaftliche unternehmerische Initiativen wird in gegenseitiger Unterstützung eine regenerative Ökonomie von unten her neu belebt.
Eine andere Bewegung hat in den letzten Jahren verstärkt das Thema Mitgefühl, Altruismus und Großzügigkeit in das unternehmerische Handeln gebracht. Hier gibt es interessante Experimente, die zeigen, dass durch altruistisches Handeln als ökonomisches Prinzip eine ganz andere Kreativität innerhalb einer Gemeinschaft freigesetzt werden kann. Das sind Prozesse, die wir heute im Kleinen schon sehen können, im Grunde sind es die Anfänge des Neuen, die aber einer Pflege bzw. eines Umfelds bedürfen, in denen sie wachsen können.
¬ WIR KÖNNEN ACHTSAMKEIT AUCH AUF DIE TRANSFORMATION DES GESAMTEN SOZIALEN FELDES ANWENDEN. ¬
e: Haben lokale Initiativen die Kraft, eine globale Transformation auszulösen? Wie ist Ihre Vision einer solchen Transformation?
OS: Wenn wir uns die Kapitalvolumina anschauen, die in der alternativen Ökonomie bewegt werden, wie beispielsweise in der GLS Bank, der Triodos Bank oder der GABV, der Global Alliance For Banking on Values, und sie mit dem vergleichen, was an der Wall Street bewegt wird, dann sind sie immer noch verschwindend gering. Eine wirkliche Systemveränderung erfordert letztendlich mehr als nur lokale Projekte. Ich denke, lokale Projekte und lebendige Beispiele sind in allen großen systemischen Erneuerungsprozessen notwendig, aber nicht hinreichend. Zusätzlich brauchen wir eine öffentliche Diskussion, die auch politisch geführt werden muss, wo wir uns darüber verständigen, welche Zukunft wir eigentlich wollen, die über die eine Alternativlosigkeit, die uns durch vermeintliche Systemzwänge aufoktroyiert wird, hinausgeht.
Optimistisch machen mich die Erfahrungen, die ich nicht nur im Rahmen der alternativen neuen Ökonomie mache, sondern auch bei etablierten, globalen Konzernen und Regierungen in China, Europa oder Brasilien. Überall in diesen großen alten Apparaten gibt es ein Bewusstsein dafür, dass ein altes Prinzip zu Ende geht und wir eigentlich etwas Neues brauchen, insbesondere bei den jüngeren Führungskräften. Deshalb denke ich, wir müssen für eine wirkliche System-Transformation die Prototypen des Neuen und die neuen Kooperationsformen mit den Erneuerungskräften innerhalb der alten Systeme verbinden. Und dafür brauchen wir neue Kooperationsplattformen.
Deshalb glaube ich, dass unsere ökologische, soziale und spirituelle Krise immer größer wird, dass aber gleichzeitig die Erneuerungsprozesse mitwachsen. Wie Hölderlin sagte: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Und wo wächst das Rettende? In der Verbindung von Herz zu Herz.