Vom Liebesroman zum Computerspiel

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

November 5, 2018

Mit:
Samuel Richardson
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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Gender und das Potenzial neuer menschlicher Wirklichkeiten

Neue Medien waren schon immer revolutionär – das gilt für den Roman im 18. Jahrhundert genauso wie heute für das Internet, die sozialen Medien, Online-Spiele und Virtuelle Realität. Diese neuen medialen Entwicklungen treffen auf eine Kultur der Vereinzelung und Vermarktung und verstärken sie vielfach ins Unermessliche. Tragen diese Technologien auch ein Potenzial in sich, das Verbundenheit stiftet, sodass sie unserem wahren ungeteilten Menschsein zum Ausdruck verhelfen können?

Wenn Sie dieses Magazin in den Händen halten, mit umgeschlagenen Seiten, oder es aufgeschlagen auf Ihrem Schoß oder vor Ihnen auf einem Tisch liegt, tanzen die Worte, die Sie lesen, im Dialog mit Ihrer eigenen Erfahrung. Vielleicht riechen Sie die Druckfarbe. Vielleicht berühren die Bilder und Farben auf der Seite Sie auf eine Art und Weise, derer Sie sich nicht völlig bewusst sind. Sie öffnen Ihr Bewusstsein für diese schwarzen Zeichen auf dem Papier, öffnen sich für Gedanken und Gefühle, die Ihre Welt weiter werden lassen, die mit Ihrer eigenen Lebenserfahrung übereinstimmen oder im Widerspruch dazu stehen. Man braucht nicht lange darüber nachzudenken, es besteht kaum ein Zweifel, dass Lesen eine Handlung ist, die Bewusstsein formt. Lesen öffnet uns nicht nur für neue Gedanken und Erfahrungen, Lesen entwickelt unsere Innerlichkeit, unseren Sinn für eine private innere Welt, die auf einzigartige Weise unsere eigene ist.

Vielleicht galt gerade deshalb das Lesen – und besonders das Lesen von Romanen – im 18. Jahrhundert als gefährlich. Gelehrte hatten schwerwiegende Bedenken, dass diesem äußerst privaten Akt das Potenzial innewohne, die bestehende Moral zu zerstören. Nachdem Samuel Richardson 1740 den Roman »Pamela« veröffentlicht hatte, breitete sich auf dem europäischen Kontinent ein ­»Pamela-Fieber« aus, denn junge Frauen begegneten in dem Buch der Idee der Liebes­heirat, die mit den arrangierten Ehen der Vergangenheit brach. Später in diesem Jahrhundert wurde Goethes »Die Leiden des jungen Werther« zum ersten westlichen Blockbuster – übersetzt und verkauft bis in die Vereinigten Staaten. Diese romantische Geschichte wurde rundheraus verdammt. Es grassierten Großstadtlegenden über massenhafte Selbstmorde junger Menschen, das Buch bei ihrem letzen Atemzug fest an die Brust gedrückt. Die Macht von Romanen, unsere Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte zu beeinflussen und zu entfalten, hatte einen nachhaltigen Einfluss darauf, wie wir als Frauen und Männer sind.

Die Faszination, die Identität auf uns ausübt und die uns so oft voneinander trennt, könnte zu einem Feld des Lernens und Forschens werden.

Dreihundert Jahre nach der Erfindung der Druckerpresse und dem Aufstieg der Literatur wurde der Roman zum wichtigsten Medium, durch das sich neue Ideen über Liebe, Gender und Beziehungen verbreiteten und die Seelen der Menschen ergriffen. Und heute, wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Internets und der Verbreitung der sozialen Medien und des immersiven Gamings, hören sich die Kulturkritiker – einschließlich meiner selbst – an wie die Prediger des 18. Jahrhunderts und warnen vor den Gefahren dieser neuen Medien und davor, wie sie uns als Männer und Frauen prägen. Liegen wir richtig damit, vor diesen Bedrohungen für unser Menschsein zu warnen? Oder beginnen wir gerade erst zu begreifen, welches Potenzial die neuen Medien haben, unser Bewusstsein zu erweitern und zu vertiefen?

Der Roman als Medientechnologie

Ich frage mich, ob gebildete, beunruhigte Menschen im 18. Jahrhundert die Situation ähnlich wahrgenommen haben wie wir die heutige: Wir stehen vor einem gewaltigen Umbruch, und es ist vollkommen unklar, wohin die Dinge sich entwickeln. Für unsere Vorfahren erzeugten die Amerikanische und die Französische Revolution, die andauernden Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten und der Niedergang der feudalen Lebensart eine Atmosphäre der Unsicherheit. Auf den Straßen, in den Stuben und Wohnzimmern der einfachen Leute wurde der Roman zu einem kraftvollen Mittel, in dieser Unsicherheit Stabilität zu finden. 

Das Lesen von Romanen war für Frauen ein Weg, das Leben und die persönliche Entwicklung in die eigenen Hände zu nehmen. Durch die Romanfiguren – meist junge Frauen – und ihre Liebes­abenteuer, schufen die Bücher das Ideal des »braven« Mädchens, der »braven« Frau, der guten Ehefrau und Mutter, das das innere und äußere Bild von moderner Weiblichkeit prägte.

Romane zu lesen, sich mit der weiblichen Hauptfigur zu identifizieren, die passenden Verhaltensweisen und Gefühle gemeinsam mit ihr zu erfahren – all das waren Methoden der inneren Entwicklung. Dieses weibliche Ideal, für das in Groschenromanen geworben wurde, die billig gekauft oder in Büchereien ausgeliehen werden konnten, war eines der ersten Konsumgüter des westlichen Kapitalismus. Eine Generation nach der anderen und über Jahrhunderte hinweg bemühten sich Frauen, die weiblichen Tugenden zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen, die der Roman und später die Frauenzeitschriften als wünschenswert präsentierten: Sittsamkeit, Fürsorge, Passivität, Freundlichkeit, Empfänglichkeit und ein zartes Gefühlsleben.

Wir stehen vor einem gewaltigen Umbruch, und es ist vollkommen unklar, wohin die Dinge sich entwickeln.

Da in der Welt des Kapitalismus die Männer ausgeschickt wurden, um die Welt zu erobern, war es die den Frauen zugedachte Aufgabe, dieses weibliche Ideal nachzuahmen, das zum Anker des häuslichen Lebens wurde. Zu jener Zeit begannen sich die Individualisierung und die Fähigkeit zu objektivem Denken herauszubilden. Für Männer brachte das die Entdeckung von Technologie und Wissenschaft mit sich, für Frauen eine spezielle Art der Selbst-Objektivierung. Der Mann machte die Natur zum Objekt und schuf die Maschinen der Moderne. Die Frauen machten sich selbst zum Objekt und idealisierten den Mythos der perfekten Weiblichkeit. Der intime Akt, alleine einen Roman zu lesen, stellte eine bemerkenswert effektive Medientechnologie dar, durch welche die innere Welt der modernen Frau so geformt wurde, dass sie versuchte, diesem Ideal zu gleichen, das nicht verwirklichbar war.

In gewisser Weise hatten die Panikmacher des 18. Jahrhunderts nicht Unrecht. Lesen war gefährlich für die Frauen – nur nicht so, wie sie fürchteten. Romane sind eine immersive Technologie. Sie werden lebendig, wenn die eigene Vorstellung auf die Fantasien trifft, die der Autor erschafft. Das Ergebnis war, dass dieser feminine Archetyp – der Mythos der »guten« Frau – im Kopf von Millionen von Frauen herumspukte. So viele Frauen kämpfen noch heute mit diesem Geist, dem vagen aber anhaltenden Gefühl, sich an einer unerreichbaren Idee von Perfektion messen zu müssen. Selbst in unserer postmodernen Kultur versuchen Frauen oft, diesen Geist auszutreiben mit Körperlichkeit, Sex (oder seinem buchstäblichen Spiegelbild: Sexiness) und einem Misstrauen gegenüber dem Intellekt. Das ist ironischerweise heute genau das, was die Sittenwächter des 18. Jahrhunderts fürchteten: dass das Schicksal der Frauen Sexualität und Emotionalität sein würde.

Die Flucht in die Welt des Gamings

Ich finde es faszinierend, dass die moralischen Ängste im 18. Jahrhundert um junge Frauen kreisten, während heute junge Männer moralische Besorgnis hervorrufen. Der flimmernde Bildschirm ist wie ein Notausstieg, durch den viele junge Männer flüchten, um ihr verwirrendes und verworrenes Leben zu Hause hinter sich zu lassen. Sie versuchen der häuslichen Welt zu entkommen, die wir noch immer als weiblich »codieren«, obwohl die meisten Frauen sich längst nicht mehr darauf beschränken. Jungen landen in Welten voller Helden und Abenteuer, auf anderen Planeten mit anderen Lebensformen, mit Eroberung und Kampf, magischen Kräften und unglaublichen Technologien. Jeder Spieler hat die Chance, zum Helden zu werden. Es ist eine durch und durch männliche Welt, die sich auf Geschichten und Mythen bezieht, die tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert sind, die man Kindern vermittelt, noch bevor sie lesen können.

Will ich damit sagen, dass man sich über diese zeitgenössischen Heldengeschichten keine Gedanken machen müsste? Ganz und gar nicht. Hat es eine Auswirkung auf das sich entwickelnde menschliche Wesen, stundenlang Spiele zu spielen, in denen es um Konkurrenzkampf, Hypersexualität und Gewalt geht? Natürlich hat es das. Es gibt umfassende Forschungen, die belegen, wie Filme und Videos das Gehirn und das Hormonsystem in einen Zustand bringen, der unsere stressvollen oder Angst machenden Erfahrungen in Besitz nimmt. Man ist sich auch einig darüber, dass die Hemmschwelle, Gewalt im wirklichen Leben auszuüben, durch den Konsum von Gewaltspielen oder -filmen herabgesetzt wird. Bei Menschen mit einer Tendenz zu Aggressivität besteht eine Beziehung zwischen dem Anschauen und dem Ausüben von Gewalt.

Was mir Sorgen macht, ist, dass diese Geschichten und die Belohnung, die sie bieten, zu oberflächlich sind. Anders als ein Roman, bei dem man in die oft subtilen Gedanken, Motivationen und Gefühle der Charaktere eintaucht, sind die meisten für Männer programmierten Videospiele simpel, es geht um Sieg oder Niederlage. Sie rufen eher intensive Emotionen und überdrehte Reaktionen hervor als tiefe, komplexere Gefühle oder irgendeine Art von Verständnis für einen anderen. Gaming ist ein Milliardengeschäft, das des Profits wegen darauf abzielt, die Spieler durch ständige Erregung süchtig zu machen. Solange dieses Geschäft aus Gewinnstreben betrieben wird, werden diese Spiele weiterhin vor allem unsere tiefsten und unbewusstesten Antriebe inklusive Gewalt stimulieren. 

Doch es gibt Anzeichen, dass hier ein weit größeres ­Potenzial existiert. Zum einen kommen durch die Nachfrage nach Multiplayer-­Spielen, die von mehreren Spielern gleichzeitig gespielt werden können, Innovationen ins Spiel. Genau wie alle anderen Menschen möchten junge Männer miteinander in Kontakt sein, als Team zusammenwirken und die Lust am Spiel miteinander teilen. Welche anderen Formen der Zusammenarbeit könnten durch das Gaming noch möglich werden? Zum anderen bietet der Cyber­space, wie bereits beschrieben, einen enormen Raum dafür, mit Identität und Identitäten zu spielen. Es gibt nicht nur viele Spieler, die sich Ava­tare oder Charaktere aussuchen, die nicht dem eigenen Gender entsprechen, sondern durch die zunehmenden Möglichkeiten der immersiven virtuellen Realität kann man sich als anderes Geschlecht oder andere Rasse oder sogar andere Spezies erfahren. Könnte die virtuelle Realität, die Erfahrung, in einem Körper zu sein, dessen Haut eine andere Farbe hat, unsere Fixierung auf eine bestimmte Identität lockern und uns den Zugang zu den Erfahrungen anderer ermöglichen? Vielleicht würde das jungen Transgender-­Frauen und -Männern andere Möglichkeiten bieten als Hormone und Chirurgie. Vielleicht könnte so die gemeinsame Menschlichkeit deutlich werden, die wir alle miteinander teilen. Wenn ich erforsche, wie sich ein junger Schwarzer fühlt, wenn er die Straße in einem weißen Stadtviertel oder in einem krimenellen Stadtviertel entlanggeht: Habe ich dann tatsächlich die Möglichkeit, mich in ihn hineinzuversetzen? Die Faszination, die Identität auf uns ausübt und die uns so oft vonein­ander trennt, könnte zu einem Feld des Lernens und Forschens werden. Könnten wir vielleicht erkennen, dass es im Cyberspace so etwas wie den Anderen nicht gibt?

Die Pixel mit Bewusstsein erwärmen

Einige Male im Monat sitze ich mit meinem Partner vor dem Bildschirm eines Laptops, der mit den Bildern von Menschen aus der ganzen Welt gefüllt ist. Nicht nur Fotos, sondern lebendige Gesichter von unterschiedlichen Plätzen unseres Planeten. Das ist eine seltsame Konfiguration: kleine Rechtecke ansprechbarer Gesichter, einige davon weit entfernt in Taiwan oder den Philippinen, manchmal eines aus Hawa’ii und in der Regel mehrere aus Städten entlang der Westküste Nordamerikas. Es handelt sich um ein Projekt, das ich ins Leben gerufen habe und das den Namen »One World in Dialogue« trägt.

Nachdem ich jahrzehntelang untersucht habe, wie wir uns unserer Kultur angepasst haben und zu den Frauen und Männern wurden, die wir sind, fragte ich mich, wie wir uns von diesen Mustern befreien können, die zwischen uns durch Gender-­Strukturen noch immer wirksam sind. Wie bei #MeToo. Oder in der hyper-»maskulinen« Welt der Videospiele. Oder in der »femininen« Welt der Liebesromane – noch immer ein blühendes Geschäft, mit einem Jahresumsatz von über einer Milliarde Dollar und die Vorlage vieler für Mädchen produzierter Computerspiele. Durch die Forschung wissen wir, dass Gender das erste ist, was wir voneinander wahrnehmen (abgesehen vielleicht von der Rasse), und wir reagieren darauf aufgrund von Annahmen und Voreingenommenheiten, die weitgehend unbewusst sind. Wie können wir das ändern, wo es doch so tief sitzt und so verflochten ist mit den Gewohnheiten und Institutionen unserer Kultur?

Unsere Unterschiede, die aus dieser Einheit aufscheinen, erschaffen eine reiche Ganzheit.

Ich versuche Biotope zu gestalten, in denen wir uns zuallererst in unserer Menschlichkeit begegnen, außerhalb der ausgetretenen Pfade unserer Gender-Identitäten. Seltsamerweise – und vielleicht trägt die Seltsamkeit dieses Settings zum Erfolg bei – findet wirklich Begegnung statt in diesen Zusammenkünften auf den Bildschirmen der Laptops. Jedes Gesicht auf dem Bildschirm ist nicht nur ein Mann oder eine Frau, nicht nur einer bestimmten Rasse zugehörig, sondern es ist ein Fenster zur Geschichte von Orten und Menschen, die durch dieses eine Gesicht in die Gegenwart gebracht wird. Es ist nicht einfach, in der Begegnung über das verpixelte Gesicht hinauszugehen, aber wenn es gelingt, dann wird eine Präsenz erfahrbar, ein kollektives Bewusstsein, das aus den Gesichtern vor dir strahlt und auch zwischen uns und ein Feld der Lebendigkeit erschafft, das unverkennbar ist. Unsere Einheit – eine Einheit vor der Unterschiedlichkeit – wird erfahrbar, ohne sie herbeireden zu müssen. Unsere Unterschiede, die aus dieser Einheit aufscheinen, erschaffen eine reiche Ganzheit.

Diese Erfahrung steht in einem großen Kontrast zur globalen Krise der sozialen Medien und der zunehmenden, vergiftenden Fragmentierung zwischen uns. Mark Zuckerberg, der CEO von ­Facebook, wurde kürzlich gefragt, wie er sich fühlt angesichts der Tatsache, dass er so viel Geld verdient hat mit einem Geschäft, das das soziale Gewebe in den USA und dem Westen zerstört. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Der Kult um das Individuum – heute gefeiert in Form des heldenhaften Unternehmers – muss vielleicht erst ein Ende finden, bevor diese Technologien frei dafür werden, uns zusammenzubringen. Selbst Gamer wünschen sich Verbundenheit. Vielleicht können wir dazu beitragen, indem wir bei der Nutzung von Skype, Zoom, Facebook oder WhatsApp unsere Aufmerksamkeit durch den Cyberspace auf den Raum zwischen uns richten, der das lebendige Potenzial für eine Einheit in der Verschiedenheit in sich trägt.  

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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