Verändert Spiritualität die Wissenschaft?

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 17, 2017

Mit:
Lars Jaeger
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Eine Anfrage an das Buch »Wissenschaft und Spiritualität« von Lars Jaeger

Das Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität ist wohl eines der großen Themen, das unsere Zukunft bestimmen wird. Lars Jaeger hat mit seinem Buch dazu eine beeindruckende Darstellung geliefert. Allein sein Kenntnisreichtum der Wissenschaftsgeschichte, der grundlegenden wissenschaftlichen Fragestellungen und ihres Verhältnisses zu einer modern verstandenen Spiritualität machen die Lektüre des Buches zu einer lesenswerten Odyssee durch Wissenschaft und Spiritualität. Und trotzdem – das Buch hinterlässt auch ein großes Unbehagen. In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Spiritualität?

Unser Verständnis von Wissenschaft wird heute, außer von religiösen Fundamentalisten und Romantikern, selten infrage gestellt. Aber sollte die Begegnung von Wissenschaft und Spiritualität, die wir heute neu erleben, nicht auch die Wissenschaft verändern? Eigentlich ist Spiritualität eine radikale Phänomenologie unseres Bewusstseins. Im tiefen, wachen Blick nach innen, in die tieferen Dimensionen unseres Bewusstseins, zeigt sich ein anderer Blick auf die Welt. Manche Meditierende würden es so beschreiben, dass Bewusstsein sich seiner selbst bewusst wird. Hier zeigen sich Erfahrungen, die auch von den kontemplativen Praktiken der Religionen beschrieben wurden, aber heute auch außerhalb religiöser Bindungen neu verstanden werden. Sollte eine solche »innere Wissenschaft« nicht auch unser naturwissenschaftliches Verständnis der Welt verändern? Lars Jaeger geht nicht diesen Weg. Er kritisiert einige Prämissen der Wissenschaft, die klassische Trennung von Subjekt und Objekt. Die naturwissenschaftliche Methode selbst stellt er nicht infrage. So bleibt die Mathematik bei ihm »die ultimative Form der wissenschaftlichen Weltbeschreibung«. Viele werden ihm zustimmen, aber eine radikale innere Phänomenologie stellt genau hier kritische Fragen. Wenn man nur das Berechenbare als Wirklichkeit anerkennt, dann verändert das die Art und Weise, wie wir die Welt sehen. Viele Probleme unserer Kultur wurzeln in diesem verarmten Blick. Wir überlassen den tieferen Blick oft den Poeten und Romantikern. Dabei ermöglicht gerade die mitteleuropäische Tradition der Geisteswissenschaft, eine andere, tiefere Form von Wissenschaft zu denken. Und dieses Denken geht uns alle an: Besitzt zum Beispiel das Mysterium der Welt eine Erhabenheit? Laut Lars Jaeger ist es okay, Erhabenheit zu empfinden, aber es ist eine persönliche, private Empfindung. In der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit haben solche Begriffe nichts verloren. Genau diese Trennung verhärtet unser Bild von der Welt. Hier drückt sich ein Grundempfinden unserer modernen Zeit aus, auch ihre Kälte und manchmal ihre Verlorenheit. Wenn wir unsere spirituellen Erfahrungen empirisch genauso ernst nehmen, wie die Dinge, die wir durch ein Mikroskop betrachten, zeigt sich vielleicht eine neue Dimension von Wissenschaft, welche die einseitige naturwissenschaftliche Betrachtung in ihren Grenzen und in ihren Defiziten sichtbar macht. Diesen Schritt macht Lars Jaeger nicht.

¬Spiritualität ist eine radikale Phänomenologie unseres Bewusstseins. ¬

Er kritisiert einige Grundvorstellungen der europäischen Philosophie, z. B. dass alle Dinge eine eigene Substanz haben, und setzt dem eine systemtheoretisch verstandene buddhistische Perspektive entgegen, in der alles einander bedingt. Das naturwissenschaftliche Weltbild selbst stellt er nicht infrage. Seine Verbindung von Neurowissenschaft, Quantenphysik und buddhistischer Achtsamkeit teilt er mit populären atheistisch-spirituellen Autoren, wie dem amerikanischen Neurowissenschaftler Sam Harris. Beide verbindet auch, dass es »weder ein Ich noch einen freien Willen« gibt.

Lars Jaegers Verständnis einer neuen Spiritualität zeigt sich auch in seiner Neuinterpretation vom Anfang des Johannesevangeliums. Statt »Am Anfang war das Wort« übersetzt Lars Jaeger »Am Anfang war die Information«. Auch hier bettet sich Spiritualität in eine naturwissenschaftliche Weltsicht ein. Vielleicht sollte sie diese aber auch neu herausforden.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Teile diesen Artikel: