Im Spektrum: Verantwortung tragen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

April 16, 2020

Mit:
Claudine Villemot-Kienzle
Aunkh H Chabalala
Lene Rachel Andersen
Daniel Görtz
Dr. Otto Laske
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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In diesen herausfordernden Zeiten sind wir alle aufgefordert zu reifen, in unseren Beziehungen, bei der Arbeit, aber auch bei sozialen Interaktionen. Wir haben fünf Menschen, die sich in verschiedenen Bezügen dem Thema Reife stellen, gefragt:

Was braucht es von uns, damit wir heute auf reife Weise Verantwortung übernehmen können?

Claudine Villemot-Kienzle

Wenn ich an Reife denke, fällt mir saftiges, aromatisches, wohlschmeckendes Obst mit einzigartigen Schönheitsfehlern ein. In unserer modernen Welt ist natürlich gereiftes Obst eine Seltenheit. Zu früh geerntet präsentiert es sich geschmack- und geruchlos, in einheitlicher Optik, außen hart, innen manchmal zu weich. Dem Reifungsprozess wurde die Zeit gestohlen. Zeit, die das Obst braucht, um in seinem natürlichen Rhythmus durch verschiedene Phasen des Wachstums zu gehen, um schließlich zur vollen Reife zu kommen. Auch wir Menschen brauchen Zeit, um unsere unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu durchschreiten. Kinder, die der Lebenskontext nötigt, vor der Zeit erwachsen zu werden, berauben wir wert- und sinnvoll notwendiger Erfahrungen für ihr Heranreifen. Bei Kulturen, denen wir ein eigenes Entwicklungstempo absprechen, und z. B. unsere westliche Form der Demokratie unbedacht aufzwingen, beobachten wir Chaos, Regression und das Auftauchen ungesunder Strukturen und Führung. Jede Entwicklungsstufe stellt ein wunderbares Potenzial einzigartiger menschlicher Erfahrungen und Qualitäten dar. Kronos als lineare Zeit und Kairos als Zeitqualität ermöglichen uns, uns in immer komplexeren und vielfältigeren Dimensionen unseres Seins zu erproben, neue Facetten zu entdecken. Mit dem Erleben und Integrieren dieser unterschiedlichen Seins-Ebenen erweitern wir unsere Möglichkeiten, gewinnen an Bewusstheit, Selbstverantwortung und innerer Reife. Diese Eigenschaften sind Voraussetzungen für das umsichtige Übernehmen von Verantwortung im Außen.

Claudine Villemot-Kienzle arbeitet als Social Architect für werteorientierte und transkulturelle Designs, sie ist Lehrbeauftragte für Spiral Dynamics integral.

Aunkh H Chabalala

Das Wort Reife hat für viele Menschen eine unterschiedliche Bedeutung. Reife bedeutet in diesem Beitrag »vollkommen integriert, miteinander verbunden, aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen zu sein«. Im Afrikanischen Kontext korrespondieren diese Qualitäten mit dem Archetypus Ma’at und dem Prinzip von uBuntu, dessen zeitlose Wahrheit besagt: »Du bist ein selbstermächtigtes Wesen, und ich bin ein selbstermächtigtes Wesen, deswegen bist du, weil ich bin und ich bin, weil du bist.« Daher bedarf es unserer grenzenlosen Liebe, einer Kultur des Teilens, einer authentischen Wechselseitigkeit, damit wir ein vollständiger Ausdruck von uMuntu, einem bewussten Wesen, sind.

In diesen herausfordernden Zeiten ist es wesentlich für uns zu erkennen, dass wahre Reife in unserem gemeinsamen Schicksal liegt, im miteinander verwobenen Sinn und der ewigen Einheit. Durch das Meistern der zeitlosen Praxis der »Ausrufung der Unschuld«, die uns daran erinnert, »keinem anderen etwas zuzufügen, was wir nicht wollen, dass man es uns antut«, werden wir sehen, dass unsere unreife Kultur der Spaltung und des nationalen Narzissmus sowie alle Formen des von Menschen gemachten Leidens vergehen werden – für immer. Es braucht keine Not, damit wir reifen. Aber wir brauchen vielleicht ein winzig kleines Wesen wie das Corona-Virus, das uns als Individuen, Familien, Nationen und gesamten Planeten dazu zwingt, zu kooperieren und zusammenzuarbeiten – um uns auf diese Weise dazu zu bringen, in unserem Handeln die Kraft einer universellen Reife oder uBuntu zum Ausdruck zu bringen.

Dr. Aunkh H Chabalala, Epidemiologie, naturheilkundlicher Arzt in Südafrika.

Lene Rachel Andersen

Reife bezieht sich auf unser Verantwortungsgefühl, unsere emotionale Tiefe und Komplexität, und ich bezweifle, dass sich dies grundsätzlich verändert hat oder sich ändern wird. Denken Sie an das »emotionale Genie«, welches das Buch »Prediger« im Alten Testament schrieb; wir sollten nicht erwarten, dass solche Reife häufig übertroffen wird – weder die Reife der 18-jährigen Mary Shelley, die »Frankenstein« schrieb, noch die Reife des Staatsmannes Nelson Mandela. Was sich geändert hat, ist der Umfang der Dinge, für die wir Verantwortung tragen, die Größe der Gemeinschaften, denen wir verpflichtet sind, der verantwortliche Umgang mit dem Internet und unserer natürlichen Umwelt. Zudem werden diese Formen von Verantwortlichkeit von jedem erwartet. Wir können diese Verantwortung nicht ignorieren und erwarten, dass eine Autorität oder andere Menschen unseren Beitrag übernehmen. Der Weg ist Bildung, was auch bedeutet, dass die eigene Weltsicht und die eigenen Werte immer wieder herausgefordert werden. Das kann schmerzhaft, aber auch freudvoll sein. Meine konkrete Empfehlung wäre: Lesen Sie die Bücher »Prediger«, »Frankenstein« und Mandelas »Der lange Weg zur Freiheit« und stellen Sie sicher, dass Sie beim Lesen tief reflektieren und mit anderen Leuten darüber diskutieren.

Lene Rachel Andersen ist Ökonomin, Mitgründerin des Think-Tanks Nordic Bildung und Autorin von »Metamodernity«.

Otto Laske

Einer der wichtigsten Befunde der empirischen Untersuchungen zur lebenslangen Entwicklung ist, dass Reife zu erlangen, ein durch Selbsthilfe und Unterricht nur beschränkt erreichbares Ziel ist. Entwicklung im strengen Sinne ist nicht etwas, das Menschen selbst »tun« können, sondern etwas, das weitgehend unbewusst über die Lebensspanne hin in Stufen und Phasen geschieht, und zwar aufgrund der einzelnen verfügbaren sozial-emotionalen und kognitiven Ressourcen einerseits und der herrschenden Lebensbedingungen andererseits.

Jedoch hat sich inzwischen empirisch herausgestellt, dass Reife mit Verlust von Egozentrizität gleichzusetzen ist, und dass sozial-emotionale und kognitive Reifeniveaus einer Person sich beeinflussen. Ein weiterer Befund ist, dass die Stärkung komplexen, dialektischen Denkens so früh wie möglich im Leben einen messbaren guten Einfluss hat. Dies gilt besonders in Bereichen des Lebens und der Arbeit, des Tuns und des Lassens.

Die Frage danach, was zu tun sei, um Verantwortung zu übernehmen, hat für mich in diesem Kontext mit der Frage zu tun, wie weit jemand seiner/ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe nach vier Aspekten der Begegnung mit der Realwelt, dem Gesamtbild der sozialen und physischen Realwelt (big picture), emotional und rational gerecht werden kann: der unaufhörlichen, inneren und äußeren Veränderung dieser Welt; der inhärenten Verbundenheit von scheinbar Getrenntem in dieser Welt (common ground of opposites); der unaufhörlichen Transformation der eigenen Lebenswelt als Grundlage der Einstimmigkeit mit sich selbst in einer sich stets transformierenden Umwelt; und schließlich diese Aspekte als Maximen des eigenen Tuns verstanden.

Dr. Otto Laske ist Begründer des entwicklungspsychologischen Ansatzes Constructive Developmental Framework und des Interdevelopmental Institute.

Daniel Görtz

Die »Zukunft der Menschheit« liegt nicht notwendigerweise mehr rechts oder links im politischen Spektrum, noch liegt sie in mehr Freundlichkeit oder einer Art »Erwachen«. Sie ist eher eine graduelle Kultivierung von komplexeren, feineren und aufmerksamer miteinander verbundenen Perspektiven und Ideen. Mit anderen Worten: Menschen müssen darin unterstützt werden, sich selbst – spontan und je nach individuellem Ausdruck – in eine komplexere und harmonischere Form ihrer Persönlichkeit und Weltsicht zu entwickeln. Das Schwierige dabei ist, dass diese Entwicklung bedeutsame Ressourcen erfordert, um sich bestmöglich zu entfalten: Sie verlangt Zeit, Anstrengung, Aufmerksamkeit und Wissen. Heute werden diese Anliegen nicht zu politischen Zielen, die mit einem bedeutsamen Teil des Nationaleinkommens der entwickelten Länder ernsthaft angegangen werden. Das Ergebnis ist eine psychologisch, kognitiv und emotional chronisch unterentwickelte Bevölkerung. Das kann sehr wohl zu Katastrophen führen, gerade wo die Komplexität unserer Gesellschaften sich in neue Höhen schraubt. Mit zu großer technologischer Macht und zu geringer psychologischer Entwicklung neigen wir dazu, mit Frustration und Angst auf die scheinbaren Schwierigkeiten der Welt zu reagieren.

Deshalb sollte die innere Entwicklung oberste Priorität haben. Aber sie ist keine trockene Angelegenheit komplexer kognitiver Modelle. Entwicklung wird oft möglich, wenn Probleme ausgeräumt werden, welche die menschliche Entfaltung einschränken: Traumata, einengende Beziehungen, alte Gewohnheiten, negative Emotionen, mit denen nicht angemessen umgegangen wird. Wenn wir allgemein die innere Entwicklung, geistige Gesundheit und das Wohlergehen priorisieren, unterstützen wir die Entwicklung von umfassenderen Perspektiven am ehesten. Menschen, die sich sicher und geborgen fühlen, sind auch eher neugierig und aufgeschlossen, und genauso gewinnen, meistern und koordinieren wir neue Perspektiven.

Dr. Daniel Görtz ist als Philosoph und Soziologe ein Vordenker der Metamoderne. Gemeinsam mit Emil Ejner Friis publiziert er unter dem Pseudonym Hanzi Freinacht.

Author:
evolve
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