Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 16, 2020
Wir alle lieben das Schöne, es bewegt und berührt uns, und wir suchen es an ganz unterschiedlichen Orten. Was bedeutet unser Sinn für das Schöne in einer Zeit wie heute, die durch Krisen und Unsicherheit gekennzeichnet ist? Wir haben fünf Menschen, die sich in ihrer Arbeit auf verschiedene Weise mit diesen Überlegungen beschäftigen, gefragt:
Rebekka Reinhard
Eine Krise erkennt man am Nichts-geht-mehrGefühl. Weiß nichts mehr, kann nichts mehr, will nicht mehr. Mensch im Tunnel. Gefühle im Erdloch. Und dann, plötzlich: Ein Tautropfen, der in der Sonne glänzt. Ein tanzendes Kind. Ein Seerosenbild von Claude Monet … Mit einem Mal drängt etwas Jenseitiges in diese Welt, vielleicht nur für eine Sekunde. Man walzt mit zusammengebissenen Zähnen den Problemen entgegen – da ertönt aus einem geöffneten Fenster ein Saxophon. Ein Jazz-Standard, der einen in Lichtgeschwindigkeit an einen anderen, heileren Ort beamt. Und plötzlich erwacht man aus dem Krisenmodus.
Man erkennt, dass die Schönheit von Kunst und Natur kein Luxus ist, sondern schiere Notwendigkeit. Warum ist das so? Schönheit hat die Macht, aus dem Chaos der Krise einen Kosmos zu machen, eine geordnete, sinnvolle Gestalt. Schönheit ist ein Grundbedürfnis des sinnsuchenden Menschen – genau wie Liebe und Freiheit. Schönheit schenkt Trost, wenn niemand da ist, der einem die Tränen aus dem Gesicht wischt. Sie öffnet einen neuen Möglichkeitsraum, macht Unsichtbares sichtbar. Daher: Wenn du nicht weiterweißt, kauf dir eine Rose. Wenn du nicht mehr kannst, schau in den Himmel.
Rebekka Reinhard, Philosophin und Autorin, u. a. von »Schön!«
Ariadne von Schirach
»Schönheit ist der Glanz der Wahrheit«, sagen die Alten. Doch welche Wahrheit entbirgt sich? Es kann nur die Wahrheit des Lebens sein, dessen Blüte wir Schönheit nennen; ein Leben, das sich uns als geheimnisvolle Ganzheit zeigt, deren Dauer der Wandel ist, ein beständiges Schwingen zwischen Polaritäten. Und so ist auch wahre Schönheit niemals ungebrochen, mehr noch, erst der Verfall erhebt das Schöne zum Ganzen. In diesem Sinne ist Caravaggios Amor, der in der Berliner Gemäldegalerie zu besichtigen ist, betörender als die ebenfalls dort weilende Venus von Botticelli.
Denn während die Schaumgeborene uns zwar mit einer gewissen Wehmut anblickt, ist das schelmische Grinsen von Caravaggios verführerischem Knaben eine unverschämte Einladung zur Feier aller sinnlichen Genüsse. Nur eines schmeckt besser als die verbotene Frucht – die verrottete. Überreife Aprikosen, halbvergorene Wassermelonen, ein allzu bitterer Kaffee.
Amor vincit omnia hat Caravaggio sein Bild genannt. Und tatsächlich überwindet die Liebe alles, selbst den Ekel, den wir vor uns und unseren eigenen Lüsten haben, indem sie das, was unrein war, in Heiliges verwandelt. Dabei können wir uns selbst in Schönheit erkennen, genau dort, wo wir am verletzlichsten sind. Denn nur so werden wir der Wahrheit des Lebens gerecht: dass wir geboren werden und sterben müssen, und dazwischen so handeln dürfen, dass wir in der Stunde unseres Todes sagen können: Ich habe gefeiert, ich habe geliebt, ich habe gegeben und bin dabei mir, den Anderen und diesem Leben gerecht geworden.
Ariadne von Schirach, Philosophin und Autorin, u. a. von »Lob der Schöpfung«.
Wolfgang Welsch
Schönheit erfreut. So einfach ist das – und so elementar. Die vordergründige Meinung, dass das, was für den einen schön ist, es für einen anderen keineswegs sein muss, nützt dagegen nichts. Dann findet jener andere eben etwas anderes schön – und erfreut sich daran eventuell sogar mehr. Die Schönheitserfahrung ergreift uns mit allen Sinnen, belebt uns und macht uns nicht nur glücklich, sondern auch verträglicher, strahlender und zumindest für den Moment des Genusses der Schönheit sogar selber schöner. Schönheit gibt es vielfach. Die einen finden sie im friedlichen Gespräch, andere fanden sie im Fahrstil von Ingemar Stenmark, jüngere finden sie in einem coolen Webdesign und fast alle finden sie in der Kunst. Die Tante findet sie in den Strickmustern ihrer Jugend, während diese für ihren Neffen grässlich sind; alte Paare finden sie in den von gemeinsamen Erfahrungen zeugenden Falten ihrer Partner; Jugendliche ziehen eher die pralle Frische vor. Sie alle sind im Recht. Nur eines würde gegen jemanden sprechen: wenn er nirgendwo mehr Schönheit erleben, begehren, begrüßen würde. Ein solcher Mensch wäre wohl bei lebendigem Leibe tot.
Prof. em. Dr. Wolfgang Welsch, Philosoph und Autor, u. a. von »Ästhetische Welterfahrung«.
Maya Lukoff
Schönheit finden wir nicht nur als materialistische Manifestation, wie in der Symmetrie eines Romanesco-Kohlkopfs, sondern auch als Emotion und inneren Zustand. Der Zustand von Schönheit bereitet uns eine zeitlose Zufriedenheit, die uns ganz und vollendet fühlen lässt. Wenn ich morgens über unsere Felder und Äcker spaziere und der unglaublichen Fülle und Vielfalt begegne, die dort wächst, wühlt und fliegt, überkommt mich ein Zustand von Schönheit. Umso mehr wir lernen, die Schönheit der Natur zu erkennen und sie aufzunehmen, desto verbundener und fürsorglicher können wir mit ihr umgehen. Wahre Schönheit ist, in Verbindung mit etwas zu gehen, was unser Herz erfüllt und uns motiviert, aus einer Anbindung zu etwas Größerem als uns selbst zu agieren. Schönheit beflügelt uns, nimmt uns heraus aus unserer Alltagsrealität, transformiert, ist zeitlos und schlicht das Beste, was Leben uns zu bieten hat. Schönheit zu erfahren ist ein Grundbedürfnis, und wir brauchen sie, um uns immer wieder zu erinnern, was das Leben noch zu bieten hat. Schönheit transportiert uns zu neuen Welten und lässt uns mit unserer Umwelt verschmelzen. Als stark individualisierte Menschen ist das Verschmelzen und Auflösen unserer Grenzen zu unserer Umwelt eine heilsame Erfahrung und eine Möglichkeit, eine neue Beziehung zur Natur zu verinnerlichen.
Maya Lukoff, ökologische Landwirtin in der Gemeinschaft Tempelhof.
Raoul Eshelman
Wir brauchen Schönheit, um zeitweise aus uns selbst herauszutreten. Durch die Wahrnehmung von Dingen, die uns schön vorkommen, überschreiten wir die Grenzen des gewöhnlichen, geschlossenen alltäglichen Selbst, wir öffnen uns den (schönen) Dingen. Schönheit erlaubt uns, durch Einwirkung der Form, Transzendenz frei, vorübergehend und ohne praktischen Bezug zu erleben.
Prof. Dr. Raoul Eshelman, Professor für slawistische Literaturwissenschaft und Autor von »Die Rückkehr des Glaubens«.