Verstehen und Güte

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Projekt-Interview
Publiziert am:

January 31, 2019

Mit:
Bhagwan Raneesh
Sylvia Wetzel
Thubten Yeshe
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Sylvia Wetzels Weg zu einem zeitgemäßen Buddhismus

Ich will verstehen und ich will, dass es für alle gut ist« – dieser kurze Satz könnte das Lebensmotto von Sylvia Wetzel sein. Sie sagt ihn in einem Skype-Gespräch, bei dem ich sie im Garten ihrer Lebensgemeinschaft in der Nähe von Berlin erreichte, um über ihren Weg zu sprechen, der, so könnte man sagen, unter dem Zeichen von Weisheit und Mitgefühl steht – den beiden Grundtugenden buddhistischer Praxis.

Den Wunsch zu lernen spürte Sylvia Wetzel schon früh. Aufgewachsen im Schwarzwald, ihr Vater war Schreiner, ihre Mutter Gastwirtin. Sie wurde in der Schule gefördert und studierte Slawistik und Politologie für das Lehramt an Gymnasien. Aber das Studium an der Uni empfand sie zunehmend als zu eintönig. »Es gab eine Fülle von Details aber keine Zusammenhänge.«

Ende 1976 traf sie eine Freundin, die nach eineinhalb Jahren aus Indien zurückkam und wie verwandelt war. Viele ihrer Freunde waren damals zu Bhagwan Raneesh (Osho) nach Poona gegangen, aber diese Freundin hatte Zeit mit Lehrern des tibetischen Buddhismus verbracht und war erfüllt vom Bodhisattva-Ideal: die eigene spirituelle Entwicklung dem Wohle aller zu widmen. In einem Umfeld, das Sylvia Wetzel als sehr fragmentiert empfand, war das die Ahnung einer anderen Möglichkeit: »Diese Aufteilung in verschiedene Parteien war furchtbar; an meinem Institut gab es wohl die letzte rote Zelle Berlins, bevor auch sie sich spaltete in Marxisten, Leninisten, China-Orientierte, Moskau-Orientierte, Spontis usw. Alle wollten ihr eigenes Ding machen und waren immer gegen jemanden. Das merkte ich auch im damals aufsteigenden Feminismus; die männerfeindlichen Tendenzen darin mochte ich nicht.« In ihr Tagebuch schrieb sie damals: Ich möchte endlich für etwas sein.

Zu dieser Zeit war sie 28 Jahre alt und wusste noch nicht, in welche Richtung sie gehen wollte. Zwei Erlebnisse führten dazu, dass Sylvia Wetzel ihrem Leben eine radikale Wende gab. Ihr wurde eine feste Stelle als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache angeboten. Obwohl ihr diese Aufgabe gefiel, dachte sie: Wenn ich das mache, dann bleibe ich vielleicht bis zur Rente in dem Job und weiß nicht, worum es eigentlich im Leben geht. Ein weiterer Impuls war ein Science-Fiction-Film, in dem das Wasser New Yorks verseucht wurde und innerhalb einer Woche alle Menschen sterben würden. Sie fragte sich: Was würde ich machen, wenn ich noch eine Woche zu leben hätte?

Daraufhin ließ sie sich von der Freundin die Adresse der tibetischen Lehrer in Nepal und Indien geben und reiste nach einem enttäuschenden Zwischenstopp im kommunistischen China nach Dharamsala. Sie fühlte sich sofort am richtigen Ort: »Ich kam bei den Tibetern an und es ging zum ersten Mal seit meiner Kindheit um etwas Wesentliches. Sie stellten die Frage nach Leben und Tod, nach Sinn und der Verbundenheit mit allem. Ich spürte, mir hatte eigentlich die religiöse Dimension gefehlt. Es war ein emotionales und spirituelles Ankommen, und seither versuche ich zu verstehen, was da eigentlich passiert ist.«

Dort traf sie auch den Mann, der ihr Leben nachhaltig verändern sollte: Lama Thubten Yeshe (1935 – 1984). Sie erlebte ihn als einen Menschen, der im zwanzigsten Jahrhundert angekommen war und den Buddhismus in zeitgemäßer Weise für Westler vermitteln wollte: »Er sagte zu uns: ›Ich lehre euch gerne, was ich gelernt habe, aber ihr müsst herausfinden, was für euch im Westen passt.‹ Damit zog er eine ganz spezielle Gruppe von Menschen an, alle suchend und kreativ, widerspenstig, rebellisch und ein bisschen verrückt. Das gefiel mir.«

An der buddhistischen Lehre inspirierte sie die Ausrichtung der Praxis zum Wohle aller, die starke Wertschätzung des Verstandes im Erforschen der Lehren und ihre alltagspraktische Interpretation. Sie studierte in Dharamsala und im nepalesischen Kloster Kopan in der Nähe von Kathmandu. Bei ihrer wachsenden Liebe für den Buddhismus fragte sie sich aber auch, wie das darin gelehrte umfassende Mitgefühl zu den feudalen, patriarchalen Strukturen passte, die sie zunehmend bemerkte. Bei dieser Frage half ihr die Freundschaft zu einer Journalistin und linken Feministin aus Neuseeland, die auch in Dharamsala studierte und für sie zur ersten Lehrerin wurde und sie davon überzeugte, dass Menschen aus dem Westen auch westliche Lehrer und vor allem Lehrerinnen brauchen.

Nach zwei Jahren in Indien und Nepal kam sie wieder nach Deutschland zurück, unterrichtete zunächst wieder Deutsch als Fremdsprache und besuchte buddhistische Zentren in Europa. Ende 1980, ein Jahr nach ihrer Rückkehr, wollten Schüler von Lama Yeshe im niederbayerischen Jägerndorf in einer ehemaligen Schule ein neues Zentrum aufbauen. Da Sylvia Wetzel gut organisieren kann, schlug ihr Lama Yeshe vor, die Leitung des Zentrums zu übernehmen, das Kurse in Buddhismus, Psychologie und Selbsterfahrung anbot.

Nach einigen Jahren wollte sie ihre Praxis vertiefen und wurde buddhistische Nonne, merkte aber nach zwei Jahren, dass das nicht ihr Lebensstil war. »Die Leute idealisieren dich, wenn du in roten Roben herumläufst. Sie projizieren alles Mögliche auf dich – wie du sein solltest oder was du alles können solltest.«

Auch diese Erfahrungen führten sie dazu, die Frauen- und Männerrollen in unserer Gesellschaft und im Buddhismus noch tiefer zu hinterfragen, was zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit wurde. Wichtig wurden ihr dabei die Lehren über die Grüne Tara, die von den Tibetern in ihrem Weisheits-Aspekt als die Mutter aller Buddhas und in ihrem Handlungs-Aspekt als die Verkörperung des klugen Handelns aller Buddhas verehrt wird. Vor diesem Hintergrund begann sie auch die Formulierungen der buddhistischen Lehre auf ihr Menschenbild zu überprüfen. Sie verstand, dass es für Männer durchaus angemessen ist, den Fokus auf Liebe und Mitgefühl zu legen, hielt es aber für Frauen sehr viel wichtiger, ihre eigene Kraft zu spüren und einen klaren Standpunkt zu vertreten. Die Grüne Tara wurde für sie eine Möglichkeit, Frauen auf diesem Weg zu unterstützen.

Sie fragte sich: Was würde ich machen, wenn ich noch eine Woche zu leben hätte?

Sylvia Wetzel bezeichnete manchmal die genaue Erforschung der Geschlechterrollen als die fünfte Grundlage der Achtsamkeit, neben der traditionellen Vierer-Liste, der Achtsamkeit für den Körper, die Gefühle, die Grundstimmungen und die Gedanken. Sie stellte dann die These auf, dass Frauen und Männer drei Arten von Beziehungen zum eigenen und zum anderen Geschlecht brauchen: horizontale, vertikale und transzendentale. Für Frauen bedeutet das, horizontale Beziehungen zu Frauen auf Augenhöhe zu pflegen, um die Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe zu sehen, vertikale Beziehungen zu Frauen zu entwickeln, um die Kompetenz von Frauen wertzuschätzen und schließlich ein weibliches transzendentes Bild des Erwachens, wie die Grüne Tara, um letztendlich alle beschränkten Frauenbilder zu transzendieren. Um diese Reflexionen zu vertiefen und den Buddhismus nochmals »auf Herz und Nieren zu prüfen«, verließ Sylvia Wetzel Anfang 1989 das Zentrum Jägerndorf, lebte einige Jahre in Frankfurt, gab Kurse zum Buddhismus, war Vorstandsmitglied der Deutschen Buddhistischen Union und Mitbegründerin und Redakteurin der Zeitschrift »Lotusblätter«. Nach der Wiedervereinigung zog sie 1993 in die Nähe von Berlin und lebt dort mit zehn Frauen auf einem ehemaligen Bauernhof.

Als ich Sylvia Wetzel auf ihre Zukunft anspreche, kommt sie zu der Frage zurück, die sie vor 40 Jahren zum Buddhismus führte. Sie erzählt mir von einer Übung, bei der sie die Teilnehmer bat, sich vorzustellen, dass sie nur noch einige Jahre, Monate oder Wochen zu leben hätten. Sylvia Wetzel stellte sich dann diese Frage selbst und bemerkte, dass ihr neben den Kursen und Vorträgen vor allem das Schreiben wichtig ist. Mit dieser Arbeit möchte sie die Essenz ihres Lernens auf dem Weg weitergeben: einen kulturell und politisch reflektierten Buddhismus mit einem besonderen Augenmerk für unsere Geschlechterrollen, der den Zugang zur Tiefe unserer Existenz eröffnen kann.

Author:
Mike Kauschke
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