Verkörperter Wandel

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

April 11, 2022

Mit:
Heike Pourian
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AUSGABE:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
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Über das Buch »Wenn wir wieder wahrnehmen – Wach und spürend den Krisen unserer Zeit begegnen« von Heike Pourian

Viele Menschen sprechen vom notwendigen öko-sozialen Wandel unserer Gesellschaft, hin zu mehr Verbundenheit, Achtsamkeit, Respekt vor unserer lebendigen Mitwelt, der Weiterentwicklung demokratischer Prozesse zu mehr Partizipation, einer bewussten Gemeinschaftskultur, die soziale Räume als schöpferische Quelle von neu entstehenden Ideen und Einsichten praktiziert.

Heike Pourian hat so etwas wie ein Arbeitsbuch für diese Transformation geschrieben, die sich in uns selbst, zwischen uns und in unseren sozialen Beziehungen vollziehen kann. Es ist ein Buch, das die Qualitäten dieses Wandels schon in seiner Form verkörpert. Der Schreibprozess war eingebettet in ein unterstützendes Team, das auch die letztendliche Form hervorbrachte. Der Text tritt mit den eindrucksvollen Illustrationen von Sibylle Reichel in einen subtilen Dialog. Herausgegeben von Ideen3, einer jungen Bildungsinitiative, gedruckt von der Druckerei Gugler nach nachhaltigen Maßstäben, vertrieben von einer Community, ohne festen Preis. Auf der Webseite des Buches findet man Ansprechpartnerinnen, bei denen man das Buch nach Bestellung abholen kann. So entsteht Begegnung, Beziehung. Und das ist auch ein grundlegendes Anliegen von Heike Pourian.

So wie ihr Buch schon in seiner Form eine lebendige Beziehungskultur ausdrückt, schöpft auch der Inhalt aus der Beziehungsfülle. Heike Pourian arbeitet seit vielen Jahren mit Contact Improvisation und neuen Räumen der Berührbarkeit und Körperlichkeit. Diesen Erfahrungsschatz wendet sie nun an, um die Transformation unseres Menschseins aus einer entwickelten Fähigkeit des Wahrnehmens, Spürens und der Beziehung anzusprechen.

Ihre grundlegende Diagnose ist, dass wir wahrnehmungstaub geworden sind, dass wir uns selbst, unsere Mitmenschen und alle anderen lebendigen Mitwesen nicht mehr wirklich wahrnehmen. Wir sind in einer Wahrnehmungskrise. Für Pourian hat das viel mit unserer verlorenen Beziehung zu unserer Körperlichkeit zu tun und sie möchte uns die Berührungskraft unserer somatischen, verkörperten Existenz bewusst machen.

Sie schöpft dabei aus ihrer langjährigen Erfahrung in der Gestaltung von Räumen der Verkörperung, wobei sie sich an einem bestimmten Punkt entschloss, diese Praxis als eine Form des »spürenden Aktivismus« zu verstehen und zu erproben. So hat sie das Projekt »Standing with the Earth« gegründet, bei dem Menschen an öffentlichen Orten still die Verbundenheit mit der Erde bezeugen, oder das Projekt »Sensing the Change«. Hier werden Begegnungsräume geschaffen, die Heike Pourian als »sozialen Uterus« versteht, ein Schöpfungsorgan, in dem gesellschaftlicher Wandel spürend geboren wird.

¬ WICHTIG SIND BEGEGNUNGSRÄUME, DIE ALS »SOZIALER UTERUS« WIRKEN. ¬

Das tiefe Wahrnehmen durchzieht das Buch, Heike Pourian spricht aus ihrer eigenen Berührbarkeit, ihren Fragen, ihrem Suchen, ihrer Sehnsucht. Es enthält zahlreiche Geschichten über eigene Erlebnisse aus ihrem Leben und ihrer Arbeit, die sie für die verschiedenen Themen fruchtbar macht. Dabei kommt man der Autorin sehr nah, geht mit ihr. Im Text sind immer wieder Fragen an den Leser eingefügt, Zeit zum Nachspüren. Leere Seiten laden zu eigenen Reflexionen ein, in eigens gekennzeichneten Texten werden Grundbegriffe und Theorien des Wandels geklärt, zwischen den Kapiteln gibt es einen Text, der sich in den Raum zwischen den Polen wagt, wie dem Alten und Neuen, Immer schlimmer und Immer besser, Richtig und Falsch, den Kleinen Schritten und Großen Visionen. Diese Texte bringen ein Grund­anliegen des Buches zum Ausdruck: in dieser Schwellenzeit eine Orientierung zu bieten. Dazu führt es auch in viele Ansätze des Denkens und Handelns ein, wie Tiefenökologie, integrales Denken, Theorie U, partizipative Demokratie, Bindungstheorie, neue Kommunikations- und Dialogformen.

So verbindet das Buch das spürende Wahrnehmen, die Erweiterung unserer Denkweisen und das konkrete Handeln in der Welt, das anders sein wird, wenn es aus dem Spüren und einem geweiteten Bewusstsein kommt. Es ist ein Aufruf, sich selbst am Wandel zu beteiligen, der Wandel zu sein. Aber nicht (nur) als moralische Aufgabe, sondern spielerisch, mehr-perspektivisch, fließend zwischen den Ebenen, lebendig wahrnehmend, in Beziehung, tänzerisch. Das Buch ist, so könnte man sagen, mehr ein Spielbuch: eine Einladung, die eigene verkörperte Lebendigkeit neu zu beleben, um in Verbundenheit mit der Welt Lebendigkeit zu stiften. »Könnte es sein«, so ­Pourian, »dass dem Sinnlichen, Genussvollen und Spielerischen unsere größte politische Kraft innewohnt? Was ändert sich, wenn wir uns der Vorstellung öffnen, das, was uns wirklich nährt und lebendig macht, könne der Urboden für die Gestaltung unseres Gemeinwesens sein?«

Author:
Mike Kauschke
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