Traum und Verwandlung

Our Emotional Participation in the World
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Interview|Profile
Published On:

July 14, 2015

Featuring:
Patrick Roth
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Issue:
Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Im Dialog mit dem Unbewussten

»Patrick Roth zaubert uns weg in eine andere Welt. Von diesem Zauber ist Roths Prosa gänzlich erfüllt, und er erfüllt auch uns, seine Leser«, schrieb »Die Zeit« über Patrick Roth. Bekannt wurde der Autor vor allem durch seine »Christus-Triologie«, die aus drei Texten besteht, in denen er religiöse, biblische Motive in ungewohnter Form und sprachlicher Umsetzung aufgreift. Inspiration seines Schreibens sind neben religiösen Bildern die Tiefenpsychologie und der Film. Wir sprachen mit Patrick Roth über sein Anliegen, uns die Welt der inneren Bilder näherzubringen und warum dies auch kulturelle Bedeutung hat.

evolve: Ihre Bücher leben sehr stark aus Träumen, mythologischen und religiösen Bildern, auch einer bildreichen Sprache. Welche Bedeutung haben für Sie Bilder und Imagination?

Patrick Roth: Wir alle, ob wir es wissen oder nicht, leben vom Unbewussten. Wir leben aus Träumen, mythologischen und religiösen Bildern. Wir stehen auf einer porösen Oberfläche, die wir »Bewusstsein« nennen. Diese hauchdünne psychische Schicht existiert aber nur, solange äußere und innere Eindrücke – etwa der Einbruch ins Elektrogeschäft, den ich von meinem Fenster aus beobachte, oder der Gedankengang, den ich im Innern verfolge: Wie könnte ich Geraldine Chaplin die französische Ausgabe meines Chaplin-Buchs zukommen lassen? – von meinem Ich-Bewusstsein erfasst werden. Das »Ich« weiß: Dort drüben wird eingebrochen. Aber schon meine Reaktion auf diese Tatsache hat ihren Ursprung im Unbewussten. Warum sonst stünde ich minutenlang »fasziniert« da? Jene hauchdünne Schicht »Bewusstsein« war sekunden- oder minutenlang versunken. »Die Wasser des Unbewussten« hatten mein Ich-Bewusstsein überschwemmt. Dasselbe beim Gedankengang, den ich zu Ende führen wollte. Was hat mich gerade abgelenkt? Warum kam ich plötzlich auf »dieses und jenes«, Störendes jedenfalls, das mich meinen Geraldine-Faden verlieren ließ? Wie Sie wissen, beruht auch diese sprachliche Wendung auf einem mythologischen Bild, auf »Ariadnes Faden«, mithilfe dessen Theseus dem Labyrinth entkommt. Das Labyrinth ist ein Bild für das Unbewusste, ebenso wie »die Wasser«, »das Meer«, »der Wald«, »die Nacht«. Das Unbewusste selbst scheint sich in diesen und anderen Bildern auszusprechen. Das lässt sich durch Träume nachweisen, wie sie viele nachtnächtlich träumen. Insofern sind diese inneren Bilder Produkte des Unbewussten. Der Begriff der Imagination dagegen setzt, meine ich, schon ein bewusstes Ich voraus. Imagination impliziert eine Zusammenarbeit zwischen dem Unbewussten und dem Ich, das mit den vom Unbewussten produzierten Bildern bewusst zu spielen beginnt. Als Schriftsteller setze ich mich zunächst mit den rohen – d. h. noch unbearbeiteten, ihrem Sinn nach unverstandenen – Bildern des Traums auseinander. Hier beginnt, wenn das Ich sich darauf einlässt, der quälende, aber meist fruchtbare Dialog mit dem Unbewussten: die Suche nach dem Sinn der Bilder, die sich einfanden. Die Imagination – mein Imaginieren ganzer Sequenzen, ihre Ausarbeitung bis ins letzte imgaginierte Detail – baut auf der vorausgehenden Sinnsuche erst auf.

Ehrfurcht vor den inneren Bildern

e: Und was zeigt sich für Sie in diesen Bildern? Spricht sich in ihnen etwas aus?

¬ DIE BEGEGNUNG MIT DEM NUMINOSUM ABER BEDEUTET FÜR DAS ICH ZUNÄCHST EINE NIEDERLAGE. ¬

PR: Ich würde meine Einstellung zu den Bildern der Psyche als religiös bezeichnen. Sie sind für mich der Ausdruck eines zweiten Zentrums, das dem anderen, psychischen Zentrum – dem Ich – himmelhoch überlegen sein kann. Mit »religiös« meine ich: Ich versuche, den Bildern des Unbewussten mit Achtsamkeit und Ehrfurcht gegenüber zu treten, mit »reverentia«. In der Silbe »ver« sind, etymologisch gesehen, »Furcht« und »Bewusstsein« noch eins. »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«, heißt es im 111. Psalm. Die Kehrseite der »reverentia« aber betrifft mich selbst. Für die Auseinandersetzung mit dem Traum benötige ich endlose Geduld – »patientia«, wenn Sie wollen – für meine eigene Dummheit, Aufgeblasenheit, Engstirnigkeit, Schwäche. Es geht dabei um »den Geringsten« (Mt 25,40): die Notwendigkeit, diesen meinen geringsten Bruder in mir anzunehmen.

e: Wie beeinflusst Ihr Interesse an Filmen dieses bildhafte Erzählen?

PR: Was ich in der amerikanischen Filmschule gelernt habe, prägt mein Erzählen natürlich. Aus dem Rohmaterial des Traums oder Traumbilds – die Alchemisten sprachen von der »prima materia« ihres »opus« – wird Sinn gezogen. Und zwar so, dass ich meine Traumerfahrung einem anderen, dem Leser, wieder-erfahrbar machen kann. Nach der Auseinandersetzung mit den Bildern plane ich also – wie ein Regisseur –, was ich dem Leser sage, zu »sehen« gebe, damit er folgen bzw. »wittern« kann. Wie beleuchte ich diese Szene? Spielt sie bei Nacht, im Chiaroscuro oder Spätlicht des Nachmittags? Wer betritt sie zuerst? Und was soll der Leser als Nächstes sehen? Sagen heißt sehen machen, folgen machen, wittern lassen. Sagen und sehen sind etymologisch verwandt mit lateinisch ­»sequi«: »folgen«, das wiederum ein Die-Spur-Wittern beinhaltet. Der kinematische Umgang mit Bildern betrifft dann auch das »planting« bestimmter Motive, das Anlegen von Bildern, deren Sinn dem Leser erst später aufgehen wird. Vereinfacht könnte ich sagen: Filmisches Sehen hilft mir, meine Erfahrungen mit dem Unsichtbaren, den inneren Bildern, in Sichtbares zu übersetzen. Der Sinn, der bei der primären Arbeit aus den Bildern gezogen wird, weist mir die Richtung. Das angestrebte Ziel – ich sage nicht, dass ich es dahin geschafft hätte –, aber das Ziel meines Schreibens, z. B. in »Sunrise – Das Buch Joseph«, ist: »A re-experiencing of the primordial state consciously.« So formulierte der amerikanische Tiefenpsychologe Edward F. Edinger einmal, als er den Archetyp der »Coniunctio« – der »Vermählung der Gegensätze« – deutete. Das wäre ein subjektiv vielleicht nur Bruchsekunden währendes Erlebnis, in dem unser Ich nochmals an dem primordial ur-einen Zustand rührt, ihn jetzt aber bewusst erfährt. Das heißt, nicht wie uranfänglich: unbewusst, auch nicht in unbewusster Ekstase, nicht in Identifikation mit dem Göttlichen, nicht in Auflösung, sondern bei Unversehrtheit des Ich, d. h. im Bewusstsein unseres individuell-irdischen Menschseins.

Die Botschaft verstehen

e: Sie schöpfen in Ihrer schriftstellerischen Arbeit auch aus der Tiefenpsychologie C. G. Jungs und seiner Idee der Archetypen. Was ist Ihnen an Jungs Sicht unserer Psyche besonders wichtig? Was sind Archetypen für Sie?

PR: Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben, wir kommen sonst zu sehr ins Allgemeine. Eine amerikanische Bekannte – sie schreibt Drehbücher – skypte vor Kurzem mit mir und berichtete mir ziemlich erschüttert von einem Traum, der sie beängstigte. In der Nacht zuvor hatte sie vom Besuch eines benachbarten Ehepaares geträumt. Gute Bekannte. Er ist Versicherungsagent. Im Traum ist sie auch an einer Versicherung interessiert und lässt sich von den beiden beraten. Er liest ihr eine Reihe von Punkten aus einer komplizierten Versicherungspolice vor. Dabei wird sie allmählich auf ein von außen näher kommendes Geräusch aufmerksam. Auch die beiden anderen hören es. Alle stehen nun auf und gehen zum Wohnzimmerfenster. Am Himmel sieht sie eine Transall-Maschine, die letztlich über ihr Haus hinwegfliegt. Aber dann kehrt das Geräusch zurück. Wieder erscheint das große Flugzeug am Himmel – es hatte offensichtlich gewendet und wendet jetzt nochmals: Im Sturzflug hält es direkt auf ihr Fenster zu. Sie steht wie angefroren. Das Flugzeug kommt so nahe, dass sie deutlich den weißbehelmten Piloten sieht, der sie fixiert – und jetzt herabstürzt. Das Flugzeug bricht nicht durchs Fenster, sondern schlägt unmittelbar daneben in ihre Hausgarage ein, die sofort zu brennen beginnt. Die drei fliehen aus dem Haus.

Das war der Traum. Natürlich war sie verängstigt. Sie wusste auch nicht, was er bedeuten könnte. Sie lebt als Drehbuchautorin in Hollywood immer »nah am existenziellen Abgrund«, das war ihr Kommentar, ihre Assoziation zur Ausgangssituation. Sie will sich »versichern lassen«, will sich »materielle Sicherheit« schaffen im Leben. Genau diesen Plan aber durchkreuzt der Traum ja brachial. Wir sprachen über das Flugzeug – sie kannte den ­Piloten nicht. »Der aber meinte mich«, wie sie sagte. »Er wollte nicht auf irgendein Haus herabstürzen, sondern auf meines. Er wollte zu mir.« Ihre Bemerkung brachte das Bild des »Boten« auf, des »Engels im Fluge«, der »aus dem Himmel« mit einer bestimmten Botschaft zu einer bestimmten Person herabkommt: Sie ist sein Ziel, er »zielt auf sie«. Es könnte sich, sagte ich, um eine ganz und gar nicht »materielle« Botschaft handeln, die deine materiellen Versicherungsabsichten zerschlägt, weil du – wie die Manna-Sucher in der Wüste – dem Größeren, letztlich Gott, vertrauen sollst. Der Bote wäre also numinos. Die Begegnung mit dem Numinosum aber bedeutet für das Ich zunächst eine Niederlage, sagt C. G. Jung. Es »wirft uns um«, bricht radikal in uns ein, »wer kann da noch stehen?« Alle Ichmächtigkeit liegt am Boden. Jetzt käme es auf die Einstellung der Träumerin zum Einbruch des Boten bzw. zu der noch unbekannten Botschaft an. »Trittst du die Flucht an – oder stellst du dich dem Unbekannten?«

So oder ähnlich sprachen wir über die Sache. Das heißt, wir sprachen über den archetypischen Hintergrund jener Bilder, zu denen sie keine persönlichen Assoziationen hatte (Flugzeug und Pilot). Jetzt entsteht aus bewusster Furcht vor der Bedeutung des Traumbilds ein Interesse, eine Ahnung, es könnte ein Sinn, eine Botschaft für sie darin enthalten sein. Die bewusste Einstellung dem Erschütternden gegenüber hatte sich verändert. – Und schon am nächsten Tag sprachen wir wieder. Sie hatte nochmals geträumt. Diesmal stand der Pilot vor ihrer offenen Haustür, sprach dort freundlich mit ihrem Partner. Der Pilot hatte ihr einen Strauß Blumen mitgebracht, und sie war dabei, die Blumen einzeln auf viele Vasen »überall im Haus« zu verteilen. Das war der Traum, von dem sie mir freudig berichtete. Die bewusste Einstellung der Träumerin hatte sich verändert – und entsprechend auch die Einstellung des Unbewussten (des »Botschafters«) ihr gegenüber.

e: Das Archetypische wäre demnach etwas Überindividuelles, Zeitloses, ein Ewiggültiges?

PR: Ja, denn sehen Sie – nach dem »himmlischen Boten« scheint hier wieder ein archetypisch Zeitloses durch die Szene: in den Blumen ­z. B., die sie im Haus verteilt. Auch der Engel, der Botschafter der Verkündigung, Gabriel, kommt mit der Blume zur Frau, die »empfängt«. Bei dieser Botschaft würde es sich nun also um etwas handeln, das sie – durchaus nicht ohne Konflikt – »auszutragen« hätte. Aber jetzt ist ihre Einstellung dieser psychischen Tatsache gegenüber richtig. Das sieht man an der Reaktion ihres Unbewussten schon auf das bisschen Bewusstwerdung, das sich nach der Besprechung des ersten Traums ergab. Mit ihrer veränderten Einstellung hat sie etwas vom »Sinn« gewittert – denn Sinn bedeutet Richtung. So befände sie sich nun aus der Sicht des Unbewussten auf dem rechten Weg.

Sie sehen daran, wie die tiefenpsychologische Sicht einen fruchtbaren Dialog mit den ewigen, den archetypischen Bildern ermöglicht. Jedes Bild, das wir verwenden, hat seinen Ursprung im ­Unbewussten. Also auch jedes Wort, jede Geschichte, jeder Roman oder Film. Ob man das weiß und sich als Schriftsteller bei der Arbeit am Text entsprechend verhalten kann oder nicht, ist der Unterschied zwischen Tag und Nacht.

Das Unendliche in uns

e: Einem Ihrer Texte stellen Sie diesen Satz von C. G. Jung voraus: »Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium des Lebens.« Welche Bedeutung hat das Unendliche für Sie? Wo suchen oder finden Sie es?

¬ ICH WÜRDE MEINE EINSTELLUNG ZU DEN BILDERN DER PSYCHE ALS RELIGIÖS BEZEICHNEN. ¬

PR: Das Jung-Zitat steht meiner Erzählung »Magdalena am Grab« voran. Das »Unendliche«, so könnte man es deuten, ist ein Synonym für den »höchsten Wert«, für das Gottesbild, für das Numinosum – das manchmal, wie es im Traumbeispiel anklingt, als identisch mit dem Unbewussten betrachtet werden kann. Die einzigen Erfahrungen, die ich in dieser Hinsicht gemacht habe, stammen jedenfalls aus Träumen oder traumähnlichen Zuständen. Unvergesslich ist mir, was ich während des Erdbebens vom 17. Januar 1994 gesehen habe. Auf diese Bilder komme ich in den Frankfurter Vorlesungen »Ins Tal der Schatten« zu sprechen; auch die erste und die letzte Geschichte aus der »Nacht der Zeitlosen« handeln davon.

e: Auf der Ebene des Bewusstseins wird man beim Lesen zum Beispiel Ihres Romans »Corpus Christi« in einen erzählerischen Sog gezogen, in dem bei den Figuren konkretes Erleben, Traum und geistige Schau als Erkenntnisformen einander abwechseln, ineinander übergehen. Als Leser macht man diese Bewusstseinsverschiebung mit. Was bedeutet diese Verschiebung für Sie, insbesondere im Kontext unserer rationalen, säkularen Kultur?

PR: Die Verschiebung, von der Sie sprechen, käme einem Einüben des Lesers gleich, der eine Beziehung zum Unbewussten herstellen oder nicht abreißen lassen, sie gar vertiefen möchte. 2000 Jahre nach Christi Geburt befinden wir uns wieder in einer höchst gefährlichen Wendezeit. Das Individuum in unserer rational-inflationierten Kultur bedarf dringend einer Beziehung zum eigenen Innern. Wir sollten viel mehr als wir es tatsächlich tun auf unsere Träume und auf unsere Gefühle achten, gerade auf die beängstigenden, gerade auf die peinlich-unangenehmen oder scheinbar wertlosen. Wir sollten bewusste Verbindung zu ihnen pflegen und am inneren Konflikt, auf den sie weisen, arbeiten. Nur so halten wir die schlimmsten Projektionen unserer unbewussten Inhalte einigermaßen im Zaum. Geschieht das nicht, dann sind wir – mit fatalen Konsequenzen – dazu verdammt, sie außen in der Welt als Feinde, als Fremde, als den Teufel zu bekriegen.


Author:
Mike Kauschke
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