Sterbefelder lehren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

February 2, 2024

Mit:
Dr. Hildegard Kurt
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AUSGABE:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Die Welt will uns zärtlich

Wir leben in einer sterbenden Welt, in der die Lebendigkeit verarmt. Hildegard Kurt bezeichnet dies als Sterbefelder und fragt: Wie können wir in einem tieferen Wahrnehmen dieses Sterbens in und um uns neue schöpferische Impulse des Lebens finden?

evolve: In Vorgesprächen hast du unseren Planeten als ein Sterbefeld bezeichnet. Was meinst du damit?

Hildegard Kurt: Es gehört mit zur Signatur unserer Gegenwart, dass wir die Erde in ein Sterbefeld planetarer Dimension verwandelt haben. Zum einen vollzieht sich die sechste Aussterbewelle der Erdgeschichte, in rasender Geschwindigkeit verschwinden zahllose Arten anders-als-menschlicher Wesen für immer, verursacht durch eine einzige Spezies – unsere. Darüber hinaus übertrifft wissenschaftlichen Studien zufolge inzwischen die Masse der vom Menschen produzierten Güter die gesamte Biomasse des Planeten.

Beide Phänomene sind eine Neuheit in der Geschichte der Erde und der Menschheit. Natürlich hat es auch in früheren Epochen Exzesse von Gewalt, Vernichtung, von – mit dem Philosophen ­Emmanuel Levinas gesprochen – »vermeidbarem Leid« gegeben. Doch jetzt ist das in keiner Weise mehr regional eingrenzbar. Die Lebendigkeit der Erde selbst verarmt, dünnt aus, erlischt. Vom vermeidbaren Leid, dem Sterben in gewaltsamen Konflikten und Kriegen nicht zu reden.

Hinzu kommt, dass unsere zunehmend dysfunktionalen Systeme – etwa in der Bildung, dem Gesundheitswesen, dem Sozialen und auch in der Wirtschaft – immer mehr chronische Überforderung, Erschöpfung, Stress produzieren. Das führt zu Apathie, Burnout, Depression und Resignation. Hier verarmt Lebendigkeit in der Humansphäre. All dies geht einher mit einer seltsamen kollektiven Unfähigkeit zu trauern über das, was bereits verloren ist. Während die Lebendigkeit der Erde selbst zu schwinden scheint, herrscht eine Art von kollektiver Anästhesie.

Eine Menschheitsstunde

e: Kann man hier von einer Menschheitsstunde sprechen?

HK: Ich denke schon. In unserer derzeitigen Lage ist es überlebenswichtig geworden, innerhalb kürzester Zeit den Zustand kollektiver Anästhesie zu durchbrechen und etwas wirklich Atemberaubendes zu bewerkstelligen: einen Wandel weg vom etablierten Weltbezug, der auf Aneignung und Kontrolle aus ist und damit Sterbefelder produziert, hin zu einem Weltbezug, der ganz auf Lebendigkeit fokussiert – darauf, das mit allen Wesen geteilte Leben der Erde bewusst zu mehren, zu kultivieren und zu regenerieren. Im Grunde erfordert das, besonders für uns im wohlhabenden globalen Norden, eine andere Weise des Menschseins.

e: Anästhesie bedeutet Betäubung. Wir sind nicht willens, den Tod, der in den ökologischen, kulturellen und kriegerischen Sterbefeldern real stattfindet, wahrzunehmen. Wodurch wird diese Betäubung ausgelöst?

»Die Wirklichkeit in ihrer tiefsten Dimension verweigert sich der Trennung.«

HK: Pater Anselm Grün hat den Satz geprägt: »Wo wir gebrochen sind, sind wir aufgebrochen für das Eigentliche.« Zu dem, was uns hindert, dieses Eigentliche wahrzunehmen, zählt ein zweifaches Tabu, womit das Sterben belegt ist. Seit der Moderne wird kaum etwas mehr verdrängt als die Endlichkeit und der Tod. Subtiler, doch womöglich stärker noch wirkt der eherne Konsens, im Sterben nur und allein bloße Vernichtung zu sehen. Das ist es nicht. Sterbefelder sind immense, weit offene Portale hinein in andere Weisen des Weltwahrnehmens. In ein Wahrnehmen, das, wie Paul Klee es ausdrückt, näher an das Herz der Schöpfung führen kann. Statt also das Sterben an Unorte des Bewusstseins und hinter die Kulissen zu verbannen, sollten wir die erlöschende Lebendigkeit unserer Erde als einen kosmischen Appell verstehen, unser ganzes Sein bis in die letzte Pore zu öffnen.

Ich selbst habe, als vor über 20 Jahren mein Liebster starb, begriffen, dass der Sterbeprozess vor diese Wahl stellt: Entweder wir klammern uns an Kontrollmöglichkeiten und Wissensstände, die allesamt wegbrechen, oder wir wagen es, in das hineinzugehen, was im Grunde unumgänglich ist – in die Hingabe an radikales Nichtwissen. Dafür braucht es eine maximal offene Geisteshaltung, die das Ego an den Rand nimmt und ganz und gar auf Empfang geht; die nicht kontrollieren und beherrschen will, sondern die zu erkennen und erspüren versucht, was da an Tieferem, Größerem am Werk ist und eingelassen werden will. Eine solche Geisteshaltung wurde in der westlich geprägten Moderne so gut wie nirgends kultiviert.

Auch können wir in Sterbefeldern wahrnehmen, wie begrenzt die lineare Vorstellung von Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ist. Im Modus intensiven, präsenten Lauschens wird geradezu hörbar, dass es so etwas wie Allgegenwart gibt. Kulturen, die klüger als unsere waren und sind, haben immer gewusst, warum es wichtig ist, der Ahnen zu gedenken. Das Wort Ahnen für Vorfahren ist identisch mit dem Ahnen von etwas, das noch nicht manifest ist: Ich ahne. Hier deutet die Weisheit der Sprache darauf hin, dass die Lebendigkeit der Welt letztendlich jenseits von Zeit – wie auch von Raum – entspringt.

Gerade in Sterbefeldern, diesen Räumen des Übergangs zwischen hier und dort, zwischen Form und Nichtform, zwischen Manifestem und Nicht-Manifestem wird das erfahrbar. Erklären und beweisen lässt es sich nicht. Denn jeder bloß rationale Ansatz ist hier allein von der Methode her untauglich. Weil es ihm an Offenheit fehlt.

Die Haltung des Horchens

e: Jetzt hast du etwas in den Raum gestellt, das mich aufhorchen lässt. Du sprachst von dem doppelten Tabu eines Verdrängens des Sterbens und dem Verfehlen von dessen Bedeutung. Mit dem Öffnen des Blicks über diese Tabus hinaus zeigt sich eigentümlicherweise etwas von der tiefen Lebendigkeit der Welt. Wie das?

HK: Sie zeigt sich nur, wenn wir innehalten und uns erlauben zu spüren, was ist. Wenn wir jenseits des Machens, Managens, Beherrschens, Wissens in eine Präsenz, ein Stillsein finden, wo, mit Goethe gesprochen, neue Organe des Wahrnehmens liegen. Durch diese Haltung des Horchens kann eine Wirklichkeit zum Ausdruck gelangen, die sonst nicht zu uns durchdringt.

e: Im Horchen und Aufhorchen liegt eine Dynamik, die auch jene Anästhesie durchbricht. Ich lasse etwas ein – was ja ein Tätigsein beinhaltet.

HK: Ja. Aktiv zu sein bedeutet an dieser Stelle, einen inneren Raum zu schaffen, in dem sich etwas kundtun kann. Durch horchen, lauschen. Tatsächlich habe ich im Umfeld des Todes meines Liebsten erfahren, dass es eine Stille, eine Weite unter dem Denken gibt, die geradezu hörbar und wie schmeckbar ist. Ich nannte das eine köstliche Stille. Selbst inmitten von schlimmem Schmerz, von Chaos und Hilflosigkeit kann es Momente solcher Stille geben. Das hält.

»Sterbefelder sind weit offene Portale hinein in andere Weisen des Weltwahrnehmens.«

Sterbefelder sind also immense Portale hin zu einem Verlebendigen des Wahrnehmens – jenseits unserer Automatismen des Wahrnehmens. Das Wort Horchen hat ja interessanterweise auch eine phonetische Nähe zu Gehorsam. In dem Maße, wie wir in den Modus des Horchens finden, braucht es für ein verantwortliches In-der-Welt-Sein keinen von außen abverlangten Gehorsam mehr. Denn dann können wir hören, was gebraucht wird. Auf eine pragmatische Ebene runtergebrochen wird hörbar: Was die Welt jetzt von uns braucht, ist eine nicht-materielle Intensivierung unserer Lebensweise; ein biokosmopolitisches Gewissen, inspiriert aus einem offenen, vernehmenden Geist und von Berührbarkeit.

Damit durchbrechen wir wie spielend die kollektive Konsum-Trance. Und bringen eine ganz neue Schönheit in die Welt.

Erkenntnisfelder

e: Wenn du mir erlaubst, würde ich dich gern mit einem Großen in Beziehung setzen, der zu diesem Thema viel gesagt hat. Jedes Mal, wenn du von deinem Liebsten und seinem Ableben sprichst, denke ich an die Erfahrung von Novalis mit seiner verstorbenen Geliebten. Es gibt eine Formulierung in den »Hymnen an die Nacht«, wo er über die Dämmerung spricht. Er sagt, dass im Einbruch der Dunkelheit das blendende Licht geht, und es möglich wird zu sehen. Im Gegensatz zu unserem normalen Wahrnehmen der Dunkelheit, die uns die Sicht raubt, ist es hier die Dunkelheit, die uns die Sicht öffnet. Dieses Bild, dass uns das Tageslicht die Sicht verstellt und sich in der Dunkelheit die Möglichkeit des Sehens öffnet, scheint etwas anzusprechen, von dem du auch gerade gesprochen hast.

HK: So schön. Wir führen unser Gespräch ja Ende November. Da ist es, wenn ich mich morgens an den Schreibtisch setze, noch dämmrig, fast dunkel. Wir alle kennen dieses Phänomen: Solange die Schreibtischlampe aus ist, lässt sich draußen in der Dämmerung ganz viel erkennen. Formen, Gestalten, Bewegungen zeichnen sich ab, zart, aber doch auch deutlich. Sobald wir die Lampe anschalten, versinkt die Welt draußen in Finsternis. Man könnte sagen, und das korrespondiert mit Novalis, die Aufklärung ist wie das Anknipsen eines großen künstlichen Lichts gewesen. Das Licht der Ratio ist ungemein hell, scharf, effizient, kann aber nur ein gewisses Spektrum der Welt erfassen – während es zugleich die Tiefe der Wirklichkeit überblendet, in Finsternis drängt. Indem wir uns ganz dem machtvollen, trennenden Licht der bloßen Ratio überantworten, verlieren wir die – ja immer gegenwärtige – Lebendigkeit der Welt aus dem Blick.

e: Vielleicht ist es etwas überzogen formuliert, aber dann werden die Sterbefelder zu Erkenntnisfeldern.

HK: Sie fördern Einsichten und Erkenntnisse, die uns verstellt sind, solange wir in unseren Automatismen stecken.

Auch kann, wenn wir uns mutig dem Sterben zuwenden, paradoxerweise die Angst abnehmen. Angst kommt von angus, eng. Das ankonditionierte Alltagsbewusstsein, das alles erklärbar und berechenbar haben will, macht eng. Damit erzeugen Sterbefelder eine Angst, die in seelische Regression treibt, auch in Depression und Aggression. Bis wir bewusst versuchen, quasi jede Pore unseres Seins zu öffnen. Damit erschließt sich jenes Erkenntnisfeld. Wenn unsere Welt ein planetares Sterbefeld geworden ist, dann auch ein planetares Erkenntnisfeld.

Portale in einen neuen Weltbezug

e: Unsere globale Zeitsituation ist ja sehr stark von Angst, von Verengung, von Aggression geprägt. Das geht gerade kollektiv in uns vonstatten. Aber du hast eine andere Möglichkeit benannt. Durch diesen Blickwechsel werden die Sterbefelder zu etwas sehr Wertvollem.

HK: Ja, zu Portalen in einen neuen Weltbezug. In der Verengung der Angst schaffen wir eines nicht, was unverzichtbar ist, um die Lebendigkeit der Welt zu regenerieren: Wir können uns nicht mit den Kräften der Intuition, Inspiration und Imagination verbinden.

»Die Lebendigkeit der Erde selbst verarmt.«

Für Joseph Beuys waren das höhere, komplexere Formen des Denkens. Diese Qualitäten eines schöpferischen Denkens verblassen, wo immer der Fokus auf Kontrolle und Beherrschbarkeit liegt. Denn sie brauchen maximale geistige Offenheit. Deswegen kann die Dichtung ein so guter Kompass sein – weil sie bildhaftes Denken ist, verdichtete Imagination. Während der ersten Trauer um meinen Liebsten war Poesie wie ein Lebensmittel für mich. Heute verstehe ich warum: Die Lebendigkeit der Welt ist schöpferisch. Dieses Schöpferische wirkt allerorts auf unserer wunderbaren und zugleich so tief verwundeten Erde. In uns Menschen sind die geistig-seelischen Vermögen der Intuition, Inspiration und Imagination Verbindungen dorthin.

e: Imagination bedeutet hier nicht, dass man sich etwas vormacht, sondern es ist ein Sehen. Im feinen Wahrnehmen wird etwas sichtbar.

HK: Sterbefelder sind Räume, in denen besser als vielerorts sonst das, was wir Realität nennen, durchschaut werden kann, um so zur Tiefenschicht unter der Realität zu gelangen: zur Wirklichkeit. Merkmale der Wirklichkeit sind, wie der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr ausgeführt hat: Beziehungskraft, Potenzialität, Offenheit, Metamorphose und Paradoxie.

All das liegt, um auf das Bild von vorhin zurückzukommen, definitiv außerhalb des Radius jener Schreibtischlampe in der Dämmerung. Der logisch-kausale Verstand versucht ja Klarheit zu gewinnen, indem er die einzelnen Phänomene scharf ins Auge fasst. Er misst so den Unterschieden große, zu große Bedeutung bei. Je schärfer ich definiere, desto mehr schließe ich auch aus. Die Dinge sind mir entweder dies oder das; sind sie dies, so sind sie nicht das. Ein solches Denken bleibt am Trennenden haften – und produziert damit selbst Trennung und Negation. Das aber macht im Letzten taub und blind. Die Wirklichkeit in ihrer tiefsten Dimension verweigert sich der Trennung und der Negation. Sie will nicht-fragmentierte und nicht fragmentierende Annäherungen.

Daher darf, um im Sterben etwas vom »Eigentlichen«, siehe Anselm Grün, in Erfahrung zu bringen, mein Blick nicht mehr kalt und scharf sein. Ich muss mein Wahrnehmen warm, weit, sanft werden lassen, den Fokus herausnehmen, weil das Nähe zur Tiefendimension des Geschehens schafft.

Und so lehren Sterbefelder: Die Welt will uns zärtlich. Sie will uns berührbar, erreichbar, präsent. Da, wo wir jetzt in der Geschichte der Erde und der Menschheit angelangt sind, braucht es, um den Organismus Erde mit all seinen unglaublichen Wesen nicht weiter zu verletzen, zu verstümmeln, aus der Balance zu bringen, um ihn in seinem absolut kritischen Zustand zu stärken und zu nähren, jene Wärmequalität im Wahrnehmen und von da aus im Denken. Die beispiellosen Sterbeprozesse in der Welt rufen auf zu einem Denken, das ebenso mitfühlend wie schöpferisch ist. Was praktisch hieraus folgt, sind nicht zuletzt Kulturen umfassender Fürsorge – gerade auch für unsere anders-als-menschlichen Geschwister.

Etwas davon hat Hilde Domin in ihr Gedicht gefasst:

Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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