Wald und Vision

Our Emotional Participation in the World
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Porträt
Publiziert am:

January 14, 2014

Mit:
Gary Zemp
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
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Gary Zemp wurde nach erfolgreichen Jahren als Unternehmen zum Mitbegründer der Partei Integrale Politik in der Schweiz. Wie es dazu kam und wie er die Vision einer integralen Politik versteht, hat er für uns zusammengefasst.


Mein Weg zur integralen Politik begann mit 55 Jahren. Ich war erfolgreicher Manager, Verwaltungsratspräsident der Familiengesellschaft Zemp AG, ein Büromöbel-Kleinunternehmen und leitender Entwickler der Mc Clean AG, die die WCs konzipierte und herstellte, die man überall auf Bahnhöfen findet. Aber innerlich war ich in einer Sinnkrise, ich war mit meinem bisherigen Leben nicht mehr zufrieden, etwas fehlte. Damals machte ich oft lange Spaziergänge im Wald und versuchte, ganz in die Natur und mich selbst hineinzuhören. Im Wald hatte ich immer das Gefühl, dass ich nicht allein bin, dass ich ein Teil des Waldes bin. Ich fühlte mich vollkommen umfangen und geborgen. Zum ersten Mal habe ich gespürt, dass es eigentlich keine Trennung gibt zwischen mir als Mensch und der Natur. Es war eine Einsicht – eine Sicht in das Eine: Ich bin Teil der Natur, des Waldes, dieses Baumes vor mir. Ich war die Beziehung zum Baum. In einer zweiten Phase erkannte ich, dass diese Welt auch ein Teil von mir ist. Ich bin nicht nur ein Teil der Welt, sondern die Welt ist auch ein Teil von mir. Das In-Mich-Hineinsehen und das Hinaus-Sehen wurden zu einer Wahrnehmung. So habe ich körperlich eine All-Verbundenheit erfahren. Hier im Wald hatte ich auch die Gelegenheit meinen Körper wirklich wahrzunehmen, und zu hören, was er mir zu sagen hat. Das Körperliche war für mich vollkommen neu, ich war 30 Jahre lang Manager und habe in der Suche nach Anerkennung gelebt, ohne mir meines Körpers bewusst zu sein.

Verantwortung für den Kosmos

Bei meinen Spaziergängen lernte ich eine Frau kennen, die mir ein Buch von Ken Wilber empfahl, der in vielen Büchern seine integrale Theorie formuliert. Ich las danach alle Wilber-Bücher, die es damals gab, und was mich bei ihm so fasziniert hat, waren die Entwicklungsstufen, durch die wir als Individuen und Kulturen gehen. Diese Ebenen waren schon bei dem integralen Denker Jean Gebser vorhanden, aber Wilber hat sie differenzierter zusammenfasst. Auch die kosmische Perspektive – dass der Kosmos vierzehn Milliarden Jahre gebraucht hat, bis er uns Menschen hervorgebracht hat und sich damit nun selbst betrachten kann –, hat mich unglaublich fasziniert. In mir wurde ein tiefes Gefühl der Verantwortung wach, und das ist auch die entscheidende Verbindung zur integralen Politik. Jeder von uns hat diese große Verantwortung für den Kosmos, für unsere Welt. Das hat mir im Leben gefehlt, als Unternehmer habe ich zwar immer Verantwortung getragen, aber hier kam diese spirituelle Tiefe hinzu: Ich bin verantwortlich für meine Welt und das umfasst alles, was ich wahrnehmen kann.
Die nächste große Veränderung begann auch mit einem Buch: Ich las Nach dem Kapitalismus von Gil Ducommun in nur zwei Tagen durch, und da der Autor Schweizer war, haben wir uns in Bern verabredet. Gil war Lehrer an der Hochschule für Landwirtschaft und lange Zeit für die Entwicklung der Landwirtschaft in Afrika tätig. Er hat gesehen, wie stark westliche Unternehmen die Landwirtschaft in Afrika schädigen, und hat jahrelang sehr darunter gelitten. Gil ist auch ein sehr spiritueller Mensch, der täglich meditiert, was mich sehr beeindruckt hat. Uns verband das Verständnis, dass es Zeit ist, etwas zu tun, und zwar dort, wo wir uns einbringen können. Und wir haben uns vorgenommen, in der Schweiz aktiv zu werden, denn hier haben wir dank unserer direkten Demokratie politische Strukturen, die sich noch beeinflussen lassen, die nicht schon vom Großkapital abgewürgt sind. Ich war immer schon ein sehr politischer Mensch und habe mir Gedanken gemacht zu allen Abstimmungen und Wahlen in der Schweiz und war dankbar für unser politisches System. Das hat sich bei unserem Mittagessen sofort mit dem neu gefundenen integralen Verstehen verbunden. Er sagte mir, dass er gerade eine kleine Gruppe gegründet hätte, um den Ideen in seinem Buch eine politische Grundlage zu geben. Ich entschloß mich sofort, mitzumachen, und so war 2005 die Kerngruppe entstanden, die die Grundlagen für unsere integrale Politik entwickelt hat.

Fülle als Leitstern

Schon bei unserem ersten Treffen bei einem Mittagessen folgten wir einem Grundgedanken, der für mich zentral für das Integrale ist: Wir wollten uns nicht an der Vergangenheit orientieren, sondern an einer Vision der Zukunft. So visionsorientiert arbeitet heute auch die Partei Integrale Politik Schweiz. Wir gehen nicht von einem Mangel aus, sondern von der Fülle, die wir noch nicht erreicht haben. Diese Fülle ist unser Leitstern. Deshalb haben wir auch eine ganz eigene Form der politischen Meinungsbildung entwickelt.

Ich bin verantwortlich für meine Welt und das umfasst alles, was ich wahrnehmen kann.


Durch die direkte Demokratie gibt es in der Schweiz regelmäßig Gesetzesinitiativen, über die Volksabstimmungen durchgeführt werden. Wir als Partei Integrale Politik geben in diesem Zusammenhang öffentliche Empfehlungen, in denen wir unsere Einschätzung der Initiative formulieren. Wenn wir eine neue Gesetzesvorlage oder eine Initiative für einen Volksentscheid einschätzen wollen, dann machen wir zuerst eine genaue Istanalyse der Initiative. Wir tragen alle unsere Intelligenzen ein und analysieren die offensichtlichen Tatsachen möglichst urteilsfrei. Wenn wir es so objektiv betrachtet haben, dann fragen wir unseren Verstand, nach den Argumenten, die dafür oder dagegen sprechen. Wir arbeiten dazu jeweils in einer kleinen Gruppe von fünf bis sechs Leuten. Wenn wir diese Argumente ausgetauscht haben und ein erstes ungefähres Bild bekommen haben, dann fragen wir uns im „Brainstorming“: Was spürst Du körperlich und verstandesmäßig, wenn Du diese „Tatsachen“ auf Dich wirken lässt? Wir befragen also unsere Gefühlsintelligenz. Als Nächstes versuchen wir zu verstehen, welche Absichten die Initianten dieser Initiative oder Gesetzesänderung verfolgen. Was sind die unterschwelligen Absichten, die nicht ausgesprochen werden? Da kommen erstaunliche Aspekte hervor, die man nur dank einer gewissen Begabung in Empathie erspüren kann. Als Letztes versuchen wir zu ergründen, was die tieferen Beweggründe sind, die die Initianten selbst gar nicht kannten? Gibt es zum Beispiel archetypische Muster oder gesellschaftliche Schatten, die zu dieser Initiative führen? Gibt es unaufgedeckte Konflikte? Durch diesen Prozess können wir also den Istzustand einer Gesetzesänderung abklären. Aber dann kommt das Interessante.

Visionieren

Wir gehen über zur Klärung des Sollzustandes, in einem Prozess, den wir als Visionieren bezeichnen. Wir visionieren nun für den gesellschaftlichen Bereich, aus dem die Initiative oder die Gesetzesänderung kommt: Wie sähe in einer integralen Gesellschaft die Lösung dieser Frage aus? Weil wir in einer Gruppe arbeiten, gibt es dann fünf oder sechs individuelle Visionen und die werden zu einer Gruppenvision zusammengefasst. Wenn wir das verständlich gemacht haben, dann nehmen wir diese Vision als Leitstern und vergleichen Ist mit Soll. Ist die Initiative oder Gesetzesvorlage auf dem Wege in Richtung unseres Leitsterns, dann hat sie transformativen Charakter und wir unterstützen die Initiative. Wenn sie umgekehrt in die andere Richtung geht, wenn sie vom Leitstern weg führt, dann lehnen wir sie ab. Diesen Prozess des Visionierens wenden wir auch auf gesellschaftliche Bereiche an, wie Bildung, Gesundheit, Finanzen, Energie, Klima, Sicherheit, Migration und Wirtschaft. Damit bringen wir nicht nur eine neue Sichtweise in diese Themen, sondern verändern auch die Entscheidungsfindung und den politischen Prozess selbst, weg vom einfachen „Dafür“ oder „Dagegen“, das sich oft aus engen Interessen speist. In meinem Leben und meiner politischen Arbeit hat es sich als das Wichtigste erwiesen, nicht gegen etwas zu kämpfen, sondern einer Vision zu folgen. Denn dann können wir die Möglichkeiten der Zukunft einladen, in unserem Leben und in unserem Miteinander Form anzunehmen.

Author:
Gary Zemp
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