Kompetenz in Zeiten der Komplexität
Komplexität lässt sich nicht beherrschen. Wir müssen sie leben. Das stellt unser Selbstbild als Einzelne in Frage. Was es heute braucht, ist intersubjektive Beziehungsfähigkeit. Ein Neuland, dessen Erforschung lohnt, denn im Dazwischen und im Darüberhinaus kommen wir einer Lebenswirklichkeit näher, die sich nicht einfach greifen lässt.
Unsere Versuche, die Welt zu verstehen und uns Wissen über sie anzueignen, unterliegen einem Paradox. »Unser Nichtwissen wächst mit dem, was wir wissen und herausfinden. Es ist ist wie bei einer magischen Quelle – egal, wie viele Eimer Wasser man aus ihr schöpft, man kann immer noch einen mehr bekommen«, scherzt der Neurowissenschaftler Stuart Firestein. Seit der Erfindung des Buchdrucks hat sich die Zugänglichkeit von Wissen unablässig erhöht. Mit dem Internet verbreitet es sich nicht nur explosionsartig, es vermehrt sich auch exponentiell. Und wir haben eine Ahnung, dass wir, so sehr wir uns auch anstrengen mögen, den Anschluss verlieren. Noch bis ins 19. Jahrhundert war es einzelnen Menschen möglich, einen Überblick über die Erkenntnisse ihrer Zeit zu haben. Da Vinci, Leibniz, Goethe, sie alle standen im Ruf, Universalgelehrte zu sein und die Welt mit ihren Unüberschaubarkeiten geistig zu durchdringen. Der einzelne Mensch war noch ein Maß, das mit dem Lauf des Wissens mithalten konnte. Heute ist das unmöglich und wir stehen an einer existenziellen Schwelle.
Vom Einzelnen zum Netz
Als sich in den späten 1990er Jahren abzeichnete, dass aus dem Internet sehr viel mehr werden könnte als eine Spielerei für Nerds, prägte John Gage, damals Chef-Technologe bei Sun Microsystems, den vielzitierten Spruch: »Das Netzwerk ist der Computer.« Ein prophetischer Gedanke. Es gab noch keine Smartphones und Tablets, mit denen man sich zu jeder Zeit und nahezu an jedem Ort updaten konnte über das, was gerade in der Welt vor sich ging oder vor langer Zeit geschehen war. Und doch war da bereits dieses Gespür dafür, dass die Zukunft nicht mehr in der Optimierung des Einzelnen liegt, sondern in den Verbindungen dazwischen. Dieser Paradigmenwechsel hat auch das Bildungswesen und die Arbeitswelt ergriffen. Interdisziplinäres Forschen im Wissenschaftsbetrieb, heterogene Lerngruppen in den Schulen, Teamwork im Business – die Idee der Vernetzung hat sich inzwischen kulturell etabliert. Und doch bleibt eine Engstelle: der Mensch selbst.
Damit ein Computer sich nahezu unbegrenzt mit anderen Geräten verbindet, Daten austauscht und neue entstehen lässt, braucht es nur einige Ergänzungen in seiner Software, eine Internetverbindung, genügend Bandbreite und die Sache läuft. Unser menschlicher Quellcode, unsere Identität, ist da wesentlich träger. Wir mögen noch so interessiert sein am Wissensaustausch mit anderen oder dem gemeinsamen Forschen und Lernen, all diese Beziehungen müssen wir bewusst eingehen. Denn unser primärer innerer Lebensraum ist unser Ich, von ihm geht jede Verbindung aus und zu ihm führt sie zurück. Das braucht immer wieder aufs Neue immense Aufmerksamkeit und Anstrengung.
Unser Grundverständnis von Bildung wie auch unser Selbstbild gehen nach wie vor von diesem für sich stehenden Ich aus. »Individuelle Kompetenz umfasst netzartig zusammenwirkende Facetten wie Wissen, Fähigkeit, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation. Sie wird verstanden als Disposition, die eine Person befähigt, konkrete Anforderungssituationen zu bewältigen«, heißt esetwa in der Kompetenzdefinition des Psychologen Franz Emanuel Weinert, die eine wesentliche Basis für die Reform des deutschen Bildungssystems bildet. Im Inneren fangen wir bereits damit an, uns als vernetzt zu denken, indem wir die Synergien zwischen unseren verschiedenen Intelligenzen bewusst herstellen und nutzen. Doch was ist mit unseren Verbindungen zur Außenwelt? Inzwischen erscheinen pro Minute drei neue wissenschaftliche Fachartikel, mehr als eineinhalb Millionen pro Jahr. Und Wissenschaftler gehen davon aus, dass »das Internet« etwa alle fünf Jahre seine Größe verdoppelt. Es ist, als rolle eine gigantische Welle auf uns zu und wir versuchen, nach ihren Wassertropfen zu greifen.
Digitale Erleuchtung?
Statt zu versuchen, schlicht unsere Anschlussfähigkeit an dieses exponentiell wachsende Feld der Inhalte und der Interaktion zu verbessern, müssen wir vielleicht einfach selbst zur lebendigen Verbindung werden. Meditation ist heute im Business, in Schulen und Universitäten zu einem kleinen Trend geworden, weil sich viele davon versprechen, durch mehr geistige Fokussierung eher in der Lage zu sein, mit der wachsenden Wissensflut zurechtzukommen. Über diese eher kompensatorische Selbstoptimierung hinaus kann sie allerdings auch unser Selbstbild durchlässiger werden lassen. Wo das Bewusstsein sich weitet, streckt es sich auf ganz natürliche Weise aus und navigiert in Verbundenheiten hinein, die dem auf sich selbst begrenzten Ich nur mühsam oder gar nicht zugänglich sind. Dann jagen wir irgendwann vielleicht nicht mehr unendlich vielen Einzelheiten hinterher, sondern das, was Mystiker als Ganzheit beschreiben, schimmert durch uns hindurch und trägt uns in unserem Weltbezug.
Die bestehende Komplexität der Welt wird dabei nicht geringer. Sie fällt in einen anderen Modus der Wahrnehmung. Es ist mehr als ein Upgrade, es ist ein Bewusstseinssprung. Das Zukunftsinstitut spricht sogar von »Mindsets der digitalen Erleuchtung«, die sich entwickeln könnten. Da ist vom »Cyber-Humanisten« die Rede, einem »Echtzeit-Denker, der humanistische Ideale wie das kritische Denken vereint mit den neuen Skills des 21. Jahrhunderts, etwa einer sozioemotionalen Intelligenz in kommunikativen Kontexten«. Der »Wissens-Navigator« versteht es, »verschiedene Formen von Wissen zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen«. Der »Multi-Logiker« ist in der Lage, »elastisch und flexibel in verschiedene Richtungen zu denken« und »vereint lineare und nichtlineare Denkstrategien«. Der »Kybern-Ethiker« wiederum hat den »Sinn fürs große Ganze« und »sein systemischer Blick ist sensibel für die blinden Flecken von Beobachtungen, auch die der eigenen Perspektive«.
¬Lehrpläne wecken in uns die Vorstellung, dass das Leben eine Zone des Überschaubaren ist.¬
Es geht um Fähigkeiten, die sich nicht mehr allein individuell entwickeln lassen, sondern die von Grund auf des Zusammenwirkens mit anderen bedürfen. »Einzelne menschliche Wesen können nicht nicht-linear denken«, stellt der Tech-Entrepreneur Jordan Greenhall fest, der kollaborative Modelle der Informationsverbreitung untersucht. »Nur kollektive Intelligenzen, Agenten einesinter-subjektiven Bewusstseins können das. Vereinfacht ausgedrückt: Wir tun die Dinge als Individuen. Neuerungen entwickeln sich in Gemeinschaft. Die Herausforderung ist es, Wege zu finden, wie Individuen zusammenwirken können, sodass sich ihre individuellen Perspektiven, ihre Fähigkeiten, ihr Verständnis und ihre Einsichten bestmöglich miteinander verbinden.« Eine Entwicklung wie diese lässt sich nicht in Schulfächern oder Studiengängen abbilden, sie erwächst aus der Mitte des Lebens und fragt den Menschen in seinem ganzen Dasein. Sie berührt den Ursprung dessen, was es heißen kann, sich zu bilden.
Was nicht von vornherein feststeht
Als sich der Begriff der Bildung durch den Mystiker Meister Eckhart in der deutschen Sprache etablierte, war das menschliche Selbstverständnis noch durchdrungen von der einenden Kraft des Göttlichen. In der Geisteswelt des Mittelalters begann Subjektivität gerade erst aufzuscheinen und mit ihr das selbstbewusste Wirken in der Welt. Für Eckhart war Bildung Selbstwerdung, die aus dem Atem der Ganzheit lebt. Menschsein reckt sich empor, verbunden in etwas Größerem. »Nimm dich selber wahr, und wo du dich findest, da lass ab von dir«, beschrieb der Mystiker diese mehrdimensionale Bewegung zum Ich, das aus dieser Einheit heraus lebt.
Heute hat das Ich dieses natürliche Verbundensein größtenteils hinter sich gelassen. Foucault forderte, die »Psychologie zu töten«, um die Wahrnehmung wieder dafür zu öffnen, »dass die menschliche Vernunft aus demselben Stoff wie die göttliche Vernunft ist«. Dies sei die Voraussetzung für eine menschliche Selbstorganisation jenseits fixer Identitäten, für »eine Kohärenz, die nicht von vornherein feststeht, sondern sich in fortlaufenden Akten erst herstellt«. Es ist diese bewusste Flexibilität, die die Wurzel kollektiver Intelligenz bilden könnte, eines organischen Miteinanders, das in der Lage ist, »etwas hervorzubringen, das zwischen den Ideen geschieht«.
In den Kategorien des Wissens lässt sich diese Bewegung nicht einfangen. Die Romantikerin Bettina von Arnim sprach vom »Spazierenreiten in den Himmel« – »da müssen wir Hand in Hand gehen und miteinander sprechen nicht von Dingen, sondern eine große Sprache«. Ihr Herz sehnte sich nach diesem »ewigen Menschwerden«, danach, »zu sein und zu werden, ob ich’s verstehe oder nicht«. Eine Bewegung, die nichts festhält, die sich selbst vergisst, ganz dem Staunen zugewandt. Hier treffen sich Mögliches und Mysterium. Und hier wandelt sich Menschsein wieder vom Einzelnen zum Gemeinsamen. Dann sind wir nicht mehr »wie ein Irrlicht in einem Netz gefangen«, wir werden zum Dazwischen und zum Darüberhinaus.
Nichtwissen – die Hintertür zur Komplexität
Dieser Ort im Ganzen ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Wir erreichen ihn durch die Hintertür des Unverhofften. Für den Neurowissenschaftler Stuart Firestein ist die Offenheit für die Realität unseres Nichtwissens ein Schlüssel zu dieser Tür. »Ein altes Sprichwort sagt: Es ist sehr schwer, eine schwarze Katze in einem dunklen Raum zu finden. Insbesondere, wenn da keine Katze ist. Das ist eine treffende Beschreibung dafür, wie Wissenschaft funktioniert. Man irrt in einem dunklen Raum umher, stolpert über etwas, das im Weg liegt, versucht die Form von diesem oder jenem zu erraten. Es gibt Gerüchte, dass irgendwo eine Katze sein soll. Aber niemand weiß, ob das stimmt«, erzählt er. Mit Komplexität lässt es sich nur schwer leben, wenn wir allein nach der schwarzen Katze suchen und unser Glück davon abhängig machen, dass wir sie finden. Wenn wir krampfhaft versuchen, nicht zu stolpern. Das Schöne an der Dunkelheit ist, dass wir uns selbst in ihr nicht sehen. Das macht uns frei dafür, ganz zur tastenden Bewegung zu werden, Unbekanntes zu berühren und selbst davon erfasst zu werden.
¬ Es ist, als rolle eine gigantische Welle auf uns zu und wir versuchen, nach ihren einzelnen Wassertropfen zu greifen. ¬
Lehrpläne und Prüfungen wecken in uns leicht die Vorstellung, dass das Leben eine Zone des Überschaubaren ist, die wir durchdringen können, wenn wir pflichtbewusst unsere Hausaufgaben machen. Es ist verführerisch, die Welt als Puzzle zu begreifen. Wir müssen nur alle Einzelteile zusammenfügen, dann ergibt sich ein Bild. »All diese Modelle gehen davon aus, dass es einen Korpus von Fakten gibt, den man irgendwie vervollständigen kann«, soFirestein. Doch Leben ist eine nach oben offene Skala, kein Bild, sondern permanente Bewegung. »Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht«, bemerkte Goethe in seiner Morphologie.
Diese Beweglichkeit bedarf unserer Transparenz. Bildung und Kompetenz sind ihr Antrieb, nicht ihr Ziel. Womöglich ist bewusstes Nichtwissen das neue Wissen des digitalen Zeitalters, das Dasein in einer Offenheit, die alles hinter sich lässt – das, was vermeintlich ist, genauso wie das, was wir zu sein glauben. Wenn wir der Komplexität mit leeren Händen entgegentreten, ist die Chance groß, dass wir sie wirklich treffen. »Barfuss und mit nackter Brust mische ich mich unter die Menschen der Welt«, beschreibt der chinesische Zen-Meister Kakuan dieses Ankommen in der Wirklichkeit. Sind wir so neugierig und mutig, uns darauf einzulassen?