Tiefe und Vielfalt

Our Emotional Participation in the World
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April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
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April 2016
Europa sucht seine Seele
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Brauchen wir Spiritualität für die Zukunft eines gemeinsamen Europas? Was könnte sie bewirken?

Die europäische Einigung hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Rahmen geschaffen, der die Vielfalt Europas institutionell eint. Doch was ist mit der Tiefendimension unserer europäischen Identität, die nicht nur im Politischen, sondern vor allem im Menschlichen nach wirklicher Berührung sucht? Wir haben fünf überzeugte Europäer gefragt:

Sonja Student, Autorin, Schulberaterin, Vorstand Makista e. V. und DIA – Die Integrale Akademie.

Europa ist mehr als ein Markt, es ist eine Werteemgeinschaft. Menschenrechte, Demokratie, Inklusion und Nachhaltigkeit sind europäische Leitlinien für Bildung, an denen ich mich beim Aufbau von Schulnetzwerken für Kinderrechte und Demokratie orientiere. Mit der europäischen Charta der Grundrechte bilden sie eine Werte-Plattform, die ein gutes und menschenwürdiges Leben in Vielfalt ermöglichen soll – für Individuen und Gemeinschaften.

Getragen wird dieser Werte-Raum von zwei Tiefenströmungen der europäischen Geschichte: einem aufklärerischen Impuls von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie einer mystischen Tradition, die sich – frei von religiös-autoritären Machtstrukturen – als demokratisches Potenzial aller Menschen entfalten kann. Damit erhält die Würde des Menschen eine tiefere Be-Gründung: Ausgehend von unserem Nicht-Getrennt-Sein können wir endlich bewusst Mensch-Sein in Einzigartigkeit und Verbundenheit mit anderen und der Welt. Der stete Prozess der Aufklärung und eine weltzugewandte Spiritualität, Aufwachen und Aufwachsen, bedingen sich gegenseitig. Sie machen uns stark und widerstandsfähig für die Bewältigung der komplexen Herausforderungen unserer Zeit, ohne in Angst und Trennung zurückzufallen, mit den zerstörerischen Folgen eines Schwarz-weiß-Populismus und menschenfeindlichem Rassismus und Fundamentalismus.

Martin Michaelis, Anwalt, Politologe, Mediator in internationalen und politischen Konflikten in Osteuropa und Nordafrika.

Wir benötigen Spiritualität, um eine gemeinsame Zukunft Europas (weiter-)zuführen. Ich benutze den Ausdruck der Spiritualität hier im Kontext der Suche nach der Verbindung zu meinem »eigenen« Selbst. Für mich bedeutet das, immer wieder in mich hineinzuspüren und zu schauen, was sich in mir authentisch anfühlt. Eine Variation von Moment zu Moment. Dazu gehört auch und im starken Maße die Arbeit mit den eigenen sogenannten Schatten, den Persönlichkeitsanteilen, die häufig unbewusst und daher unbemerkt sind. Gerne unterdrückt, zeigen sie sich in Form von Angst oder Wut, die sich gegenüber anderen oft in Neid oder Abwertung bemerkbar machen. Das führt zu Abwehrverhalten und damit zu Konfliktsituationen. Eine störende Quelle, um Gemeinsamkeit zu leben, da sie uns daran hindert, emphatisch in die unterschiedlichen Welten anderer Menschen einzutauchen. Stattdessen bewirken die Schatten zwanghaftes Verhalten, unter Druck geschlossene Verträge und Vereinbarungen, die neue Belastungen und Zwänge für die Zukunft (in Europa) hervorrufen.

Um die Schatten ans »Licht« zu bringen, bedarf es einer Hinwendung zu unserem Selbst, einer kritischen aber auch akzeptierenden Betrachtung von uns im bestehenden System. Würdigung und Verständnis ihrer Umstände helfen, unser eigenes Wohlergehen und damit die Verbindung zu anderen Menschen zu unterstützen. Das ist die Voraussetzung für ein gemeinsames Europa.

Helmut Dörmann, Kontemplationslehrer, Lehrer für integrale Mystik, Koordinator für Hospizarbeit.

Meine Gedanken sind dieser Tage häufig bei den Flüchtlingen, die nach Europa kommen. Wir sehen, dass Flüchtlinge nicht nur offene Herzen und Hände brauchen, sondern auch eine Perspektive. Man sieht auch, dass viele Menschen, besonders aus dem kirchlichen/spirituellen Feld, hierzu bereits einen sehr wertvollen Beitrag leisten.

Tief in unserer Seele wissen wir, dass das Leid der Flüchtlinge auch unser Leid ist. Wir spüren, dass wir nicht getrennt sind von ihrem Leid und ihrer Geschichte. Diese Realität mag schmerzhaft sein. Verschließen können oder sollten wir uns jedoch nicht davor. Denn wir würden uns damit auch von uns selbst abschneiden. Und Europa würde seine Grundwerte, die über Jahrhunderte gewachsen sind, verlieren. Ein hoher Preis!

Wenn wir diese »Nicht-Getrenntheit« annehmen, entstehen auf ganz natürliche Art und Weise Mitgefühl und Verantwortung,  die gelebt werden wollen.

Was könnte dies für Europa bedeuten? Ich möchte hierbei einen Punkt hervorheben: Ethik. Spiritualität und Ethik liegen für mich dicht beieinander. Ethische Werte wie Achtsamkeit, Respekt, Toleranz, Fürsorge und Gewaltlosigkeit könnten uns helfen, eine gerechtere Welt zu schaffen, die europäische Werte integriert und gleichzeitig darüber hinausgeht. Jeder könnte ein Knotenpunkt dieses Netzwerkes sein und eine Ethik des Handelns in die Welt bringen.

Dorothea Walter, Performance-Künstlerin, Dozentin an der Heliopolis-Akademie/Heliopolis-Universität in Kairo, Ägypten.

Es ist für mich selbstverständlich, dass die Menschheit Spiritualität braucht. Aber wie kann eine solche heute aussehen? Die spirituellen Traditionen, die wir kennen, stammen ja ausnahmslos aus der Vergangenheit und den entsprechenden Bewusstseinsverfassungen. Die Frage einer zeitgemäßen Spiritualität kann man nicht verfolgen, ohne die verschiedenen Bewusstseinsstufen von Menschen zu berücksichtigen. Selbst wenn der »Urgrund« allen Weltreligionen gemeinsam ist, wird es von jedem einzelnen Bewusstsein auf seiner Stufe »empfangen« und in das eigene Verstehen »übersetzt«.  Die Weltreligionen sind ausnahmslos »Gehorsams- und strafende Kulturen«.

Eine Tür wären vielleicht die Allgemeinen Menschenrechte. Sie müssten vor dem Hintergrund des Bewusstseinsstufen-Entwicklungsmodells Spiral Dynamics vermittelt werden. Aber wo stehen wir tatsächlich? Deutschland und andere Länder überziehen die Welt mit schweren Kriegswaffen. Von dort, wo sie eingesetzt werden, flüchten die Menschen jetzt zu uns. Wie absurd.

Die Bewusstseinsentwicklung vergangener Jahrtausende hat eine patriarchale Entwicklung genommen. Das impliziert, dass wir über ein Bewusstsein zu sprechen hätten, das sich der weiblichen Seite menschlichen Handelns und Denkens bewusst würde. Aber wir bemerken kaum, dass wir das »Neue« mit patriarchalen Denkstrukturen denken. Das Neue zu denken, bedeutet für mich aber aus der Ganzheit und integrierend zu denken, nämlich das Weibliche (nicht Sex, nicht Gender) als das ungeteilte Ganze zu erkennen und zu erfahren. Weibliche ganzheitliche Spiritualität wird männlich dominierte überkommene Spiritualität ablösen.

Vahidin Omanovic, Friedensaktivist, Mitgründer des Center for Peacebuilding in Bosnien-Herzegowina.

Offensichtlich gibt es viele Europäer, die religiös und spirituell sind. Es gibt aber auch viele Europäer, die keine Religion ausüben und kein Bedürfnis nach Spiritualität empfinden. Für mich persönlich ist es wichtig, dass wir als Europäer miteinander in einen Dialog kommen, damit wir voneinander lernen und unsere Spiritualität und unseren Verstand nutzen können, um Europa als einen Ort zu gestalten, wo jeder akzeptiert und respektiert wird, ungeachtet seines religiösen oder spirituellen Hintergrundes.

Als europäischer Muslim und Friedensaktivist ist es für mich entscheidend wichtig, dass wir auf institutioneller Ebene mehr Dialoge führen (z. B. in religiösen Gemeinschaften) und dass religiöse Gemeinschaften in Europa den Dialog und die Begegnung von Menschen mit verschiedenen religiösen und spirituellen Hintergründen ermöglichen.

In der Arbeit am Center for Peacebuilding in Bosnien-Herzegowina zeigen wir, dass religiöse Gemeinschaften eine starke Quelle von Friedenskonsolidierung und Versöhnungsarbeit sein können. Ich glaube fest daran, dass wir ein Beispiel dafür sein können, wie wir in Europa mit einer großen religiösen Vielfalt umgehen können.

Author:
Sonja Student
Author:
Martin Michaelis
Author:
Helmut Dörmann
Author:
Dorothea Walter
Author:
Vahidin Omanovic
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