Verwundbarkeit und Sterblichkeit

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Kolumne
Publiziert am:

April 5, 2021

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Ausgabe 30 / 2021:
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April 2021
Kunst öffnet Welten
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Auf der Suche nach hilfreichen Metaphern für die Turbulenzen der letzten Monate stieg in mir das Bild eines Kaleidoskops auf. Die bunten, vielfältigen Bilder stammen von Glasstückchen und ihren Spiegelbildern, die symmetrische, sich verändernde farbige Muster erzeugen. Übertragen auf unseren jetzigen Kontext, tauchen Fragen auf wie » Was könnten uns die zahlreichen Facetten unserer kollektiven Herausforderungen spiegeln, was in unseren Systemen, Denk- und Verhaltensweisen, Weltanschauungen nicht mehr funktioniert? Was ist das Neue, das sichtbar werden will?«

Ein Thema, das meist in unserer westlichen Kultur im Dunkeln lauert, steht nun im Rampenlicht: unsere körperliche Verwundbarkeit, das Sterben und die tiefe Angst, die diese Realität in uns auslöst, wenn sie unmittelbar und alltäglich wird.

UNS UNSERER VERWUNDBARKEIT UND STERBLICHKEIT ZU STELLEN, BIRGT EIN POTENZIAL.

Es wird spürbar, dass wir als Kollektiv diesem ontologischen Faktum mit großer Hilfslosigkeit begegnen. In einer Kultur, wo wir dem Beherrschen der Materie, inklusive unserer Körper, durch den wissenschaftlichen Fortschritt einen hohen Wert beimessen, zeigt sich, dass dieses Paradigma an seine Grenzen kommt. Das Gefühl der Ohnmacht, das sich mit der Erfahrung unserer Verwundbarkeit und des damit empfundenen Kontrollverlusts einstellt, kleidet sich in Verdrängung, Polarisierung, Aktivismus oder Lähmung. Die Moderne, mit ihren großartigen Errungenschaften im Bereich der Medizin und dem noblen Anspruch, vom physischen Leid zu befreien und das irdische Leben zu verlängern, erfährt Krankheit und Tod als ein Scheitern. Direkt erfahrbar wird das auch im Alltag. Meine Freunde, deren Wertesystem in der Moderne verankert ist und die krank werden, überspielen oder verharmlosen ihren Zustand und wechseln das Thema. Ich nehme Unbehagen, sogar Schamgefühle wahr. Hingegen wird das Gesundbleiben als persönlicher Erfolg gebucht. In einer leistungsorientierten Gesellschaft entsteht ein Wettbewerb um die geringste Krankheitsquote.

Wenn die Angst schwer krank zu werden und zu sterben viel Raum in unserem Leben bekommt – auch unterbewusst –, werden bestimmte neuro-biologische Prozesse aktiviert. Unser Vermögen, klar, komplex und differenziert zu denken, schwindet. Untersuchungen zeigen, dass auch unsere Fähigkeit zum Mitgefühl blockiert wird. In diesem Zustand sind wir besonders manipulierbar und wir verlieren innere Freiheit. Die Verdrängung und Tabuisierung unserer Sterblichkeit durch die Moderne hält die Illusion aufrecht, dass Experten jegliche gesundheitliche Bedrohung in den Griff bekommen können, und wirkt einem offenen, mündigen Dialog über Tod und Sterben entgegen. Damit verrät die Moderne zwei ihrer wertvollsten, schwer erkämpften Werte: Autonomie und Vernunft.

Uns unserer Verwundbarkeit und Sterblichkeit zu stellen, birgt ein Potenzial. Mit dem Aufheben des Tabus würden wir angstfreier, selbstverantwortlicher und kreativer lernen, mit dieser der menschlichen Natur innewohnenden Realität zu leben.

Was brauchen wir, um Krankheit und Sterblichkeit in unser Leben zu integrieren? Innere Räume, wo unsere ­Todesängste sich zeigen dürfen und wir uns ihnen urteils­frei und mitfühlend stellen. Vielleicht lassen sie sich in Bedürfnisse übersetzen, die wir adressieren können. Wir können sie auch einfach betrachten und würdigen als einen evolutionären Urinstinkt, der eine bedeutende Schutzfunktion für unser Überleben in dieser Welt erfüllt.

Ebenfalls hilfreich sind äußere Räume des Austausches, wo unsere Ängste mit Achtsamkeit aufgenommen werden. In dem Sichtbar- und Aussprechbar-Werden verlieren die Todesängste ihre Allmacht. Damit bewahren wir einen differenzierten und klaren Geist und die Fähigkeit, uns mitfühlend mit uns selbst, unseren Mitmenschen und den Herausforderungen zu verbinden.

Zudem fördert der Bewusstseinswandel von der Moderne zur Postmoderne die Akzeptanz von Krankheit und Tod. Die mechanistische Wahrnehmung des Körpers als Maschine, die funktionieren soll, weicht einer liebevollen Beziehung zu einem hochintelligenten, mitfühlenden, komplexen Organismus. Wir vertrauen wieder den Fähigkeiten des Körpers zur Selbstregeneration und übernehmen Selbstverantwortung für unsere Gesundheit. Diese Haltung macht uns als Gesellschaft kollektiven Gesundheitskrisen gegenüber resilienter.

Das Kaleidoskop schenkt uns eine weitere Metapher. Wir erkennen in der scheinbaren Fragmentierung der Außenwelt Zusammenhänge und Wechselwirkungen und lassen damit sinnhafte Muster entstehen. Es liegt an uns, in unserer Art der Betrachtung, ob wir ein kreatives Potenzial und Gelegenheiten erahnen oder nur Zusammenbrüche und Verlust wahrnehmen. Und vielleicht gelingt es uns, mitten in der Verunsicherung und den Polarisierungstendenzen das Schöne, Gute und Wahre zu erspüren, das sich offenbaren will.

Author:
Claudine Villemot-Kienzle
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