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WIE EINE JUNGE BEWEGUNG UNSEREN KONTINENT VERÄNDERT
»Problemfall Europa« – so könnte man die gegenwärtigen Debatten wohl auf den Punkt bringen. Ohne die Zerreißkräfte, denen unser Kontinent gerade ausgesetzt ist, zu leugnen, sollten wir aber eine andere Seite der Realität nicht vergessen: die gelebte »Utopie Europa«.
Im Juni letzten Jahres begab sich der holländische Schauspieler und Aktivist Lucas De Man auf eine Reise durch Europa, um unseren Kontinent besser zu verstehen. Zusammen mit einem Journalisten, einem Dramaturgen und einem Kamerateam fuhr er in 30 Tagen quer durch Europa und sprach mit meist jungen Künstlern, Philosophen, Aktivisten, politisch oder sozial Engagierten. Inspiriert wurde er von den Ereignissen einer Zeit, als eine zahlenmäßig kleine »kreative Klasse« die Grundlagen einer neuen Welt legte: der Renaissance. Aus seinen Erlebnissen und Erkenntnissen machte er ein Theaterprojekt, mit dem er durch Europa tourt. Außerdem drehte er einen Dokumentarfilm, der im April Premiere hatte. Sein Projekt fragt nach dem möglichen Wandel in Europa, nach einer neuen Renaissance, es heißt »In Search for Europe«. Bezeichnenderweise sucht er dieses neue Europa nicht in Brüssel oder in EU-Kommissionen, sondern bei einer jungen, vernetzten Bewegung von Europaaktivisten, die heute schon die Fragen von morgen stellen. Und diese Bewegung ist Teil eines größeren Stromes, in dem Initiativen und Kreative nicht länger auf eine ungewisse Zukunft warten, sondern sich verbinden, um eine sinnerfüllte, wertegetragene, lebensverbundene Zukunft zu schaffen.
Aufbruch von unten
In der Diskussion um die deutsche Willkommenskultur, die vor einigen Monaten die Welt und nicht zuletzt uns Deutsche selbst überrascht hat, hat mich ein Kommentar besonders berührt. Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur des »Philosophie Magazins« schrieb: »Der Vitalitätszuwachs der vergangenen Monate, die Vielzahl von spontan gebildeten Netzwerken und Helfergruppen, die bevölkerungsweite Spenden- und Hilfsbereitschaft deuten das geradezu utopische Potenzial der Situation an: Es weist hin auf die Möglichkeit einer Gesellschaft dauerhaft tätiger Solidarität, in der kulturelle Unterschiede produktiv zur Selbstfindung jedes einzelnen Mitglieds beigetragen werden.« Damit sprach er ein Erwachen der Zivilgesellschaft und ein utopisches Potenzial an, das wir auch auf europäischer Ebene wahrnehmen können. Es ist ein »Vitalitätszuwachs«, den auch viele, meist junge Europabewegte spüren. Ihnen ist zum Beispiel der Autor Navid Kermani auf seiner Reise entlang der Balkanroute begegnet. Junge Menschen aus allen Teilen Europas und darüber hinaus machen dort den Großteil der freiwilligen Helfer aus. Er empfand sie als »total empathisch«. Entgegen den aufgeheizten Debatten in Medien und Talkshows sah er bei ihnen eine andere Haltung: »Die haben viele Fragen und tasten sich eher an eine Antwort heran. Ich eingefleischter Kulturpessimist erlebe das als ermutigend, das gibt richtig Kraft.« Diese Kraft können wir alle und kann Europa gerade gut gebrauchen.
In ihrem Buch »Warum Europa eine Republik werden muss!« beschreibt Ulrike Guérot, die Leiterin des European Democracy Lab, diesen jungen europäischen Aufbruch so: »Die europäische Jugend denkt darum gar nicht mehr daran, weiterhin viel Liebesmüh darauf zu verschwenden, die EU zu reformieren. Sie kehrt EU-Europa einfach den Rücken. Und macht Europa einfach anders: von unten, postnational, eingebettet in einen mehr oder weniger radikal anderen Lebensentwurf. Die buzzwords für ihren Stil und ihre Konzepte sind Gründerszene und post-party,Partizipation und activism, soziales Engagement und societal design.« Zu dieser jungen, zivilgesellschaftlichen Bewegung gehören Initiativen wie Re:generation Europe, das von Moritz Hartmann und Floris de Witte gegründet wurde, um Labore zu schaffen, in denen ein Dialog über die Zukunft Europas geführt werden kann. In einem Manifest, das in elf Sprachen übersetzt wurde, schreiben sie: »Wir brauchen die Politik für die Einlösung unserer Ideale, Ideen und Hoffnungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte in einem Europa, das wir gerade suchen müssen.« Und sie beschreiben die Lebenswirklichkeit einer Generation, die einer nationalstaatlichen Identität, die heute von der Politik wieder so hochgehalten wird, schon entwachsen ist: »Der Nationalstaat ist vielleicht der Aussteller unserer Reisepässe; Europa aber ist unsere Identität. Überall sind wir Europäer, auch auf kurzen Ryanair-Flügen. Wir feiern unsere Gemeinsamkeiten – und unsere Unterschiede. Wir sprechen in den Sprachen, die uns gerade in den Sinn kommen. Sogar zuhause sind wir deshalb Europäer. Unser Friseur ist aus Göteborg, die Bedienung in der italienischen Espressobar in Dublin kommt aus Venedig. Wir hören belgische Musik aus dem französischen Radio, während wir in Brno eine Pizza essen. Unser Wein ist portugiesisch, unser Käse aus Österreich. Unser Lieblingsfußballspieler ist in Gelsenkirchen geboren und spielt in Madrid, unser Professor in Budapest kommt ursprünglich aus Helsinki. Ein offenes und freies Europa war seit jeher der Traum von Generationen. Es ist unsere Realität.«
Vor allem für eine neue Generation von Erasmus-Studenten ist dieses neue Europa zum Bezugspunkt geworden. Sie engagieren sich in Initiativen wie Youth in Action Lab, European Way, EuroPeers oder den Jungen Europäischen Föderalisten, sie diskutieren auf Plattformen wie Civocracy oder Publixphere. Von ihnen kommt auch der Vorschlag #FreeInterrail, wobei allen EU-Bürgern zum 18. Geburtstag ein einmonatiger Gutschein für Bahnreisen kreuz und quer durch Europa geschenkt werden soll, finanziert aus EU-Mitteln. Die Idee ist, die grenzüberschreitende Realität möglichst vielen jungen Europäern erfahrbar zu machen, ungeachtet ihrer finanziellen Möglichkeiten. Denn natürlich gibt es auch eine Jugend Europas, die uns verloren zu gehen droht, die in ländlichen Gegenden oder Vororten in prekären sozialen Verhältnissen lebt und für radikale und einfache Lösungen, egal von welcher Seite, offen ist.
Die viel beschworene Einheit Europas kann nicht herbeigeredet werden und entsteht nicht durch grenzenlose Märkte, sondern vor allem auch durch menschliche Begegnung. Die ereignet sich unter anderem in transnationalen Projekten, wie sie der Ideenwettbewerb »Advocate Europe« fördert, bei dem jedes Jahr bis zu zwölf Ideen mit bis zu 50.000 Euro gefördert werden. Zu den Gewinnern im letzten Jahr gehören z. B. die Initiative »Future Docs« aus Warschau, die Dokumentarfilmer, die sich mit politischen und sozialen Themen beschäftigen, europaweit miteinander vernetzt, oder ein Stadtentwicklungsprojekt für Bottrop in Deutschland und Thessaloniki in Griechenland. Dieses Jahr wurden fast 700 solcher Projektideen eingereicht.
Hoffnung Europa
Diese jungen europäischen Initiativen atmen bei aller Diversität einen Geist der Hoffnung auf ein Europa jenseits nationalstaatlicher Abgrenzung. Für Ulrike Guérot liegt diese Zukunft in einer Republik Europa, die einer schon vorhandenen Realität die institutionelle Grundlage und weitere Entfaltungsmöglichkeiten geben könnte: »Das transnationale europäische Dickicht aus gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Netzwerken, die Myriaden von transnationalen familiären und persönlichen Kontakten, Ferienhäusern im Nachbarland oder Jobs im europäischen Ausland – diese europäischen ›Kriechströme‹, wie Karl Schlögel sie nennt, sind viel zu dicht, als dass wir sie jemals wieder auseinander bekämen. Sie sind der unentwirrbare Rastafarizopf, der undurchdringliche Flickenteppich der europäischen Zivilgesellschaft. In ihm und durch ihn verwoben sind die Bürger Europas, die Europa durch diese Krise tragen werden, bis die Zeit dafür reif sein wird, dass wir Europa auch politisch und institutionell endlich ganz und schön machen können!«
Für Guérot wird die Zukunft Europas von den Bürgern getragen, weshalb alle Bürger einer europäischen Republik gleiche Rechte und gleiches Mitspracherecht genießen sollten. Dieses Europa wäre ein Netzwerk der Regionen und Städte unter dem Dach einer Europäischen Republik. Die treibenden Kräfte dieses Europas wären nicht mehr ökonomische Vorteilsnahme oder politischer Machterhalt, die wenige Wirtschaftslenker, Finanzmanager und Politiker vorgeben, sondern es wären die Schöpferkraft und Visionsfähigkeit der Bürger.
Angela Merkels Satz »Wir schaffen das« erscheint mir auch wie eine hellsichtige Vorwegnahme dieser Vision und auch ein Eingeständnis: Wir – die Politiker und EU-Beamten – werden es nicht schaffen, aber wir alle – die gesamte Gesellschaft – können es schaffen. Müssen es schaffen. Dieses »Schaffen«, dieser kulturelle »Vitalitätszuwachs« ist eingebunden in einen umfassenderen kulturellen Wandel, in dem wir uns gerade befinden. Es ist die Natur von Krisen, dass sie uns aufzeigen, dass es nicht weitergeht wie bisher, dass wir neue Lösungen finden müssen – dass wir uns in disruptiver Veränderung befinden, wie es heute so schön heißt. Aus der Perspektive der Bewusstseinsentwicklung sind Krisen auch die Geburtswehen für ein neues Bewusstsein. Viele der Grundlagen unserer gegenwärtigen Weltsicht und Lebensrealität werden gerade erschüttert. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Wirtschaft.
In meiner Arbeit als freier Übersetzer habe ich in der letzten Zeit einige Bücher übersetzt, die neue Formen der Organisation vertreten, die auf Selbstführung, Ganzheitlichkeit, Sinnorientierung basieren. Bücher wie »Holacracy« von Brian Robertson oder »Reinventing Organizations« von Frederic Laloux, das auf außerordentlich großes Interesse trifft. In diesen Modellen wird versucht, in Organisationen Räume zu schaffen, in denen sich die individuelle Kreativität, Innovationskraft und Visionsfähigkeit der Mitarbeiter entfalten kann. Gerade dies erweist sich heute für Unternehmen als wichtigste Ressource in einem globalen Wettbewerb um Innovation. Dabei wird der oder die Einzelne in der Entfaltung seiner oder ihrer Potenziale unterstützt, gleichzeitig aber auch in ein größeres Ganzes eingebunden, das ihm oder ihr einen Sinn gibt – in diesem Fall der »evolutionäre Sinn« der Organisation, der lebensfördernde Beitrag für die Welt.
¬ DER VITALITÄTSZUWACHS DER VERGANGENEN MONATE DEUTET DAS GERADEZU UTOPISCHE POTENZIAL DER SITUATION AN. ¬Wolfram Eilenberger
Geist der Zukunft
Ähnliche Werte vertritt die Gemeinwohlbewegung, in der sich wirtschaftliches Handeln nicht am Profit, sondern dem Beitrag zum Wohle aller ausrichtet. Für Guérot ist die Gemeinwohlorientierung zentral für ihre Vision einer europäischen Republik: »Es scheint ein Bedürfnis zu geben nach Wärme und nach Nähe, nach Gemeinwohl, commons oder Allmende, den Schlüsselwörtern aller sozialen Bewegungen, die während der Eurokrise entstanden sind. Die Eurokrise schafft offensichtlich eine Wir-Sehnsucht und setzt einen Kontrapunkt zum Ausverkauf des Öffentlichen.« (Für das Engagement, das während der Eurokrise auflebte, hat der ehemalige Finanzminister Griechenlands Yanis Vaoufakis im Februar gemeinsam mit vielen anderen Aktivisten in Europa durch die Gründung der Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 ein neues Forum geschaffen.)
Einen Impuls zu diesem Wandel setzt auch die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen, die angesichts der Abstimmung in der Schweiz im Juni und Experimenten in Utrecht und anderswo großes und oft auch positives mediales Echo findet. Im Grunde geht es den Vordenkern des Grundeinkommens auch um die Befreiung der individuellen Schöpferkraft. Die Folge wäre in ihren Augen ein gesellschaftlicher »Vitalitätszuwachs« ungeahnten Ausmaßes. In dieses Möglichkeitsfeld gehören für mich noch weitere Bewegungen, wie Initiativen für eine neue Bildung unter dem Stern der Potenzialentfaltung, wie sie Gerald Hüther und Margret Rasfeld vertreten, die Achtsamkeitsbewegung, die schon mitten im Mainstream »sitzt«, und auch die integrale Bewegung, die die Impulse des integralen Denkers Ken Wilber aufnimmt und umsetzt.
¬ DER NATIONALSTAAT IST VIELLEICHT DER AUSSTELLER UNSERER REISEPÄSSE; EUROPA ABER IST UNSERE IDENTITÄT. ¬ Moritz Hartmann und Floris de Witte
Die wahre Dimension der »Flüchtlingssituation« und der »Krise Europas« eröffnet sich nur, wenn wir all diese Bewegungen – und viele andere, die hier nicht genannt wurden – als Wellen eines Stromes verstehen. Wie wir sehen, hat dieser Strom eine Richtung: weniger individuellen und nationalstaatlichen Egoismus, aber mehr Verständnis und Verbundenheit; weniger Hierarchien und Gehorsam, aber mehr Selbstverantwortung und kreative Potenzialentfaltung; weniger Profitstreben und Materialismus, aber mehr Werte- und Sinnorientierung.
Diese Werte – Verbundenheit, Potenzialentfaltung, Sinn – sind zutiefst humanistische und zutiefst spirituelle Werte. In der Not, in der sich unsere Erde gerade befindet, wird es nicht mehr in erster Linie darum gehen können, wie wir diese Werte begründen, wo wir ihre Quelle verorten. Humanisten, Religiöse, spirituell Praktizierende aller Couleur, die den Anspruch erheben, dem Geheimnis des Lebens auf der Spur zu sein und es in der Welt zum Ausdruck bringen wollen, werden sich in diesem Geist verbinden können – und vielleicht sogar müssen. So kann von unten, von der Wurzel her, langsam aber unaufhaltsam eine integrale, postsäkulare, sinnerfüllte europäische und schließlich auch globale Kultur heranwachsen, eine neue Renaissance, die das Beste unseres Menschseins verwirklicht. Wir können den Flüchtlingen dankbar sein, dass sie uns unnachgiebig auf die Notwendigkeit dieses Wandels hinweisen.
Author:
Mike Kauschke
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