Trauma trennt, Heilung verbindet

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Book/Film Review
Published On:

July 12, 2021

Featuring:
Bessel van Kolk
Thomas Hübl
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Ausgabe 31 / 2021:
|
July 2021
Wir alle leben in Mythen
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Eine Rezension des Buches »Kollektives Trauma heilen«von Thomas Hübl

Trauma trennt. Das weiß die psychologische Wissenschaft. Mystik und Weisheitslehre deuten es genauso. Ein Trauma trennt uns von seelischen Anteilen unserer selbst, unterbricht die Verbindung zu anderen Menschen, zum Leben, zum Sein. »Trauma ist nicht die Geschichte von etwas, das sich vor langer Zeit abgespielt hat«, sagt der maßgebende Forscher auf diesem Gebiet, Bessel van Kolk, sondern ist der »Rest, der jetzt noch in dir lebendig ist«. Seelische Verletzungen, die einst geschehen sind, wirken in uns fort. Mit der leidvollen Folge, dass wir – und wer von uns ist schon unverletzt aus der Kindheit hervorgegangen? – von der Vergangenheit bestimmt werden und nicht vollständig gegenwärtig und präsent sein können. Auch die Zukunft, so schreibt der moderne Mystiker Thomas Hübl in seinem neuen Buch, folgt einem Wiederholungszwang. Wir rollen die Vergangenheit, verkleidet in neuem Gewand, immer wieder neu vor uns aus. Nicht nur auf unserem persönlichen Lebensweg. Sondern auch als Gesellschaft.

Das Buch verbindet. Es verbindet psychologische Erkenntnisse und mystische Perspektiven. Es zeigt die Zusammenhänge zwischen den persönlichen und den kollektiven Traumata auf, von der These ausgehend, dass die einen und die anderen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Und es belegt eine Ursachenkette von den großen Traumakomplexen, die es in vielen Gesellschaften gibt (die unverarbeiteten Folgen von Sklaverei, Kolonialismus, Genoziden, Vernichtungskriegen, Apartheid, Holocaust und vielen anderen) zu den aktuellen gesellschaftlichen Krisen. Diese Verbindungen hergestellt zu haben, ist das große Verdienst des Autors – in einer Zeit, die eher von Spaltung und Fragmentierung gekennzeichnet zu sein scheint.

Mit dem Fokus auf Traumata erschließt sich, was der Kern von Schattenarbeit ist. In der Kindheit erfahrene Verletzungen, die damals die Psyche überforderten, wurden in einer gesunden Überlebensreaktion erst einmal »weggesteckt«. Die damit verbundenen Gefühle von Angst und Schrecken, Ohnmacht und Wut tauchten ab ins Unbewusste. Konstruktiv ausgedrückt warten sie dort auf eine Zeit, wo jemand bereit ist, sie sich in einem sicheren Rahmen anzuschauen und mit einem erwachsenen Bewusstsein nochmal in diese Schwärze einzutauchen. Mit dem Wunsch, das Abgespaltene wieder zu beleben, die darin gebundene Kraft ins Fließen zu bringen, für die Gegenwart frei zu werden und Zukunft als etwas wirklich Neues erleben zu können. Es geht darum, wieder ein ganzer Mensch zu werden. Es geht um Heilung.

 IM SCHATTEN WIRKEN DIE KOLLEKTIVEN TRAUMATA, DIE GANZE GESELLSCHAFTEN VON IHREM WAHREN POTENZIAL TRENNEN.

Nachvollziehbar erscheint auch die Einbettung der persönlichen Traumata in ein größeres Geschehen. Noch weit in die Sechzigerjahre war es sowohl in der Schule als auch im Elternhaus weit verbreitet, Kinder zu züchtigen, einzusperren, zu bedrohen. Hübl sieht darin direkte Folgen der bei den Eltern eingeprägten Schrecken von Nazizeit, Holocaust und Zweitem Weltkrieg. Die Mystik nennt es Karma, die Forschung nennt es »intergenerationelle Traumafolgen«. Es läuft auf das Gleiche hinaus. In den vergangenen Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich diese unselige Weitergabe über viele Generationen erstrecken kann. Bis ins »siebte Glied«, wie es in der Bibel heißt? Hübl nennt ein Beispiel aus den USA, wo Psychologen in der afroamerikanischen Bevölkerung ein leidbringendes Muster der Kindererziehung beobachten. Es ist bei vielen Eltern verpönt, ihre Kinder offen zu loben. Im Gegenteil, oft herrscht ein harscher, stark abwertender Ton vor. Neuere Forschung geht davon aus, dass sich hier eine späte, heimliche Erblast des Sklaverei-Traumas auswirkt. Sklaven mussten jederzeit befürchten, dass ihre Kinder verkauft werden und sie sie nie mehr wiedersehen. Sie entwickelten die Gewohnheit, sie bei den weißen Besitzern in den düstersten Farben zu schildern, als faul, diebisch und krank – um sie zu schützen. Einst eine Überlebensstrategie, bewirkt sie heute erneut millionenfache Traumatisierungen.

Hübl erklärt mit der Analyse kollektiver Schatten auch die großen Verwerfungen der Gegenwart. Klima-, Flüchtlings-, Finanz-, Umwelt-, Armuts-, Gewaltkrisen: Sie deuten aus seiner Sicht auf massiv gestörte Beziehungen hin. Auf gekappte Verbindungen zum eigenen Selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Darunter und verborgen im Schatten wirken die kollektiven Traumata, die ganze Gesellschaften von ihrem wahren Potenzial trennen. Nach Hübls Überzeugung »verzögern ungelöste systemische und generationenübergreifende Traumata sogar die Entwicklung der Menschheit, fügen der Natur Schaden zu und hemmen die Evolution des Menschen«.

Gleichzeitig zeichnet er eine große, hoffnungsspendende Vision. Kollektive Traumata brauchen kollektive Formen der Heilung. Und dafür entwickelt Hübl seit vielen Jahren Formate. Er nennt seine Arbeit mit großen Gruppen von Menschen, etwa in Israel oder auch im deutsch-deutschen Kontext, Collective Trauma Integration Process. Mit von ihm geschulten Therapeutinnen schafft er Räume, in denen Menschen die Sicherheit finden, noch einmal gezielt an jene schmerzhaften Stellen im eigenen Inneren zu gehen, die sie selbst, aber auch ihre Gesellschaft bis dahin vermieden haben. Es wird klar: Es gibt keine Umgehungsstraße für wirkliche Heilung. Man muss mitten durch Ängste und Schmerzen, liebevoll, geführt, im Austausch mit denen, die genauso betroffen sind. Per aspera ad astra, der unbequeme Weg durch innere Finsternis ans Licht. Tausende Teilnehmende haben gezeigt, dass dieser Weg herausfordernd, aber gangbar ist.

Das Buch verwebt komplexes Wissen aus Wissenschaft und Mystik miteinander und macht es in einfacher Sprache zugänglich. Hübl ist ein Meister eingängiger Metaphern. Etwa wenn er beschreibt, wie Unverdautes aus der Vergangenheit unsere Präsenz und Empfänglichkeit für das Jetzt erheblich einschränkt: »Ich kann dir beim Abendessen nicht richtig zuhören, wenn ich mit dem beschäftigt bin, was beim Mittagessen los war.«

Von dem Buch geht ein Ruf aus. Vergleichbar mit dem »Call« bei der Heldenreise, wie sie Joseph Campbell beschrieben hat. Ein Anruf, der uns aus einer vermeintlichen Komfortzone von Verdrängung und Verleugnung hinauslocken will. Mut wird uns abverlangt, uns auch als Gesellschaft den Dämonen zu stellen, die uns aus dem Schatten des Unbewussten heraus steuern. »Wir sind zu einer gemeinsamen Heldenreise aufgerufen, bei der wir im praktischen wie im spirituellen Sinne aktiv werden müssen.«

Sicher ist die Heilung kollektiver Traumata nicht die einzige Voraussetzung, um eine Kultur der Verbundenheit, des echten Dialogs und der zukunftsgewandten Ko-Kreation zu schaffen. Aber die gemeinsame Arbeit daran beseitigt eines der wesentlichen Hindernisse, indem sie gekappte Verbindungen wiederherstellt. Statt kollektiv einem Zwang zur Wiederholung leidvoller Muster zu frönen, kann die kulturelle Weiterentwicklung ins Fließen kommen. Echte Zukunft wird möglich.

Author:
Michael Gleich
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