Startbahnen des Übergangs

Our Emotional Participation in the World
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Artikel
Publiziert am:

November 6, 2020

Mit:
Jeremy D. Johnson
David Fuller
Euvie Ivanova
Mike Gilliland
Peter Limberg
Tom Amarque
Daniel Schmachtenberger
Tarn Rodgers Johns
Jordan Peterson
Bret Weinstein
Joe Rogan
Sam Harris
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Wie eine junge Medien-Szene den Dialog neu erfindet

Zwischen Fake-News und polarisierenden Debatten wird es immer schwerer, im politischen und sozialen Geschehen noch einen tieferen Sinn zu finden. Eine neue Generation von Podcastern und Online-Autor*innen begegnet dieser Bedeutungskrise mit frischen Formaten, die einladen, das Weltgeschehen geistig tiefer zu durchdringen und die uns gleichzeitig danach fragen, auch unseren eigenen inneren Standort radikal zu verändern.

Widersprüche und Konfrontationen prägen heute mit einer ernüchternden Selbstverständlichkeit den öffentlichen Diskurs. Und im Kampf unversöhnlicher Meinungen erscheint es fast unmöglich, dem, was in der Welt geschieht, noch Sinn abzuringen. »Es liegt eine unglaubliche Spannung in der Luft. Wir haben heute nicht das Gefühl, dass die planetarischen Prüfungen, mit denen wir uns auseinandersetzen, eine psychospirituelle Bedeutung haben. Die Moderne hat uns viele großartige Errungenschaften beschert, aber dieser Fortschritt beinhaltet neben Gewinnen auch Verluste, denn er hat uns von unserer Fähigkeit zur Sinnstiftung, von einer beseelten Welt entfremdet«, so Jeremy D. Johnson, integraler Philosoph und Gastgeber des Mutations-Podcasts. In den letzten Jahren hat sich eine Szene von Podcastern und Online-Journalisten formiert, die versuchen, dieses Sinn-Vakuum aufzubrechen. Plattformen und Streams wie Rebel Wisdom (gegründet von dem britischen Journalisten David Fuller), Future Thinkers (mit den aus Bulgarien stammenden Gastgebenden Euvie Ivanova und Mike Gilliland) oder The Stoa (von dem Unternehmer Peter Limberg aus Kanada gesendet) wie auch unser wöchentliches Web-Radio evolve versuchen zu entschlüsseln, woher diese Orientierungslosigkeit rührt und warum Bedeutungszusammenhänge, die früher getragen haben, heute kollabieren.

Dieses Anliegen hat zwischen Flüchtlingskrise, US-Präsidentschaft und Corona-Pandemie an Bedeutsamkeit gewonnen. Denn die äußeren Probleme, die ganze Gesellschaften und Kulturen erfassen, rütteln mehr und mehr auch an den Selbstbildern, auf denen sie beruhen, was ihnen auch innerlich den Boden wegreißt. Johnson vergleicht in seinem Online-Magazin Liminal unsere Situation mit einer Initiation: »Wir spüren, dass das, was uns bisher Sinn und Bedeutung gegeben hat – unsere ökonomischen und politischen Systeme, unser Anthropozentrismus, unsere Identität, unser Selbst – zusammenbricht. Aber wir erahnen noch nicht, welche neue Realität die Zukunft formt und welches neue Selbst daraus hervorgehen könnte.« Es scheint wie ein Koan, ein spirituelles Rätsel, und wie es aussieht, geht es nicht nur darum, sich den im Außen zeigenden Problemen zuwenden, sondern auch unseren eigenen menschlichen Modus zu verändern, um seiner Lösung näher zu kommen.

Im Kulturkampf Türen offen halten

Die neuen Online-Medien versuchen, Startbahnen für diesen Übergang zu schaffen und ihn zu moderieren. Denn die traditionelle Medienwelt mit polarisierenden Talkshow-Debatten und Fake-News erstarrt in Konflikten und Kontroversen. »Wir befinden uns in einem Kulturkampf, in dem unversöhnliche Haltungen aufeinanderprallen und selbst integral gebildete Menschen sich immer schwerer tun, unvoreingenommen über kulturelle Phänomene nachzudenken. Viele Podcaster bemühen sich, widerstreitende Standpunkte wahrnehmbar zu machen, im integralen Sinne, dass keine Perspektive gänzlich falsch ist«, erklärt Tom Amarque, Gründer des Parallax Magazins und Gastgeber der kürzlich nach 100 Episoden beendeten Lateral Conversations. Was die neue Medien-Generation im Geiste eint, ist der Versuch, nicht wegzudiskutierenden Paradoxien wirklich begegnen zu wollen. »Wie können wir miteinander herausfinden, was wahr ist? Wie können wir Gespräche führen, die uns Neuland eröffnen? Das Vertrauen in das alte System mit seinen traditionellen Medien, dem akademische Betrieb und ihren Wegen zur Wahrheitsfindung fällt gerade in sich zusammen. Wir sind in einer Art Niemandsland. Wie kann man über Dinge sprechen, die wirkliche soziale Konsequenzen haben?«, umschreibt der Gastgeber von Rebel Wisdom David Fuller das Anliegen seiner Streams.

Die Podcaster verstehen sich nicht als Gatekeeper, sondern als Forschende. Sie graben sich bis zum Sediment des kulturellen Diskurses vor und laden auch Protagonisten in ihre Sendungen ein, die wie Jordan Peterson, Bret Weinstein, Joe Rogan oder Sam Harris in Amerika dem so genannten »Intellectual Dark Web« (IDW) zugerechnet werden. Ihre Haltung dabei: unterschiedliche Blickwinkel erst einmal ins Gespräch bringen, bevor man (ver)urteilt. Die Gastgeber schätzen vor allem ihre rationalen Argumente, die manche Schwachstellen postmoderner Political Correctness offenlegen. Mit dem ausgeprägten Modernismus, für den viele dieser Akteure stehen, machen sich die Plattformen nicht gemein. Sie versuchen vor allem, die Begrenzungen von Moderne und Postmoderne offenzulegen, um Entwicklungen anzustoßen, die darüber hinausweisen. Es ist unwegsames Gelände, in das diese Explorationen führen. Die klassischen Medien blenden das IDW weitgehend aus, weil ihnen seine Haltungen oft rückwärtsgewandt erscheinen. Und manche Institutionen verweigern sogar die Zusammenarbeit mit seinen Schlüsselfiguren, weil die Vehemenz ihrer Einlassungen zu den Auswüchsen einer erstarkenden Identitätspolitik bisweilen die Grenzen des Erträglichen überschreitet. Gleichzeitig erreichen ihre Beiträge im Internet ein Millionenpublikum. Und ihr Boykott durch den Mainstream nährt in vielen ihrer Fans die Wahrnehmung, dass das Establishment ihnen wichtige Wahrheiten vorenthält.

WIR KÖNNEN SCHUTZWÄLLE BAUEN ODER WIR KÖNNEN VERSUCHEN, UNS MIT DEM CHAOS AUSEINANDERZUSETZEN. 

»Wir können Schutzwälle bauen oder wir können versuchen, uns mit dem Chaos auseinanderzusetzen«, sagt Tom Amarque. »Ich habe die besten Sendungen gemacht mit Menschen, die meine politische Haltung nicht teilen, weil mich das herausfordert, an meine Grenzen zu gehen, mich zu öffnen, den anderen zu verstehen, mich auf eine Weise auszudrücken, die mir treu bleibt und gleichzeitig den anderen anspricht und einbezieht«, beschreibt er die Erfahrungen seiner Lateral Conversations. Es sind Versuche, die inhaltlichen Fragmentierungen des Mediendiskurses zu überwinden und durch die Integration von Perspektiven, die einen wirklichen Beitrag zur menschlichen und kulturellen Weiterentwicklung leisten, gemeinsame Bedeutungsfindung zu ermöglichen. Doch es ist auch eine Gratwanderung, denn solche offenen Forschungsprozesse setzen in gewisser Weise die Medienmündigkeit, die sie bei den Followern fördern möchten, auch zum Teil schon voraus.

Bewusstsein als Politikum

Viele Podcasts machen diese Mündigkeit zum Thema. Wenn Vordenker wie Jordan Hall (siehe unser Interview auf S. 50) oder Daniel Schmachtenberger in oft mehrstündigen Dialogen über die Ursachen der Metakrise und den medialen Krieg der Sinnstiftung sprechen, sind das Tiefenbohrungen in die Kulturgeschichte und die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Mit ihren Analysen machen sie nachvollziehbar, dass der Sinn- und Bedeutungsverlust, der heute so spürbar ist, aus einer modernen Kultur hervorgeht, die vor allem von Dominanz und Kampf lebt und nicht von Verbundenheit. Heute zu erleben, wie vieles auseinanderbricht, ist nicht ein Fehler im System, sondern dessen eigentliche Logik, die immer mehr nach vorne tritt. Das geistig zu durchdringen, ist in den Augen vieler Podcaster wesentliche Voraussetzung, damit sich neue, tragfähigere Sinnzusammenhänge entfalten können. Eine weitere ist, wahrzunehmen, wie der moderne Habitus der Trennung Bewusstsein formt, sodass dieser Wandel auch zutiefst unser Selbstverständnis anfragt. »Die Frage ist: Wie können wir uns auf diesen sich anbahnenden Übergang beziehen, ohne von unseren Ängsten überwältigt zu werden? Unsere moderne digitale Kultur ist hyperfragmentiert und bringt eine Identität hervor, die genauso fragmentiert ist, was unser Gefühl verstärkt, vom Ganzen getrennt zu sein. Unsere Mentalität atomisiert uns geradezu«, so Jeremy Johnson.

Es ist eine Frage, die in der Medienwelt alter Schule kaum Anklang findet. David Fuller etwa, der in seiner Karriere als Journalist und Dokumentarfilmer für die britische Nachrichtensendung Channel 4 News und die BBC weltweit politische Umbrüche begleitete, erlebte immer wieder, dass selbst Qualitätsmedien bei solchen Themen eine gläserne Decke ziehen: »Ich hatte immer das Gefühl, da fehlt etwas. Ich denke, dass es einen Paradigmenwechsel braucht, weg vom naiven Materialismus unserer Gegenwartskultur. Formate, die die tieferen Dimensionen spiritueller Erfahrung und der Religion in den Blick nehmen und wirklich beleuchten, was es bedeutet, Mensch zu sein, werden aber kaum in Auftrag gegeben.« Mit der typisch postmodernen Spiritualität, die kaum Sinn hat für die in den neuen Media-Communities gepflegte Intellektualität, können viele der Podcaster nur wenig anfangen. Sie finden ihre Gesprächspartner eher im Integralen und in ausgewählten Protagonisten des »Intellectual Dark Web«, die die mythischen Wurzeln menschlicher Selbstverortung in modern-psychologischen Mindsets wiederbeleben oder eine Spiritualität propagieren, die von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und atheistischen Perspektiven getragen ist. Und sie sprechen weniger von spiritueller Entwicklung als vom Ausbilden einer Souveränität, in der Intelligenz, kritisches Denken und kognitive Bandbreite sich mit einer Empfindungsfähigkeit verbinden, die neben dem eigenen Innenleben auch die Befindlichkeit anderer zu würdigen vermag.

Das Dazwischen als neue Sinn-Kraft

Vielen der neuen Media-Vorreiter ist es ein tiefes Anliegen, Wege zu ebnen, dass sich diese Souveränität im Leben in neuen kollektiven Bedeutungszusammenhängen entfalten kann. Damit sich solche Möglichkeitsräume formen können, bedarf es auch des persönlichen Engagements und der Begegnung. Einige Plattformen senden deshalb nicht nur Inhalte, sondern entwickeln auch Kurse, veranstalten Events und bauen Communities auf. Rebel Wisdom etwa hat einen Onlinekurs zum Sensemaking im Programm, bei dem die Teilnehmenden lernen, wie sich eine kollektive Intelligenz wecken lässt, die in Gesprächen etwas Neues entfaltet. Emerge vernetzt über seine Plattform bestehende Communities und richtet selbst jährliche Treffen aus. Die Future Thinkers sind sogar dabei, in Kanada ein Smart Village zu gründen, das ihre Follower als einen Ort geteilter Lebenspraxis mitgestalten können.

»Ich denke, Communities sind wichtige Erfahrungsfelder, um über unsere typische Take-away-Kultur hinwegzukommen. Unser Emerge-Standort in Berlin ist mit einem selbstorganisierten Coworking-Space vernetzt und in unseren Meetings erlebe ich immer wieder, wie sehr man gefragt ist, wenn starke Meinungen aufeinandertreffen. Es hat beinahe die Dimensionen eines politischen Prozesses, wenn man versucht, gemeinsam konkrete Räume zu gestalten«, erzählt Tarn Rodgers Johns, die an der Online-Plattform von Emerge mitarbeitet. Teil der gemeinsamen Übung ist es, Widersprüche zu halten und eine Offenheit gegenüber den eigenen inneren Ungereimtheiten zu entwickeln, um miteinander im Gespräch zu bleiben. In den jährlichen Community-Treffen, die Emerge veranstaltet, ist immer wieder Thema, wie im Miteinander etwas aufscheinen kann, das zwischen den Beteiligten neue Sinnqualitäten entstehen lässt. »Man muss vorsichtig sein, sich nicht unter Druck zu setzen und zu erwarten, gleich alle Probleme der Welt lösen zu können. Gerade im Angesicht großer Aufgaben rutschen wir leicht in eine Selbstverteidigung. Da braucht es eine gewisse Demut, sich selbst und anderen auch zuzugestehen, Fehler zu machen. Und wenn man darin zusammen sein kann, geschieht wirklich etwas«, so Rodgers Johns.

WIE KÖNNEN WIR MITEINANDER HERAUSFINDEN, WAS WAHR IST, UND GESPRÄCHE FÜHREN, DIE UNS NEULAND ERÖFFNEN?

In Laboren des Übergangs wie diesen kann ein gemeinsam geteiltes menschliches Selbstverständnis reifen, das eine viel umfassendere Bedeutsamkeit hervorbringt, als es die rein persönliche Sinnsuche vermag. »Indem wir durchlässiger werden, können wir viel gelassener gegenwärtig sein und die Fluidität des Bewusstseins entwickeln, die wir brauchen, um der planetarischen Krise zu begegnen. Dann kann sich eine Feldqualität zeigen, die nicht mehr Beziehungen zwischen Menschen und zur Welt, zwischen Subjekt und Objekt in den Vordergrund stellt, sondern dem Dazwischen selbst erlaubt, zu einer gestaltenden Kraft zu werden. Dadurch erwacht ein Sinn für Transparenz – des Individuums und der Welt – und die Erkenntnis, dass wir eigentlich nie nur für uns alleine sind«, beschreibt Jeremy Johnson die praktischen Erfahrungen seines Projekts Nura Learning. Es ist eine Erfahrungsqualität, die wir auch bei den evolve Salons wahrnehmen, die wir selbst seit mehreren Jahren veranstalten. Durch die Experimente all dieser Pionier*innen scheint sich eine neue und wirksame kulturelle Kraft zu etablieren, die bisherige Fragmentierungen durchbricht. Hier kommt eine neue Souveränität des gemeinsamen Sich-Einlassens auf das zum Vorschein, wonach die Krise fragt, ohne dass wir bereits um Antworten wissen müssten, oder, wie Jeremy Johnson es formuliert: »Wir glauben oft, die ganze Last der Welt auf unseren Schultern zu tragen – wie anthropozentrisch! Doch wenn unser Bewusstsein transparent wird, spüren wir, dass die Welt diese Bürde gleichermaßen trägt. Sie trägt sie mit uns, als uns.«

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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