Wahrnehmende werden

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Aufstellungsarbeit als Praxis schöpferischer Verbundenheit

Das Familienstellen ist einer der bekanntesten, und wohl auch geheimnisvollsten Gruppenprozesse. Zunehmend werden Aufstellungen in vielen anderen kollektiven Kontexten angewendet, wie bei Organisationen, in ethnischen Konflikten oder zwischen Nationen. Was können wir aus den Erfahrungen dieser Arbeit über ein tieferes Bewusstwerden unserer sozialen Verbundenheit lernen?

Der Magie von Aufstellungen kann sich kaum jemand entziehen, der sich schon einmal darauf eingelassen hat. Seit die Aufstellungsarbeit vor vierzig Jahren bekannter wurde, ist sie wohl auch deshalb zu einer der populärsten gruppentherapeutischen Methoden geworden. Das ständig zunehmende Interesse an der Aufstellungsarbeit kommt vermutlich auch aus der unmittelbaren Wirkung auf das eigene Bewusstsein: Man könnte sie vielleicht als eine Öffnung der Wahrnehmung für ein zuvor unerschlossenes kollektives Bewusstseinsfeld beschreiben. Natürlich wissen wir, dass wir immer Teil eines sozialen Ganzen sind – einer Familie, einer Gesellschaft, einer Nation, einer Welt. Das Erschütternde und Berührende – und wohl auch Heilende – an der Arbeit mit Aufstellungen ist, dass dieses Eingebundensein zu einer tief empfundenen, körperlichen, sinngebenden Erfahrung wird.

Wissende Felder

Für so gut wie jeden, der schon einmal an einer Aufstellung teilgenommen hat, ist die subjektive Erfahrung, tatsächlich in einem Feld zu stehen, überraschend. Aufstellungen arbeiten mit Stellvertretern oder Repräsentanten, die für (lebende oder schon verstorbene) Familienangehörige und in der Folge auch für Chefs, Teams oder andere Beteiligte an Systemen sowie abstrakte Elemente wie ein geerbtes Haus, ein Unternehmen, eine Marketingstrategie oder gar Krieg, Frieden und Gott aufgestellt werden. Für den Psychologen Albrecht Mahr, einem der Pioniere der Aufstellungsarbeit im deutschsprachigen Raum, ist diese stellvertretende Wahrnehmung das »Herzstück« der Aufstellungsarbeit: »Diese Stellvertreter wissen etwas, das heißt, sie spüren im Körper, im Fühlen und in den Gedanken, die sich einstellen, etwas über die Person oder das Element, für die oder das sie stehen.« Und das ist auch eine der großen Fragen dieser Arbeit: »Wie kann es sein, dass jemand oder etwas, der oder das gar nicht anwesend ist, uns in Gestalt einer Stellvertretung Auskunft gibt?«

Auffallend ist für Mahr die Stimmigkeit der Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Aussagen und Bilder, die für den Stellvertreter im eigenen Inneren zugänglich werden. Oft sind es Bewusstseinsinhalte, die augenscheinlich nicht aus ihm selbst kommen, sondern aus einem Beziehungsfeld zu entstehen scheinen. Für Mahr entstammen sie einem »Wissenden Feld«. Mit dieser »poetischen Metapher« möchte er eine Form des sozialen Wissens ansprechen, die uns erst ansatzweise zugänglich ist: »Jedes Feld menschlicher Beziehungen enthält ein implizites Wissen, wie diese Beziehungen sich lebensdienlich entfalten können.« Hier wird der »Ort« des Wissens also nicht nur unsere Individualität, unser eigenes Denken und Schlussfolgern, sondern er verlagert oder öffnet sich in die Vernetztheit und das innewohnende Wissen der Beziehungsfelder hinein. Die Aufstellungen sind für Mahr eine Praxis, in der dieses implizite Wissen explizit wird. Dabei werden die Wahrnehmungen der Stellvertretenden zur Substanz einer Dynamik, in der sich klärende Antworten und überraschende Lösungen für Konflikte zeigen. Im sozialen Feld der Aufstellung liegen also nicht nur Informationen über den gegenwärtigen Zustand, sondern auch für eine Lösung, eine Heilung, eine Entwicklung.

Die Psychotherapeutin Guni Leila Baxa, die in vielen Ländern der Erde, darunter China und Brasilien, Aufstellungen leitet, erklärt, dass solche Momente der Lösung für die Beteiligten oft mit dem Empfinden einhergehen, einem besonderen mystischen Moment beizuwohnen: »Oft ist eine Stille im Raum, die als etwas Heiliges empfunden wird, und aus der Stille fängt dann jemand zu singen an und plötzlich singen alle mit. Oder aus der Stille kommt von jemandem eine Geste, ein Impuls, der etwas zusammenführt oder auch feiert.« In den Aufstellungen hat Heilung laut Baxa viel damit zu tun, dass etwas, das in dem Beziehungsfeld nicht gesehen oder gewollt wurde, bewusst wird, und die Ganzheit des Systems zu einer neuen Integration findet. In Familiensystemen kann dies zum Beispiel ein psychisch krankes Kind in einer Vorgeneration sein, das aus dem Familiengedächtnis ausgeschlossen wurde. Auf die Ganzheit und non-lokale Wirksamkeit sozialer Felder verweisen die vielen Berichte, wonach eine Konfliktlösung, die sich in einer Aufstellung gezeigt hat, auch in der tatsächlichen Beziehung und bei Unbeteiligten spürbar wird. Wenn zum Beispiel eine Mutter, die abweisend war und jahrelang keinen Kontakt wollte, die Tochter anruft und um Verzeihung bittet.

Alle meine Beziehungen

Bekannt geworden ist die Aufstellungsarbeit vor allem auch durch Bert Hellinger, der als Priester eine Missionsschule in Afrika leitete und später verschiedene neue Psychotherapiemethoden studierte und anwendete. Ihn beeinflussten seine Erfahrungen in Afrika mit der indigenen Tradition der Zulu und dem darin lebendigen Umgang mit den »Ahnen«. Obwohl Hellinger für einige Aspekte seiner Arbeit zunehmend kritisiert wurde, hat er dazu beigetragen, die Tür in eine neue Erfahrungswirklichkeit kollektiver Felder zu öffnen – eine neue Erfahrung, die gleichzeitig sehr weit in unsere menschliche Geschichte zurückreicht.

Oft ist eine Stille im Raum, die als etwas Heiliges empfunden wird.

Guni Leila Baxa

»Weil viele moderne Seelen von ihrer Familientradition, ihrem Land und den darin lebendigen Geschichten getrennt sind, suchen sie nach einem Einbezug, der sich oft in der einfachen Bewegung des Kreises findet«, sagt die indigene Aktivistin, Aufstellerin und Herausgeberin des Fachmagazins »The Knowing Field« Francesca Mason Boring. Sie sieht Aufstellungen als neuen, modernen Ausdruck einer ursprünglich-menschlichen Ganzheitserfahrung. Für viele indigene Traditionen ist die Verbundenheit mit den Ahnen, mit der Natur, mit dem Ganzen der Schöpfung offenkundig – »all my relations«, alle meine Beziehungen, ist ein Ausdruck, der diese Haltung dem Leben gegenüber verdeutlicht. Diese Wahrnehmung der Welt beschreibt Boring so: »Alles ist miteinander verbunden. Jedes Leben befindet sich in einem Prozess. Dass die Schlange ihre Haut ablegen muss, die Heuschrecke ihre Hülle abwerfen muss, um fliegen zu können – jede Bewegung der Natur ist eine Lehre und wir haben die Wahl, daraus zu lernen oder unseren Weg in Unwissenheit fortzusetzen.«

Dementsprechend sind Aufstellungen für Boring eine Form der Zeremonie, die diese Verbundenheit vergegenwärtigt. Sie bezieht in ihre Aufstellungen auch oft die Natur und die Landschaft mit ein. Damit berührt sie vielleicht auch einen Kern der Anziehungskraft und Brisanz der Aufstellungsarbeit: Sie weist in unserer unmittelbaren Erfahrung über ein getrenntes Bewusstsein hinaus. Es ist die wertvolle Errungenschaft der letzten Jahrhunderte, dass wir nach und nach ein stärkeres individuelles Bewusstsein entwickelt haben. Diese zunehmende Autonomie hat aber auch zu psychologischer Vereinze - lung und Entfremdung geführt. Die Popularität der Aufstellungsarbeit hat wohl unter anderem damit zu tun, dass sie kraftvoll, überzeugend und sinn - voll den inneren Blick für unsere Verbundenheit mit einem sozialen Kosmos öffnet, der unsere Familie, unsere Gesellschaft, die kulturellen Entwicklun - gen, die Natur und auch eine kollektive Intelligenz umfasst.

Unsere vielen Felder

Wie groß und vielschichtig unsere Verflochtenheit mit sozialen Feldern ist, zeigen neuerliche Erweiterungen der Aufstellungsarbeit, die weit über Fa - miliensysteme hinausgehen. Guni Baxa experimentiert seit einiger Zeit mit Kollektivaufstelllungen zwischen ethnischen Gruppen oder bei sozialen Kon - flikten wie beispielsweise der Flüchtlingskrise. In unserem Gespräch berich - tet sie von dem nachhaltigen Eindruck, den eine Aufstellung in Brasilien bei ihr hinterlassen hat: »Wir haben Nachkommen der afrikanischen Sklaven, der indigenen Ureinwohner und der portugiesischen Eroberer aufgestellt. Dabei wurde an einem Punkt der spirituelle Geist Afrikas aufgestellt, wor - auf die Beteiligten mit afrikanischer Herkunft aufblühten.« Ein gegenseiti - ges Verstehen und daraus auch die Möglichkeit von Versöhnung und einem neuen Miteinander waren die Folge. Für Baxa sind Aufstellungen ein Mittel, um uns diese »Achtsamkeit miteinander« zu lehren. Zunächst ist die Aufstel - lung selbst eine Achtsamkeitspraxis, denn sie bringt die Beteiligten in eine Präsenz und Offenheit für das, was sich zeigt. Und durch die Dynamik der Aufstellung entsteht ein Interesse, ein Verstehen und eine Toleranz gegen - über dem anderen, zunächst Fremden. In einer Zeit der zunehmenden sozi - alen Polarisierung ist die Kraft solch einer Wandlung evident.

Jedes Feld menschlicher Beziehungen enthält ein implizites Wissen, wie diese Beziehungen sich lebensdienlich entfalten können.

Albrecht Mahr

Auch Bence Ganti beobachtet, wie sehr die Prozesse der Aufstelllungen das Bewusstsein der Teilnehmenden verändern und sie danach mit mehr Mitgefühl für das Andere in die Welt gehen. Seit einigen Jahren führt der Gründer der Integralen Akademie Budapest im Rahmen der Integral Euro - pean Conference Aufstellungen durch, die kollektive Dynamiken im euro - päischen und globalen Kontext sichtbar machen sollen. Sie umfassen nicht nur bestimmte Ethnien oder Konfliktparteien, sondern die Beziehungen zwischen Nationen. Das Thema der letzten großen Aufstellung war »Den Frieden in Europa wiederherstellen«. Darin zeigte sich in einer komplexen Dynamik, in der neben Ländern und Kontinenten auch Kräfte wie Schuld, Scham, Würde, Nationalismus und Kapitalismus aufgestellt wurden, dass für den Frieden in Europa eine Versöhnung mit Afrika notwendig ist. Für Ganti deuten solche Aufstellungen auf eine neue Entwicklungsmöglichkeit unseres Bewusstseins hin: »Wir werden sensibler für die Informationen, die uns in Wir-Räumen zugänglich werden. Und wir alle leben ständig in einer Vielzahl solcher sozialen Beziehungen. Wenn wir uns dessen mehr bewusst werden, können wir auch für die kreativen Möglichkeiten dieser Räume offener sein.« Wie man solch eine Haltung einüben kann, erprobt Ganti mit seiner Integral Flow Experience, die unter anderem aus der Aufstellungsarbeit schöpft.

Der Organisationsberater Peter Klein nutzt Aufstellungen in Unternehmen und beschreibt die Herausforderungen dabei so: »In einer Organisationsaufstellung werden die Repräsentanten teilweise in Cluster aufgeteilt, d.h. eine Person steht dann für eine Abteilung von 50 Mitarbeitern. Hier muss man vorsichtig sein, wie man die Wahrnehmungen und Antworten interpretiert. Wenn man es gar auf Länder oder größere Gruppen ausweitet, gilt das umso mehr.« Deshalb kombiniert Klein in seiner Arbeit Meditation vor und einen Dialog nach der Aufstellung. »Die Meditation führt die Teilnehmenden in eine tiefere Präsenz, womit sie dann als Repräsentanten klarer wahrnehmen können. Und im Dialog kann das, was sich nonverbal im Feld gezeigt hat, in Sprache gebracht und gemeinsam bewegt werden.« Mit dieser Methodik forscht Klein auch in Aufstellungen zu allgemein gesellschaftlichen Themen. Vor Kurzem hat er eine solche kollektive Bewusstseinsaufstellung zum Thema des »Bedingungslosen Grundeinkommens« begleitet: »Bei dieser Form der Aufstellung gibt es keinen Einzelklienten, die Gruppe sammelt Repräsentanten zu einer Fragestellung, die sich in der Meditation selbst verdeckt aufstellen. ›Repräsentant BGE‹ (Bedingungsloses Grundeinkommen) strahlte in Verbindung mit ›Repräsentant Vision‹ eine starke Anziehungskraft aus. Aber in einer Passage der Aufstellung zeigte sich, dass der Repräsentant des Grundeinkommens bei seinen Skeptikern etwas überheblich ankam.« Diese Dynamik wurde dann im Dialog vertieft. Für Peter Klein ist dies ein wichtiges Element, um die Lösungen, die sich in Aufstellungen zeigen, nicht als letztendliche Antworten zu sehen, sondern eher als Impulse für den weiteren, klärenden Dialog und konkretes Handeln daraus.

Foto: Krisztian Bodis, bei der Aufstellung anlässlich der Integral Europe Conference 2018

Schöpferisch verbunden

Wie an diesen Beispielen sichtbar wird, ist das Feld der Aufstellungsarbeit groß und lebendig, und ein kurzer Text wie dieser kann dem kaum gerecht werden. Aber es scheint, dass wir von den Erfahrungen in Aufstellungen einiges über unser Gewahrsein sozialer Verbundenheit lernen können. Ein Aspekt besteht womöglich darin, dass wir in Aufstellungen in neuer Weise zu sozial Wahrnehmenden werden. Das Wissen des Feldes eröffnet sich uns nicht durch rationales Verstehen, sondern durch verkörperte Gegenwärtigkeit oder auch Achtsamkeit. Mahr bezeichnet diese ganzheitliche Anwesenheit als »wissenden Körper«: »In der enormen Ausdrucksvielfalt des Körpers haben wir ein unglaublich hilfreiches Instrument, um vom Wissen des Feldes geführt zu werden.« Hier wird unser Körper-Geist als Ganzes zu einem Wahrnehmungsorgan, das intuitiv, spürend und denkend zugleich stimmige Dynamiken des Feldes wahrnimmt und gestaltet. Unser Selbst wird transparent und durchlässig für das Beziehungsfeld, in dem es steht, und für das darin wirkende Wissen. Dabei geht es nicht um einen Verlust des Ich, ganz im Gegenteil. »Wichtig ist eine Achtsamkeit dafür, nicht in ein undifferenziertes und überschwängliches Einheitserleben zu kommen, damit in der Verbundenheit die Einzigartigkeit jedes Menschen gewahrt bleibt«, sagt Guni Leila Baxa. Denn aus solch einer Verbundenheit, die den Einzelnen in seinen Potenzialen stärkt, erwächst auch eine neue gestalterische Kraft.

Wir werden sensibler für die Informationen, die uns in Wir-Räumen zugänglich werden.

Bence Ganti

Francesca Mason Boring sieht als eine der Haltungen, die ein indigenes Wissen mit der Erfahrung der Aufstellungen verbindet, die tiefe Dankbarkeit für das eigene Dasein, die sich an das Leben selbst richtet aber auch an die konkreten sozialen Felder, aus denen wir kommen und in denen wir leben. Für sie ist dies ein Weg aus der Opferhaltung hinein in einen ermächtigenden Optimismus: »In Familienaufstellungen werden wir herausgefordert, einen weiteren Blick, eine Perspektive einzunehmen, die nicht nur die Verwundungen umfasst, sondern auch das Wunder, das Vermächtnis heilender Wunden. Und diese Erweiterung führt natürlicherweise zu einem tiefen Optimismus.« Für sie zeigt sich darin die schöpferische Kraft des Lebens selbst. Und Albrecht Mahr beschreibt, dass das Wissen der Felder in seiner Erfahrung »immer wohlwollend« ist und »das Beste in uns wachruft«.

Wenn wir dieses Wissen der Aufstellungen ernst nehmen, können sie uns Hinweise darauf geben, wie wir zunehmend schöpferisch Mitwirkende im sozialen Ganzen sein können. Wie könnten sich unsere Beziehungen verändern, wenn wir aus einem wissenden Wahrnehmen handeln? Wie könnten wir Konfliktdynamiken zwischen Nationen, Ethnien oder Interessengruppen tiefer verstehen? Wie können wir uns selbst zunehmend als verbunden mit einem lebendigen Kosmos erfahren? Und welche kreativen Möglichkeiten können dadurch in unseren kollektiven Feldern eröffnet werden? Wir stehen erst am Anfang, diese Fragen zu vertiefen. Ein Verdienst der Aufstellungsarbeit ist, sie zu stellen. Uns allen eröffnet sich darin ein schöpferisch verbundenes Menschsein.

Author:
Mike Kauschke
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