Wege aus der Polarisierung

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

November 2, 2021

Featuring:
Alexander Solschenizyn
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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Was ist möglich, wenn wir den anderen hören?

Wie wird aus der konstruktiven Spannung der Pole die destruktive Polarisierung, die zu Spaltung führt? Eine Frage, die nicht erst seit der Corona-Pandemie nach neuen Antworten ruft.

Zweifellos leben wir in einer polaren Welt. Das Prinzip dahinter ist universell und allgegenwärtig. Wir finden es in jeder Astgabel, im Aufbau des Atoms, in spirituellen Symbolen, in Plus und Minus einer Batterie oder unserer Geschlechtlichkeit. Pole erzeugen Spannung, und Spannungen streben nach Lösung. Darin liegt ein Urtrieb des Lebens, ja aller Prozesse im Universum.

Auch im gesellschaftlichen Raum haben wir es mit Polen zu tun, die sich in unterschiedlichen Ansichten, Meinungen und Standpunkten ausdrücken. Im besten Fall bringt dies in kreativer Reibung Neues hervor und dient dem Ganzen. Allerdings wird der Begriff der Polarisierung häufig in einem problematischen Kontext benutzt – und dies nicht erst seit Corona. Bücher über die gespaltene Gesellschaft gab es schon vorher. 

Aber wie wird aus Polarität Polarisierung? Im gesellschaftlichen Diskurs beschreibt Polarisierung einen Prozess des Festschreibens eigener z. B. politischer Positionen mit einer Tendenz der Verstärkung und Radikalisierung. Wir können so sehr deutlich machen, worum es uns geht. Corona-Pandemie oder die Klimakrise sind Lehrbeispiele für dieses Geschehen. Der gute Kern darin ist die Akzentuierung der eigenen Meinung, ein legitimes Mittel, um der eigenen, oft dringlich empfundenen Sicht Gehör zu verschaffen. 

Doch im Gespräch beunruhigen uns andere Sichtweisen in der Regel, stellen sie doch unsere eigenen Ansichten infrage. Dies umso mehr, wenn Standpunkte mit absoluter Sicherheit vorgetragen werden und mit apokalyptischen Überhöhungen gespickt sind. Eine Tendenz, die ich zunehmend beobachte. Unser Umgang mit dem eigenen Unbehagen im Angesicht der ›anderen Meinung‹ und die Tendenz zu quasireligiöser Gewissheit im Vorbringen eigener Anliegen sind aus meiner Sicht zwei Knackpunkte im Polarisierungsgeschehen der Gegenwart. 

»Was der Denker denkt, wird der Beweisführer beweisen.« Dieser simple Po­p-Art-Spruch von R. A. Wilson bringt auf den Punkt, was ich während der Pandemie so oft beobachtet habe. Wir sehen das, was wir sehen wollen. Natürlich ruft ein Geschehen wie Corona verschiedene Sichtweisen auf den Plan. Weniger zu Beginn, denn solange die Gefahr neu und unbekannt war, fiel es den meisten leicht, Einschränkungen als sinnvoll zu akzeptieren. Uns fehlten schlicht die Zeit und die Erfahrung, um sinnvolle Alternativen zu diskutieren. Die akute Gefahr schweißte uns zusammen. Doch schon bald tauchten im gesellschaftlichen Feld und auch im Freundeskreis kritische Fragen und Widerstände auf. Alarmierende Fehlinformationen machten die Runde, oft gefolgt von genervten Antworten. Die Stimmung lud sich auf und feine Risse wurden erkennbar. Die Stresssituation der Pandemie wirkte wie eine Lupe. Um wie viel entspannter wären unsere Diskussionen, wenn wir uns öfter an Wilson und unsere Art der Realitätsbildung erinnerten? Wir picken die Informationsrosinen aus dem Kuchen, die unsere Annahmen stützen. Wir alle tun das. Es ist menschlich. Denn wir suchen Sicherheit in einem für uns stimmigen Weltbild. 

Genau dieses Bedürfnis wird von den Algorithmen der Suchmaschinen bedient. Sie bieten uns Bestätigung durch Vorauswahl von Informationen. Jede neue Bestätigungsschleife hinterlässt tiefere Spuren in unseren neuronalen Strukturen. So wird diese Perspektive der Welt realer. Und als zutiefst soziale Wesen suchen wir in den Echokammern der sozialen Netzwerke Zuspruch für unsere Erklärungen der Welt und Verständnis für unsere Wut. Doch der andauernde Zirkelschluss zwischen Gefühl und Gedanken treibt das polarisierende Geschehen voran und reißt immer tiefere Gräben zwischen uns auf. 

Lasst uns einen Schritt zurücktreten und anerkennen: Unser Verstand bildet nicht die Wahrheit ab. Karte und Gelände sind nicht dasselbe. Binsenwahrheiten ja, aber zugleich beinhaltet jede Sicht eine Perspektive, die zum Ganzen gehört. Wie fehlgeleitet sie mir auch erscheinen mag – kann ich sie hören, sie anschauen und das darin versteckte Signal erkennen? Was macht uns so sicher, dass unsere Ansicht die ganze Wahrheit beinhaltet? 

Die sozialen Medien haben neue Formen und Möglichkeiten des Miteinanders geschaffen. Ich denke, wir sollten uns zugestehen, dass wir noch nicht wissen, wie wir damit umgehen sollten. Wir brauchen neben neuen Medien auch neue soziale Techniken und einen entsprechenden inneren Reifungsschritt. Denn Angst und Stress bringen bisweilen skurrile Thesen hervor. Soll und darf das überall unzensiert erscheinen? Die Freiheit der Rede ist ein hohes Gut. Die sich ihrer lautstark bedienen und sie einfordern, seien erinnert, dass Freiheit ohne Verantwortung unvollständig, weil unreif ist. Auch dieser hohe Wert der Demokratie kann zu einer Ideologie umfunktioniert und dann missbraucht werden. Meinungsvielfalt ja, aber Meinungen und Fakten sind nicht dasselbe. Was ist die Quelle einer ›Information‹? Ist sie überprüfbar und valide? 

Was macht uns so sicher, dass unsere Ansicht die ganze Wahrheit beinhaltet?

Wir brauchen ein Einmaleins in Medienkompetenz. Journalismus ist ein Beruf. Er lebt von Regeln und Ethik im Umgang mit Informationen, auch wenn Finanzinteressen und Lobbyismus dies inzwischen ausgehöhlt haben. Im Internet sind wir alle kleine Journalisten und senden Mikronachrichten in die Welt, die Wirkungen haben. Welcher Ethik folgen wir da? An einer Welt jenseits aller faktischen Wahrheiten kann uns kaum gelegen sein. Beruht unser Zusammenleben doch auf Ordnungen und Prinzipien, die wir respektieren und wertschätzen sollten. Redefreiheit als absolut zu fordern, ebnet jedes Unterscheidungsvermögen ein und negiert in letzter Instanz kulturelle Errungenschaften, die die Redefreiheit überhaupt erst hervorgebracht haben. 

Ist es deshalb gerechtfertigt, Youtube-­Kanäle zu löschen? Oder wann ist es gerechtfertigt? Fragen, auf die wir gemeinsam erst noch Antworten finden müssen. Die Macht des digitalen Feudalismus großer Medienhäuser ist aus meiner Sicht kein demokratisch legitimierter Weg, dies zu tun. Doch Regeln des Umgangs brauchen wir. Sonst zerbricht die Ökologie der Informationswelt und unseres vertrauensvollen Zusammenlebens.

In komplexen Situationen und Systemen gibt es keine einfachen Lösungen. Viele positiv motivierte Entscheidungen hatten im Verlauf der Pandemie auch negative Konsequenzen, die inzwischen immer mehr Menschen spüren. Welche Auswirkungen anderthalb Jahre Masken in den Schulen und monatelanger Onlineunterricht auf Kinder und ihre Entwicklung haben werden, wird erst die Zukunft zeigen. Der Absturz ganzer Branchen, allein Sterbende, der Einbruch der Kulturszene – die Liste ist lang. Doch alles schien gerechtfertigt, solange nur noch Intensivbetten frei waren. 

Mir scheint, dass viele seelische Schäden recht leichtfertig als Kollateralschaden der Maßnahmen in Kauf genommen wurden und werden. Dazu gehören auch einige Diskussionen um Systemrelevanz und staatliche Hilfen. Hier offenbart sich ein Menschenbild, in dem die Polarität von Körper und Geist eben kein Ganzes bildet, sondern es entsteht Polarisierung zugunsten einer Seite. Ärger und Wut darüber, wie ungenau sie sich auch artikulieren, werden zu wenig gehört und integriert. 

Ich habe mir im Laufe der Pandemie angewöhnt, die Gefühle meines Gegenübers anzuerkennen, ohne mich vom dazugehörigen Narrativ vereinnahmen zu lassen. Vieles macht auch mich wütend. Nur sind meine Begründungen oft andere. Wir erkennen doch die Trauer eines Menschen an, auch wenn wir seinen Verlust nicht als den unseren erleben. Genauso könnten wir mit der Wut oder der Angst unserer Mitmenschen verfahren. 

Wir können in jedem Kontakt mit einer wirklich anderen Meinung oder Sichtweise unsere eigene Konditionierung und unseren Schatten spüren. In Form von Abwehr, Beschämung oder Verächtlichmachung des Anderen, im Rechthabenwollen, im Abwinken oder Zurückziehen. Dabei könnten wir neugierig nachfragen, wie der andere zu seiner Sicht gekommen ist. Wir könnten versuchen, den Aspekt der Wirklichkeit zu erkennen, der sich im und durch den anderen Menschen ausdrückt. Besonders dann, wenn er uns bisher fremd erschien. Aus dem Ganzen betrachtet steckt in jeder Geschichte eine Botschaft, ein Signal, das wir hören können, wenn wir bereit sind dazu. 

Wir brauchen Mitgefühl mit unseren eigenen Begrenzungen, naiven Erklärungsversuchen und hilflosen Strategien. Daran möchte ich mich immer erinnern. Wann immer ich vom hohen Ross meiner Individualität heruntersteige und sagen kann: »Ich brauche dich und erkenne, wir brauchen einander«, bricht der Eisenring um mein Herz. Dann weiß ich, ich brauche auf keiner Wahrheit mehr zu bestehen, da wir zusammen immer mehr Wahrheit sehen, als ich allein es je könnte. Daraus kann ein Verstehen wachsen für ähnliche Mechanismen bei meinen Freunden, Kollegen, Fremden – und mir Begegnung innerhalb gegensätzlicher Standpunkte bescheren. 

Wir brauchen Respekt. Respekt für das, was menschlich ist in uns selbst und das in jedem anderen Menschen wohnt. Wir alle haben Schatten. »Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Menschen«, erinnert uns Alexander Solschenizyn. Es ist Zeit, dafür in Verantwortung zu gehen. Sonst werden wir sie immer wieder als Polarisierung im Außen erschaffen. 

Und zugleich, was wäre die Welt ohne die kreative Spannung der Pole? Nichts würde sich bewegen. Alles wäre still. Wie käme der Geist vorwärts ohne These und Antithese? Ist es nicht Eros selbst, der diese Spannung gebiert und der sie zugleich transzendiert? Lasst uns Pole und Unterschiede feiern. Polarisierung endet immer dann, wenn unser Herz im Ganzen ruht.  

Author:
Sven Werchan
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