Wagnis und Verzicht

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Essay
Publiziert am:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
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Unsere Gesellschaften befinden sich in einer fundamentalen Transformation, nicht nur aufgrund einer neuen industriellen Revolution (Digitalisierung usw.), sondern vor allem auch, weil das Ökogleichgewicht unumkehrbar zu kippen droht. Gelingt die Transformation, werden wir ganz neue Lebensformen aufgrund eines veränderten Bewusstseins entwickeln; gelingt sie nicht, werden wir aussterben. Die meisten Menschen wissen das, verdrängen aber die gravierende Herausforderung, zunehmend viele bemühen sich aktiv um Veränderung, nur wenige leugnen das Problem. Die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig: Es besteht dringender Handlungsbedarf. Warum geschieht dennoch fast nichts?

Das hängt damit zusammen, dass die bisherige Erfahrung der Menschheit lehrt, dass man ausweichen oder die Lösung auf die Zukunft verschieben konnte. Doch wir können nicht mehr warten, weil die Luft dünn, der Boden versauert, das Wasser knapp und das Feuer versengend wird. Die bewusste Evolution des Bewusstseins ist zu absolvieren, eine Herkulesaufgabe. Aber immerhin, wir wissen, wohin diese Reise im Prinzip gehen müsste. Wir haben die Werkzeuge dafür, auch wenn wir ihren Gebrauch noch nicht erlernt haben. Die Veränderung ist notwendig, und sie ist möglich! Zwei Voraussetzungen sind zu bedenken: Wagnis und Verzicht.

Mut und Beschränkung sind Kräfte, die dem Einatmen und Ausatmen gleichen.

Im Wagnis steckt Grenzüberschreitung und Risiko. Wagnis ist immer auch Abenteuer, es bedeutet meistens, gegen den Strom zu schwimmen und alte Gewohnheiten abzustreifen. Wagnis ist Aufbruch zu neuen Ufern und riskiert das Scheitern. Verzicht kann eine kluge Selbstbeschränkung sein, manifestiert sich aber gelegentlich auch als Verzagtheit. Verzicht kann aus Einsicht in die Notwendigkeit folgen, vor allem aber auch einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten, wenn dadurch eine intensivere Konzentration auf das Lebendigsein möglich wird. Verzicht bedeutet Qualität statt Quantität. Das verlangt achtsame Konzentration auf alles, angefangen vom Genuss der Sinne bis zur Wortwahl unserer Rede und zur Genauigkeit unseres Handelns. Verzicht setzt Wagnis voraus.

Wagnis und Verzicht, Mut und Beschränkung sind Kräfte, die dem Einatmen und Ausatmen gleichen. Möglicherweise handelt es sich dabei um komplementäre Bewegungsrichtungen, welche unsere Handlungen von Körper, Rede und Geist prägen. Beide Pole ergeben in ihrer Wechselwirkung eine Ganzheit. Diese gilt es wahrzunehmen und zu leben. Wie? Durch tiefere Erfahrungen des Bewusstseins, die einige Traditionen »mystisch« nennen.

Mystische Erlebnisse stellen Zustände dar, bei denen die volle Aufmerksamkeit auf eine Gesamtwahrnehmung von Wirklichkeit gerichtet ist, bei der die Wahrnehmung der Wahrnehmung betrachtet wird. Es entsteht ein »Wahrnehmungsraum«, der in unendlich vielen Spiegelungen als einheitlicher Bewusstseinsstrom erscheint. Dies ist nicht ein vertiefter Versenkungszustand, bei dem es ein Nacheinander oder Entweder-oder von Verschiedenem gäbe, sondern ein versunkenes Bewusstsein bzw. Bewusstsein im Modus der mystischen Einheitserfahrung, wo das Gesamte, die gesamte Struktur in einer nicht-dualistischen Wahrnehmung erscheint, die prinzipiell unendlich ist. Hier kommt das Ganze im Modus der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit in den Blick, sodass in diesem Bewusstseinszustand Einheit erscheint, die in sich differenziert ist, weil das Besondere nicht verschwindet. Es geht bei solchen mystischen Ganzheitserfahrungen nicht um reduzierte Einheit, sondern um integrierte Komplexität.

Der große Arzt, Musiker, Religionswissenschaftler und Theologe Albert Schweitzer berichtet 1931 in seiner autobiographischen Skizze »Aus meinem Leben und Denken« eine Art »Bekehrungserlebnis«: Auf einer Flussfahrt über den Ogowe im September 1915 habe er plötzlich eine Herde Nilpferde erblickt und angesichts dieser Naturschönheit und Kraft eine Intuition empfangen, die er als unmittelbare Befreiung erfuhr. Diese Intuition habe sich für ihn zu der Einsicht von der »Ehrfurcht vor dem Leben« verdichtet. So sei von ihm die Formel »Ehrfurcht vor dem Leben« regelrecht geschaut worden. Schweitzer fügt hinzu, dass ihm dieses Erlebnis so unmittelbar einleuchtend gewesen sei, ohne jeden Zweifel und ohne dass rationale Argumente nötig gewesen wären. Daraus schließt er, dass die »Ehrfurcht vor dem Leben« etwas unmittelbar Gegebenes ist, das jedem Menschen in seinem wachen sowie tätigen Lebensvollzug denknotwendig vorgegeben sei. Die Art und Weise, wie Schweitzer seine Erfahrung beschreibt, lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um ein die ganze Person ergreifendes Erlebnis handelt. Es ist eine kontemplativ-mystische Erfahrung. Sie wird ihm zum Schlüssel der Deutung des Lebens überhaupt, aus der er mit Wagnis und Verzicht Konsequenzen für sein Leben ableitet. So kommt er zu einer »ethischen Mystik«, die auf der Grundlage eines Bewusstseinswandels eine neue Lebenspraxis nicht nur fordert, sondern in die Tat umsetzt. Und das ist nur ein Beispiel für ein Leben aus Wagnis durch Verzicht.

Author:
Prof. Michael von Brueck
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