Vielfalt feiern

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Interview
Publiziert am:

July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Die Kunst, sich mit dem Anderen zu verbinden

Mit ihrem Projekt »New Visions« nutzen Liene Jurgelane und Agnieszka Bulacik ihre Erfahrung in der Kunstszene, um in diesem Bereich die Sensibilität für Diskriminierung zu schärfen und Wege zu mehr Diversität in Teams und Organisationen zu finden. Wir sprachen mit Liene Jurgelane über die Transformation zu mehr Vielfalt.

evolve: Wie würdest du die zentrale Intention und die Richtung eures Projektes beschreiben?

Liene Jurgelane: »New Visions« habe ich zusammen mit Agnieszka Bulacik initiiert. Wir arbeiten hauptsächlich mit Führungspersonen im Kunst- und Kultur-Bereich zusammen, um sie darin zu unterstützen, in ihren Organisationen mehr Diversität und soziale Gerechtigkeit zu integrieren und solche Themen auch in ihrer künstlerischen Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Auch im progressiven künstlerischen Milieu gibt es viele ungeklärte und unbewusste Machtverhältnisse zwischen Nationalitäten oder zwischen den Geschlechtern und im Umgang mit Minderheiten. Hier wollen wir zu einer bewussteren Kultur beitragen, denn solche künstlerischen Umfelder können zu Übungsfeldern einer neuen inklusiven Kultur werden.

Zu diesem Zweck beraten wir Organisationen und führen Workshops und Schulungen durch. So entwerfen wir zum Beispiel gerade ein Programm für Transformative Leadership für Frauen aus Osteuropa, die im Kunstbereich tätig sind. Darüber hinaus organisieren wir Veranstaltungen und offene Gesprächsräume über Themen wie soziale Gerechtigkeit, Inklusion und Gleichberechtigung.

e: Setzt ihr bei dieser Arbeit spezielle Praktiken, Prozesse oder Methoden ein?

LJ: In unserer Arbeit wollen wir ein ganzheitliches Verständnis des Menschen unterstützen. Wer auch immer zu unseren Workshops oder Veranstaltungen kommt, wird als ganzer Mensch mit seinen Empfindungen und seinem Körper wahrgenommen. Deshalb beziehen wir emotionales oder körperbezogenes Lernen mit ein, um verschiedene Arten des Wissens anzusprechen. Auch die kreative Vorstellungskraft spielt eine zentrale Rolle in unserer Arbeit. Wir müssen uns andere Realitäten und Szenarien vorstellen können, um sie umzusetzen. Deshalb integrieren wir auch spielerische Übungen, die unsere Fantasie anregen.

Dieser ganzheitliche Blick auf den Menschen kommt aus einer Haltung der fürsorgenden Zuwendung und des Respekts, man könnte sagen der Liebe, die wir durch verschiedene Interventionen unterstützen möchten. In einigen der Workshops laden wir die Menschen ein, sich eine Minute lang schweigend anzuschauen. Für viele ist es schon ziemlich herausfordernd aber auch transformierend, einem anderen Menschen sechzig Sekunden lang ins Gesicht zu sehen. Die Gespräche, die danach geführt werden, sind plötzlich ganz anders. Es entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wenn wir wahrnehmen, dass wir aus unterschiedlichen ethnischen, familiären und sozialen Hintergründen kommen, durch die wir nur einen Teil der Wirklichkeit sehen. Wenn wir die andersartigen Erfahrungen der Menschen verstehen, mit denen wir zusammenarbeiten, entsteht Verständnis.

WIR MÜSSEN UNS ALLE HINTERFRAGEN, WENN WIR WIRKLICH MITEINANDER REDEN WOLLEN.

Oft arbeiten wir auch mit konkreten Geschichten, indem wir sie mit Elementen aus dem Theater darstellen. Wenn es zum Beispiel die Situation gibt, dass jemand in einem Meeting einen rassistischen Witz in die Runde wirft, kann das eine starke Wirkung haben, die man aber nicht beachtet. Solch eine Situation spielen wir, damit die Leute sie als Beobachter sehen können. Und dann bitten wir diese Beobachter, uns zu sagen, was sie verändern würden, was sie tun würden, wenn sie derjenige wären, den der Witz betrifft oder eine der Teilnehmerinnen des Meetings. Wir laden die Leute ein, sich in diese Szene zu begeben und verschiedene Reaktionen auszuprobieren. Was geschieht zum Beispiel, wenn man in diesem Moment nicht lacht? Es kann ermächtigend sein, wenn man merkt, dass man allein durch das Erheben der eigenen Stimme oder durch Stillsein eine Situation verändern kann. Das ist möglich in einem sicheren Rahmen, den man im normalen Leben nicht hat, um verschiedene Szenarien durchzuspielen.

e: Kannst du eure Arbeit mit Organisationen und Künstlern an Beispielen verdeutlichen?

LJ: Ja, es gibt eine Organisation, mit der wir seit einiger Zeit zusammenarbeiten. Hier bestand das Problem, dass einige Mitarbeiter, die Minderheiten angehörten, die Organisation verließen. Sie äußerten ihre Sorgen, aber nichts veränderte sich. Unsere Zusammenarbeit mit der Organisation entstand aus einer Graswurzel-Initiative,die von Minderheiten innerhalb der Mitarbeiterschaft ausging. Wir schlugen eine längerfristige Zusammenarbeit vor, die damit begann, dass wir den Status quo erfassten, indem wir die demografischen Grunddaten, die Einflussbereiche und die Tätigkeitsarten der verschiedenen Mitarbeiter erfragten. Als Hauptproblem zeigte sich, dass die Führenden kein Bewusstsein für die Schwierigkeiten hatten, mit denen Minderheiten tagtäglich konfrontiert waren, wie ausschließende Sprache, sexuelle Übergriffe, diskriminierende, rassistische Witze. Wir führten eine Reihe von Workshops über inklusive und gleichberechtigende Führung durch, um das Bewusstsein für Diskriminierung zu schärfen und Handlungsoptionen zu finden.

Ein anderes Beispiel ist die Arbeit mit einem kleinen Künstlerkollektiv in Litauen, das in lokalen Gemeinden Kunstprojekte durchführt. Sie baten uns, ihnen einen Online-Workshop zu geben, um diese Arbeit zu vertiefen. Sie hatten den Eindruck, dass ihr Kontakt zu den Menschen in den Gemeinden eher an der Oberfläche blieb. Die Künstler wollten auch besser verstehen, was es bedeutet, aus einer gewissen Machtposition heraus auf die Menschen zuzugehen. In unserem Workshop ging es vor allem um Selbstreflexion, um die eigenen verborgenen Vorurteile aufzudecken. Wir baten die Künstler, in ihrem eigenen Leben Situationen zu finden, wo sie sich als Außenstehende gefühlt haben. Denn wenn man diese Erfahrungen innerlich nachvollziehen kann, ist es leichter, mit anderen Menschen Empathie zu empfinden. In dieser Reflexion sprachen wir auch darüber, mit welchen Absichten sich Künstler in die Arbeit mit Menschen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen begeben. Oder wir gingen der Frage nach, was die künstlerische Arbeit für die Gemeinden bringt oder ob es nur darum geht, etwas Exotisches in einer kleinen Stadt zu machen.

Kometa Academy, ein von New Visions kuratiertes Kunstprogramm bei einem Kulturfestival in Riga.

e: Was verändert sich durch diese Arbeit, was wird freigesetzt im Hinblick auf das kreative Potenzial von Einzelnen, Teams oder Gruppen?

LJ: Wenn die Organisation in Bezug auf politische, soziale Identitäten und individuelle Erfahrungshorizonte vielfältiger wird, zeigt sich in den Denkweisen und der Ideenfindung mehr Kreativität. Die Menschen wachsen aus einem Gruppendenken heraus. Und wenn sich die Mitarbeiter einbezogen fühlen, verbessert sich auch die gemeinsame Arbeit. Sie handeln engagierter und entwickeln eine Offenheit auch für schwierige Gespräche.

Wir glauben an diese Kraft, sich mit anderen zu verbinden und eine erlebte Gemeinschaft zu finden. Dieses Miteinander beeinflusst dann wiederum, welche Art von Kunst geschaffen und vermittelt wird und wie man mit dem Publikum im Kontakt ist. Es geht dabei nicht einfach um eine romantisierte Idee, Menschen zusammenzubringen, sondern auch um die Erkenntnis, dass wir uns alle hinterfragen müssen, wenn wir wirklich miteinander reden wollen. Wir alle haben Privilegien, deshalb müssen wir unbequeme, schmerzhafte Dekonstruktion und Lernarbeit leisten. Nur so verstehen wir, was es bedeutet, Weiß zu sein oder ein Mann zu sein – von welchen Privilegien auch immer wir sprechen. Dann ist es uns möglich, Wege zu finden, uns über diese Unterschiede hinweg zu verbinden und gleichzeitig Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Es geht nicht um den Glauben, dass wir alle eins sind und die gleichen Erfahrungen machen. Das tun wir nicht. Aber wir können uns durch die Unterschiede hindurcharbeiten und miteinander zu einer Wiederverbindung finden.

Author:
Mike Kauschke
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