Spuren am Himmel

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Publiziert am:

July 16, 2020

Mit:
Xavi Bou
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Ein Interview mit dem Fotografie-Künstler Xavi Bou

Der Fotograf Xavi Bou macht Bewegungen sichtbar, die unserer Wahrnehmung normalerweise nicht zugänglich sind. Er zeichnet Formen in den Himmel, indem er die Flugbahnen verschiedener Vögel aufnimmt und diese Bilder übereinanderlegt. Darin offenbart sich eine Schönheit von Form und Dynamik, die uns staunen lässt. Wir sprachen mit dem Künstler über die Vögel als Zeichner der Lüfte und warum es für ihn so berührend ist, ihre »Kunstwerke« einzufangen.

evolve: Wie hast du die Fotografie entdeckt und deine kreative Arbeit damit?

Xavi Bou: Alles begann mit meiner Leidenschaft für die Natur, von Kindesbeinen an. Daraus ergab sich ein Geologie-Studium an der Universität, das ich mochte, weil sich die Geologie ihren authentischen Bezug zur Natur bewahrt hat. Gleichzeitig absolvierte ich während dieses Studiums drei Jahre lang eine Ausbildung zum Fotografen. Nach der Universität war ich im Bereich Industriedesign und Werbung tätig. Dabei arbeitete ich mit anderen Fotografen zusammen, als Assistent oder indem ich ihre Fotos nachbearbeitete. Auf diese Weise war ich immer mit den Aufnahmen anderer beschäftigt.

In dieser Zeit reifte die Entscheidung in mir, mein eigenes fotografisches Projekt zu entwickeln. Es dauerte jedoch zehn Jahre, bis ich wusste, mit welchem Thema ich mich beschäftigen könnte. Am Anfang wollte ich nicht im Bereich Naturfotografie arbeiten, da der Aufenthalt in der Natur für mich immer bedeutet hat, mit möglichst leichter Ausrüstung unterwegs zu sein. Wenn ich draußen bin, fühle ich mich wirklich mit der Natur verbunden und deshalb möchte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Geräusche und alles andere dort richten. Die Erfahrung der Verbundenheit mit der Natur ist ein mystisches Gefühl, und das wollte ich weder wegen einer Kamera oder anderer technischer Geräte verlieren, noch wollte ich mir über die Nähe eines Vogels oder vielleicht nicht ausreichende Lichtverhältnisse Gedanken machen müssen.

DIE ERFAHRUNG DER VERBUNDENHEIT MIT DER
NATUR IST EIN MYSTISCHES GEFÜHL.

Dann jedoch erkannte ich, dass es bei der Arbeit an deinem ganz persönlichen Projekt darum geht, das zu tun, was dich am meisten interessiert. Deshalb entschied ich mich für die Arbeit mit der Natur, jedoch nicht im klassischen Sinne. Das Problem mit Naturfotografie liegt meines Erachtens darin, dass sie tendenziell zur Wiederholung traditioneller Themen neigt. Und so begann ich, die Grenzen der Wahrnehmung und der Fotografie als Technik zu erforschen. Ich stellte mir die Frage, wie ich zu einem neuen Ansatz im Umgang mit Naturfotografie gelangen könnte.

Das Verborgene wird sichtbar

Eines Tages entdeckte ich die Spuren eines Tieres auf dem Boden. Bei der Betrachtung dieser Linien fragte ich mich, welche Art Spuren Vögel am Himmel hinterlassen würden, wenn das denn möglich wäre. Ich versuchte mir diese Linien vorzustellen und dachte, dass es interessant sein könnte, sie sichtbar zu machen. Ich recherchierte und fand heraus, dass noch niemand dies gemacht hatte. Also überlegte ich, welche Technik funktionieren könnte. Drei oder vier Jahre lang machte ich Aufnahmen, aber ich war nicht ausreichend zufrieden damit, um sie zu veröffentlichen. Dann kam die 4K-Kamera, ich konnte sie ausleihen und damit umsetzen, was ich vorhatte. Schließlich begann ich vor fünf Jahren ernsthaft damit, investierte mehr in das Ausleihen dieser Kameras und beschäftigte mich mit der Suche nach unterschiedlichen Flugbahnen. Zugleich veröffentlichte ich meine ersten Fotos und ließ mich intensiv auf dieses eigene Projekt ein, wofür ich meine Stelle aufgab, um mich voll und ganz auf diese Arbeit konzentrieren zu können. Inzwischen ist daraus ein Fulltime-Projekt geworden: neue Aufnahmen, die Arbeit an einem Buch und die Vorbereitung verschiedener Ausstellungen. Ich bin sehr zufrieden mit der Entwicklung, die das Ganze genommen hat. Etwas, was am Anfang nicht viel mehr als pure Neugier war, ist immer größer und zu meiner ausschließlichen Beschäftigung geworden.

e: Kannst du mehr über die technischen Aspekte deiner Arbeit sagen? Und haben sich dein Ansatz und die Technik beim Aufnehmen der Flugbahnen von Vögeln mit der Zeit verändert?

XB: Jedes Bild besteht aus ca. 500 bis 2000 Aufnahmen, die ich mit einer 4K-Kamera in Slow Motion mit 60 Frames pro Sekunde mache und dann zusammensetze. Ich habe einen Algorithmus gefunden, der es ermöglicht, jede Aufnahme der vorherigen hinzuzufügen, sodass der Hintergrund derselbe bleibt. Das heißt, ich muss es nicht per Hand machen. Trotzdem ist das Ganze ein sehr zeitintensiver Prozess. Um eine Vorstellung XB: Jedes Bild besteht aus ca. 500 bis 2000 Aufnahmen, die ich mit einer 4K-Kamera in Slow Motion mit 60 Frames pro Sekunde mache und dann zusammensetze. Ich habe einen Algorithmus gefunden, der es ermöglicht, jede Aufnahme der vorherigen hinzuzufügen, sodass der Hintergrund derselbe bleibt. Das heißt, ich muss es nicht per Hand machen. Trotzdem ist das Ganze ein sehr zeitintensiver Prozess. Um eine Vorstellung.

Die vermutlich größte Änderung in meiner Vorgehensweise besteht darin, dass ich meine Aufmerksamkeit am Anfang mehr dem Hintergrund und dem Licht gewidmet habe und damit eher klassisch mit dem Thema Naturfotografie umgegangen bin: schöne Landschaften, beste Lichtverhältnisse und in der Mitte die Flugbahn des Vogels. Inzwischen fokussiere ich meinen Blick mehr auf die ursprüngliche Idee, die Formen einzufangen. Es ist fast wie zeichnen. Es geht mir fast obsessiv darum, diese chaotischen Zeichnungen zu finden, mit dem Himmel als Leinwand und den Vögeln als meine Pinsel. Es war alles von Anfang an da, aber ich bin jetzt radikaler in meiner Suche, was sich in weniger Landschaft und mehr Formen niederschlägt. Entscheidend ist diesbezüglich natürlich die Umgebung, in der die Vögel fliegen. Sie reagieren mit ihren Flugbahnen auf eben dieses Umfeld.

Wissen, um zu lieben

e: Was findest du an diesen Zeichnungen, wie du sie nennst, so interessant? Nach was suchst du? Geht es dir um den Sinn für Ästhetik oder einfach um deine Neugier?

XB: Die Ästhetik ist wirklich wichtig, denn sie ist eine Möglichkeit, sich mit den Dingen zu verbinden. Wir Menschen sind sehr visuell, und die Ästhetik des Visuellen ist der erste Schritt, um sich überhaupt mit etwas zu verbinden. Das Hauptziel dieses Projekts – nennen wir es das gesellschaftliche Ziel – besteht darin, dass ich über die Ästhetik versuche, den Betrachter in Verbindung mit dieser ihm meist nicht sichtbaren Welt zu bringen, den Menschen dabei zu helfen aufzuwachen und der Schönheit der Natur, die uns umgibt und die wir so häufig missachten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die meisten dieser sehr verbreiteten Vogelarten, die ich fotografiere, leben nicht weit entfernt von den Städten. Deshalb ist es eines meiner Ziele, die Menschen dazu zu bringen, den Kopf zu heben, den Blick weg von ihrem Handy und stattdessen auf den Himmel zu lenken, hin zu diesen Vögeln, deren Präsenz in den Städten deutlich größer ist als wir denken. Sollten wir diesen Reichtum zukünftig verlieren, wäre es am traurigsten, wenn wir nicht rechtzeitig erkannt hätten, dass es ihn überhaupt gab.

Für mich ist es sehr schockierend, dass viele Menschen nicht einmal bemerken, wenn die Mauersegler ankommen und – ein sehr charakteristisches Merkmal des Sommers – den Himmel über unseren Städten und Straßen mit ihrem lauten Schrei erfüllen. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, zu wissen, um lieben zu können. Wir lieben nichts, was wir nicht kennen, und deshalb gilt, dass wir umso mehr lieben können, je mehr wir das Objekt unserer Liebe kennen.

e: Du hast also die Natur und insbesondere Vögel und ihre Flugbahnen zu deinem Thema gemacht, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Natur und ihre Schönheit zu lenken?

XB: Ja. Wir verknüpfen die Schönheit der Natur meistens mit weit entfernten Gegenden wie Costa Rica oder der Antarktis. Aber das ist unnötig. Ein kleines Eichhörnchen neben deinem Fenster verkörpert diese Schönheit ja bereits. Und damit meine ich jede Art von Schönheit, nicht nur die physische, sondern auch die Tatsache, dass unterschiedliche Vögel zu bestimmten Jahreszeiten erscheinen, auch im Winter. Die Natur birgt diese Art von Geheimnissen in sich, aber wir können sie aufdecken und wertschätzen. Es geht jedoch nicht nur um Vögel, es gilt auch für die Verbindung zwischen Pflanzen, Insekten und größeren Tieren: Alles ist Schönheit. Der erste Schritt aber, um diese Schönheit wertzuschätzen, ist das Bewusstsein des Vorhandenseins von Schönheit. Und dann geht es darum, so viel wie möglich zu lernen, weil, wie gesagt, das die Voraussetzung für das Lieben ist.

e: Und so verbindest du auch das Lernen mit dem Lieben? Damit meine ich, dass du einerseits Wissenschaftler, denen du auch bestimmte Aspekte nahebringst, die ihnen noch nicht bewusst sind, mit anderen verbindest, die sich von der Ästhetik deiner Arbeit angezogen fühlen.

XB: Je nach Hintergrund verbinden sich die Menschen mit dem einen oder anderen Aspekt. Was ich jedoch am erstaunlichsten finde, ist, dass so viele aus unterschiedlichen Bereichen mit mir in Kontakt treten und sich von dieser Arbeit inspirieren lassen. Zum Beispiel wurde das Projekt in einer Hochschule für Architektur präsentiert und einige Architekten wurden dadurch angeregt, eine Brücke zu entwerfen. Genauso haben Mathematiker an der California University of Mathematics Bezug auf meine Arbeit genommen. Aber auch Physiker, Orchestermusiker, Choreografen oder sogar Personen aus dem Feld der Biomimetik. Diese Verbindung mit anderen Bereichen und Wissensformen macht mich wirklich glücklich.

e: Und wie funktioniert dieser interdisziplinäre Austausch?

XB: Ein Komponist hat meine Aufnahmen verwendet, um unkonventionelle Musik zu schaffen. So wie auch die Choreografen durch diese Bewegungen inspiriert wurden und versucht haben, sie in Tanz umzusetzen. Inspiration empfindet jeder Mensch anders. Ich zum Beispiel bin mit einem Team von Wissenschaftlern in Kontakt getreten, das den Flug des Mauerseglers untersucht und mit einer besonderen Technik arbeitet, um diese komplexe Art des Fliegens zu verstehen. Und indem ich meine Herangehensweise mit ihnen geteilt habe, konnte ich ihnen eine andere Herangehensweise anbieten, um die Muster zu untersuchen, die sie interessieren.

Foto: Xavi Bou (www.xavibou.com)

Andere Wahrnehmungsmuster entdecken

e: Auf deiner Webseite lese ich auch, dass du die Wahrnehmung der Menschen, ihre Sichtweise auf die Welt verändern möchtest.

XB: Genau. Das ganze Projekt stützt sich auf die Vorstellung, dass wir diese Muster normalerweise nicht sehen können, weil unsere Wahrnehmung der Zeit anders ist, begrenzt ist. Diese Aufnahmen erlauben uns, nicht nur einen konkreten Augenblick der Zeit zu sehen, sondern mehrere, die zu einem werden, mehrere Sekunden, die sich zu einem Bild verdichten, was bereits eine andere Wahrnehmung bedeutet. Ich finde es spannend, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn unsere Wahrnehmung der Zeit eine andere wäre. Zum Beispiel die Wahrnehmung von Licht: Wir sehen nur das sichtbare Licht, nicht jedoch das infrarote oder das ultraviolette. Gleiches gilt für Töne, die wir hören: Wir hören nur ein ganz spezifisches Klangspektrum. Dies ist wichtig, denn wir Menschen neigen manchmal dazu, zu glauben, dass die Welt sich um uns dreht und dass die Realität, die wir wahrnehmen, die einzige ist. Um noch einmal auf die Wahrnehmung der Zeit zurückzukommen: Unsere ist wahrscheinlich die nützlichste, andere Wahrnehmungsmuster hätten nicht gut zu uns gepasst. Und dennoch ist es interessant, anderen Ansätzen, das Universum zu verstehen, mit Offenheit und Wertschätzung zu begegnen.

ICH TUE DEN ERSTEN SCHRITT, ABER DER BETRACHTER, DAS PUBLIKUM BEENDET DAS WERK.

e: Siehst du deine Arbeit als etwas, das ein Fenster in eine andere Wahrnehmung von Zeit öffnen kann, indem du eine Abfolge, eine Entwicklung, eine Bewegung in der Zeit darstellst?

XB: Ja, ich mache keine Aufnahmen von Tieren, sondern Aufnahmen von ihren Bewegungen. Ich zeige kein Tier, ich zeige eine vom Tier ausgelöste Bewegung. Dies ist ein wichtiges Konzept, das nicht immer ganz klar ist. In meinen Aufnahmen sieht man nicht die Form des Tieres, da sie überlagert ist, sodass die eigentliche Gestalt verloren geht und eine völlig neue organische Form entsteht. Ich liebe diesen Moment, wenn Menschen meine Arbeit zum ersten Mal sehen und noch nicht mit dem Konzept vertraut sind. Oft verstehen sie nicht sofort, was dort abgebildet ist.

e: Durch diese Bewegung zeigst du auch einen anderen Aspekt desselben Tieres, einen Aspekt seines Lebens und damit auch einen Teil seines Charakters, ist das richtig?

XB: Ja, jeder Vogel ist anders, jede Flugbewegung ist anders. Einige Vogelarten lassen sich allein an ihrer Flugbahn erkennen. Es ist auch wirklich faszinierend, dass einige dieser Formen, die ich zeichne, sich in anderen Teilen der Natur wiederfinden. Das kann der Fall sein bei der DNA, mikroskopisch kleinem Plankton oder Algen. Diese Muster wiederholen sich in unterschiedlichen Größen.

e: Und deine Motivation, in diese Richtung weiterzuarbeiten, entspringt dem Wunsch, unsere Verbundenheit mit der Natur besser zu verstehen? Oder zu verstehen, wie wir diese Verbundenheit wahrnehmen?

XB: Mein persönliches Ziel ist es, möglichst ganz in die Natur einzutauchen, eine Persönlichkeitsspaltung zu vermeiden: auf der einen Seite die normale Arbeit in der Stadt und auf der anderen mein Projekt. Ich möchte nicht bis zum Wochenende warten, um in die Natur zu gehen. Natürlich wird das bis zu einem gewissen Grad noch so sein müssen, aber das Gravitationszentrum sollte die Natur sein. Ich möchte, dass mein gesamtes Leben diese Richtung einschlägt.

Das wichtigste Merkmal meines Projekts ist seine Offenheit. Ich tue den ersten Schritt, aber der Betrachter, das Publikum beendet das Werk. Mein Projekt spricht unterschiedliche Gruppen von Menschen an: vom Wissenschaftler über Menschen, die sich mehr auf die technischen Aspekte konzentrieren, bis hin zu denen, die sich für die poetische Seite meiner Arbeit interessieren. Alle diese unterschiedlichen Weltsichten machen das Ganze so spannend.

e: Du hast gesagt, dass du jetzt mehr Ausstellungen hast als je zuvor. Was glaubst du, ist der Grund für das wachsende Interesse an deiner Arbeit?

XB: Meine Arbeit öffnet einen neuen Blick auf die Natur, und die Menschen lieben sowohl die Natur als auch das Neue. Vielleicht wächst auch das Bewusstsein über die Zerstörung der Natur, weshalb der Zeitpunkt für diese Bilder günstig ist. Gerade jetzt müssen wir vorsichtig sein, weil wir nicht nur das zeigen dürfen, was mit der Natur schlecht läuft. Wir können nicht nur Bilder betrachten, die Meere voller Plastik zeigen. Natürlich ist es wichtig zu wissen, dass es Probleme gibt. Aber ich habe eine kleine Tochter und ich kann ihr nicht nur Aufnahmen von Meeresschildkröten zeigen, die wegen des Plastikmülls verenden. Sonst würde sie – und jeder andere auch – depressiv, ohne jede Spur von Optimismus. Das wäre am Ende kontraproduktiv. Wir müssen genug Energie aufbringen, um für den Erhalt der Schöpfung zu kämpfen, und deshalb ist es wichtig, uns auch einen positiven Blick zu bewahren, das Gleichgewicht zu finden. Und in meinem Werk geht es um Schönheit, das ist etwas Positives, etwas, mit dem du dich verbinden kannst. Und es scheint, als nähre es die Menschen und als erwecke es ihre Neugier.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
Teile diesen Artikel: