Verbundenheit mit dem Lebendigen

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

November 6, 2020

Mit:
Rüdiger Sünner
Claude ­Lévi-Strauss
Hildegard von Bingen
Annette von Droste-Hülshoff
Dr. Thomas Steininger
Dr. Andreas Weber
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Eine Besprechung des Films »Wildes Denken« von Rüdiger Sünner

Der Filmemacher Rüdiger Sünner erlebte sein Studium an der Freien Universität Berlin Ende der 70er- Jahre in seiner abstrakten Rationalität als einseitig. Einen Ausgleich entdeckte er damals bei Streifzügen direkt in der Nähe der Uni im Ethnologischen Museum. Hier wurden andere Seiten in ihm angesprochen: die Sinne, die Übersinnlichkeit und der Künstler. Sünner tauchte beim Betrachten der Exponate in eine Welt der Bilder, Imaginationen, Empfindungen und persönlichen Erfahrungen ein, größtenteils von Stammeskulturen in Nord- und Südamerika, Afrika oder Asien. Ein Buch des Ethnologen Lévi-Strauss schließlich, das in seiner Studienzeit häufig gelesen wurde, half ihm dem – wie er es nennt – »Wilden Denken« neben unserer Rationalität einen eigenen Wert einzuräumen: »Das Denken im wilden Zustand blüht in jedem menschlichen Geist, zeitgenössisch oder alt, nah oder fern«, so Lévi-Strauss.

In seinem neuen Film »Wildes Denken« (und dem dazu erschienenen gleichnamigen Buch) begibt sich Sünner knapp 50 Jahre später auf eine Spurensuche. Was ist das wilde Denken, das die Exponate im Ethnologischen Museum in ihm weckten? Er untersucht es auf Reisen in verschiedene indigene Kulturen, und man pirscht sich als Zuschauer gemeinsam mit ihm an. Einzelne Themenkomplexe werden nacheinander beleuchtet: Heilige Elemente, Heilige Bäume, Heilige Tiere, Die Welt der Geister, Die Reise der Seele. Alles hinterlässt beim Zuschauen Spuren und Eindrücke, lässt sich aber nicht wirklich einfangen und bleibt von seinem je eigenen Geheimnis umgeben.

DAS DENKEN IM WILDEN ZUSTAND BLÜHT IN JEDEM MENSCHLICHEN GEIST. 

In der Weltdeutung des wilden Denkens ist die Natur beseelt, und das gilt nicht nur für die Menschen und Tiere, sondern auch für die Pflanzen, Berge und Flüsse und selbst die Steine. Kommunikation ist möglich. Der Film zeigt einen jungen Krieger im brasilianischen Urwald, der mehrere Dutzend Tiersprachen beherrscht, auf die die Tiere antworten. Nach seinen Begegnungen mit den Vorstellungen indigener Völker legt der Filmemacher im quirligen postmodernen Berlin eine Pause ein und fragt sich, was das Wilde Denken dem Großstädter von heute zu sagen hat.

Im zweiten Teil des Films sucht Sünner nach Spuren des wilden Denkens in der europäischen Geschichte. Beginnend bei steinzeitlichen Höhlenmalereien führt ihn seine Reise zu der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen. Die Seherin hatte wunderschöne kosmische Visionen, deren Leuchtkraft auch in Sünners filmischer Darstellung tief berührt. Weiter geht es zu den Romantikern Annette von Droste-Hülshoff und Friedrich ­Hölderlin. Der Film endet schließlich bei jungen Aktivist*innen im Hambacher Forst, die unbequeme Fragen zur Zerstörung der Erde stellen.

Der Film selbst scheint im Stil des wilden Denkens gestaltet und ruft Bilder und Imaginationen wach. Daneben stehen rationale und erfahrungsbasierte Annäherungen. Der Philosoph Thomas Steininger versucht zum Beispiel zu erklären, warum ein Fluss wie der Ganges für ein ganzes Volk heilig ist, oder der Philosoph und Biologe Andreas Weber bestätigt seine Erfahrungen mit Geistern. Dennoch muss sich vieles unserem Verständnis entziehen, weil wir uns nicht in den mythologischen Vorstellungswelten bewegen, in denen die Stammeskulturen ihre Erfahrungen machen, sondern die Dinge von unserem eigenen postmodern geprägten Weltverständnis betrachten, das vielleicht bestimmte Erfahrungen gar nicht mehr zulässt, weil es sie nicht geben darf.

Beim Zuschauen wird das wilde Denken geweckt. Man bleibt mit den Bildern zurück, selbst aufgerufen, diese ins eigene Leben zu integrieren und sich so als rationaler Mensch zu vervollständigen. Die mahnenden Bilder der jungen Aktivist*innen im Hambacher Forst zeigen die Dringlichkeit: Wir müssen die Verbindung zu Mutter Erde und die uns umgebende, in uns lebendige Natur wieder herstellen. Und das geht über die Sinne, das Denken und umfassend über die spirituelle Einheitserfahrung. 

Author:
Elke Janssen
Teile diesen Artikel: