Weise und Hexen

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Essay
Publiziert am:

April 17, 2023

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Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Männliche und weibliche Weisheitsarchetypen

Die männlichen und weiblichen Jung‘schen Archetypen für Weisheit sind sehr unterschiedlich. Wir können das Symbol und die kulturelle Rolle des weisen Mannes leicht verstehen. Aber was ist mit der alten Weisen oder der Hexe? Was bietet sie uns als Weisheit an? Was können wir von ihr lernen?

Das Altwerden übt eine gewisse Faszination aus. Es geschehen seltsame Dinge, die man vielleicht schon einmal bemerkt hat, aber über die man nie wirklich nachgedacht hat. Frauen bekommen Gesichtsbehaarung, Männer verlieren ihre Bärte. Die Körper der Männer werden weicher, sie entwickeln Brüste. Die Brüste der Frauen hängen herab. »Es ist, als würde man wieder neutral«, sagte eine Freundin in den Siebzigern einmal zu mir. »So wie Kinder vor der Pubertät oft neutral sind. Mit dem Altwerden kehrt man zum Neutrum zurück.«

Ich würde den Begriff »neutral« nicht so verwenden, wie es meine Freundin getan hat, aber die Unterschiede zwischen älteren Männern und Frauen verringern sich tatsächlich mit zunehmendem Alter. Obwohl die Falten der Frauen diese oft eher in das Reich der Unsichtbarkeit verbannen, während die alternden Gesichter und zurückweichenden Haaransätze den Männern tendenziell eher Autorität verleihen, werden beide in diesem Lebensabschnitt sowohl mit der Sterblichkeit als auch mit der Frage nach dem, was am wesentlichsten ist, konfrontiert.

Dies wird wohl größtenteils und auch ganz offensichtlich der Grund dafür sein, dass die kulturellen Archetypen der Weisheit durch den alten Mann und die alte Frau verkörpert werden. Gut gelebte Leben, gelernte Lektionen, Lebenserfahrungen, die sich zu teilen lohnen. Doch die üblichen Archetypen der Weisheit sind in tiefen Unterschieden verwurzelt. Weibliche Weisheit unterscheidet sich von der Klugheit des weißbärtigen männlichen Alten, dessen Weisheit nicht durch das Wort »männlich« relativiert wird. Der Mann besitzt die eigentliche Weisheit; sie dagegen hat etwas, das ihrem Geschlecht eigen ist. Schauen Sie sich die gängigen Bezeichnungen für die weisen Archetypen an: Er ist ein Weiser, ein Philosoph oder ein Gelehrter; sie ist das alte Weib, die Großmutter oder die Hexe. Im Vergleich zu den edlen Positionen des weisen Mannes ist die weise Frau entweder hässlich, heimelig oder unheimlich. Die Kluft zwischen den beiden ist bemerkenswert.

Wenn die Hexe oder das alte Weib für »weibliche Weisheit« steht, was bedeutet das? Welche Geheimnisse trägt die Hexe? Könnte man etwas Wesentliches von ihr lernen? Und ist es überhaupt klug, unsere Weisheit nach Geschlechtern aufzuteilen?

Die Freiheit des Außenseiters

Wie Mädchen vor der Pubertät fallen auch Frauen nach der Menopause aus dem Narrativ der romantischen Liebe und Mutterschaft, die zu den Archetypen der westlichen Kultur gehören, heraus. Damit sage ich nicht, dass es im Leben älterer Frauen keine tiefe Intimität mehr gibt. Ganz und gar nicht – für manche Frauen ist dies die Zeit der sexuellen Befreiung. Und sie eröffnet noch weitere Freiheiten. Wenn die eigene Existenz von einer Kultur, die Jugend und Schönheit fetischisiert, weitgehend ignoriert wird, eröffnet sich ein neues Potenzial, sich von Zwängen zu befreien, die den Frauen durch die kulturellen Erwartungen auferlegt wurden.

»Nur wenige von uns erkennen, wie sehr wir von den Systemen kolonisiert werden, die unser Leben bestimmen.«

Wie kann man diese Freiheit weise nutzen? Während ich dies schreibe, steht eine liebe Freundin von mir, eine Großmutter, die gerade siebzig Jahre alt wird, in England wegen des Straftatbestands der »Erregung öffentlichen Ärgernisses« vor Gericht. Sie ist eine radikale Klimaaktivistin. Als Teil von Insulate Britain, einer Gruppe, die die britische Regierung auffordert, Wohnungen zu isolieren, um den Verbrauch von Öl und Gas beim Heizen zu reduzieren, beteiligte sich meine Freundin an der Blockade einer Hauptverkehrsstraße und wurde mehrfach verhaftet. Ihre Mitstreitenden sind sowohl ältere Menschen wie sie selbst als auch jüngere, oft unter dreißig Jahren. Die meisten der jungen Leute kämpfen für eine Zukunft, die ihnen ihrer Meinung nach genommen wurde. Meine Freundin entschied sich für die Teilnahme, weil sie inzwischen von den Verpflichtungen befreit ist, für ihre Tochter und sich selbst zu sorgen. Deshalb hat sie sich für ihre Enkelkinder und deren Zukunft in Gefahr begeben – und sie hat das Glück, über diese Freiheit zu verfügen.

Meine Freundin hat ihr ganzes Leben nach spiritueller Befreiung gestrebt und dabei entdeckt, dass das bewusste Brechen von Gesetzen, selbst unter Inkaufnahme einer Gefängnisstrafe, sehr befreiend ist. Natürlich kommt auch Angst auf, aber ein Teil dieses Gefühls entstammt einer schwindelerregenden Freiheit. Wir müssen nicht innerhalb der Grenzen leben. Trotz der drohenden Gefahr des Entzugs körperlicher Freiheit entsteht eine andere Art von Freiheit, wenn man die Dynamik von Macht als das erkennt, was sie ist.

Außenseiterwissen

Nur wenige von uns erkennen, wie sehr wir von den Systemen und Strukturen kolonisiert werden, die unser Leben bestimmen. Sie leben in uns, geben sich als unser Selbst aus, gestalten unsere Identitäten und beeinflussen unsere ängstlichen Prioritäten in der Sehnsucht nach sozialer Anerkennung, die uns auf Linie hält. Eine tiefere Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung entsteht, wenn wir bewusst hinter den Spiegel blicken, anstatt auf unser Bild im Spiegel fixiert zu sein. So als würde man eine Aufführung hinter der Bühne verfolgen, beginnt man zu erkennen, wie die Illusionen einer hell erleuchteten Welt durch Choreografie und Scheinwerferlicht erzeugt werden.

Außenseiterwissen, wie es die schwarze feministische Dichterin und Essayistin Audre Lorde nannte, ist eine mächtige Quelle der Weisheit. Lorde beanspruchte diesen Begriff für diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft befanden, die historisch gesehen keinen Zugang zu Anerkennung, Unterstützung und Ressourcen hatten, um an den »Belohnungen« teilzuhaben, die eine Kultur zu bieten hat. Deren Existenz ist jedoch gleichzeitig eine Kritik an den Werten, die bestimmte Dinge und Menschen gegenüber anderen hervorheben. Dies ist die Quelle der Außenseiter-Weisheit.

Die Grenzen zwischen Innen und Außen verändern sich, wenn mehr Stimmen und Erfahrungen in den kulturellen Dialog einbezogen werden. Aber die alte Frau lebt immer noch als Außenseiterin, vielleicht in enger Verbindung mit ihrer Familie, aber in der Regel unsichtbar als eine Person mit über sich selbst hinausweisender Gewichtung und Bedeutung. Ihre Fähigkeit zur Weisheit hängt in hohem Maße von ihrer Gabe ab, die Fiktionen über Frauen zu entlarven, die sie unsichtbar zu machen versuchen. Und das bedeutet nicht, sich als jung ausgeben und versuchen zu wollen, wie eine junge Frau auszusehen oder zu handeln. Darin liegt weder Freiheit noch Weisheit.

Die Geheimnisse der Hexe

Der Außenseiterstatus der alten Frauen in der westlichen Kultur spiegelt sich im Archetypus des alten Weibes oder der Hexe wider. Anders als der weise ­alte Mann, den C. G. Jung als jemanden beschreibt, der Wissen und Leistungsfähigkeit besitzt: »Nachdem er sich einer Sache bewusst geworden ist, hat er sie aus der dunklen Welt des Unbewussten herausgeholt und ans Tageslicht gebracht«, schreibt Jung in »Symbole der Wandlung«. Die Hexe hingegen ist Teil dieser dunklen, unbewussten Welt. Ihre Existenz liegt außerhalb des Bewusstseins.

Jungs Werk ist komplex und vielschichtig und hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Er beschäftigte sich eingehend mit der Hexe und der weisen alten Frau. Jung stellte der rationalen Weisheit und den Errungenschaften des weisen Mannes die emotionalen, intuitiven und kreativen Fähigkeiten seines weiblichen Gegenstücks gegenüber. Dieses rational-männliche und emotional-weibliche Bild ist in seiner Allgegenwart archetypisch für den modernen Westen und wurzelt in der Geschlechtertrennung. Jungs Ansicht, dass diese weibliche Weisheit im Unbewussten lebt, das den hellen Lichtern und der Linearität der Rationalität verborgen bleibt, spiegelt eine Wahrheit wider, die sowohl psychologisch als auch sozial wirksam ist.

»Es ist ein Prozess des Werdens, den man nicht im Voraus wissen kann.«

Welche Geheimnisse birgt also das alte Weib? Verbunden mit der Geburt und der Erde hat die Hexe Vertrauen in die lebendige Kraft der Schöpfung. Für die rationalen Kontrollmechanismen der modernen Gesellschaft mag sie zwar eine Außenseiterin sein, aber sie steht mitten in der Fruchtbarkeit des Lebens, nicht außerhalb davon. Die Weisheit, die sie mitbringt, besteht darin, loszulassen und dem Lebensprozess zu erlauben, ihr den Weg zu weisen. Es ist ein Prozess des Werdens, der in dem Sinne »dunkel« oder verborgen ist, dass man nicht im Voraus wissen kann, wie er sich entfaltet. Aus den Gasen Wasserstoff und Sauerstoff entsteht Wasser, eine Flüssigkeit. Das war nicht vorhersehbar. Was jetzt neu entsteht, ist auf den Karten, in den Modellen und Rastern, die die Zukunft vorherzusehen und zu kontrollieren versuchen, nicht zu erkennen. Emergenz, die schöpferische Kraft des Kosmos, ist ein Geheimnis, das alles lebendige Leben auf diesem Planeten und auch uns selbst hervorgebracht hat. Die Hexe trägt dieses Geheimnis in ihrer Brust.

Die Weisheit der Hexe ans Licht bringen

Jung war sich dessen bewusst, dass es in der modernen westlichen Kultur ein Ungleichgewicht zwischen den Archetypen Alter Mann und Alte Frau gibt. Der Senex, der Weise, wird geschätzt und gewürdigt, während die Hexe, im Leben und als psychisches Bild, abgetan wird. Die Macht des schöpferischen Impulses und der Lebenskraft der Natur im Dunkeln zu halten, scheint eine Voraussetzung für den Missbrauch der natürlichen Welt durch die Menschheit zu sein. Wie können wir die Weisheit der Weisen Alten Frau ins Licht bringen?

Jung stellt fest, dass diese beiden Archetypen in jedem von uns existieren. Beide, der Weise und die ­Hexe, schwirren in der Psyche von Männern und Frauen umher. Doch das Reich der Psyche und ihrer archetypischen Symbole ist eng mit der Kultur verbunden, in der Frauen und Männer aus Fleisch und Blut leben. Der Außenseiterstatus der alten Frauen erschwert es der Hexe, ihre Weisheit mit anderen zu teilen.

In dieser Zeit der Ungewissheit und des Kollapses bleibt keine Zeit mehr für die Gesellschaft, ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herzustellen, um die Hexe so weit hervorzuheben, dass sie dem Weisen zur Seite steht. Die Konzentration auf das Weibliche oder das Weiblich-Göttliche, die in einigen Kreisen stattfindet, ist der Versuch, die Dinge sowohl in der sozialen als auch in der archetypischen Welt zurechtzurücken. In der Regel handelt es sich dabei um einen reinen Frauenraum, der die Unterschiede zwischen Frauen und Männern erneut zementiert. Aber ist das wirklich der richtige Weg?

»Unsere Fähigkeit, unseren Weg in der Dunkelheit zu finden, hängt von unserer Fähigkeit ab, dem schöpferischen Prozess zu vertrauen.«

Wir alle, Frauen und Männer, werden in die Dunkelheit des Unbekannten gezogen – die Bewältigungswerkzeuge und Beweggründe, die uns so weit gebracht haben, werden uns entrissen. Unsere Fähigkeit, unseren Weg in der Dunkelheit zu finden, hängt von unserer Fähigkeit ab, dem schöpferischen Prozess, dessen Teil wir sind, zu vertrauen und uns in ihn hineinzuentspannen – das ist der Beitrag des Archetyps der Hexe. Aber es hängt auch von unserer Fähigkeit ab, Einsichten und Wissen aus dieser Dunkelheit in das Licht des Bewusstseins zu bringen – das ist der Beitrag des Archetyps des Weisen. Und anstatt diese Prozesse nach Geschlechtern zu trennen, müssen in einer Kultur, in der die tiefen archetypischen Bilder unserer Psyche die bestehende soziale Dynamik widerspiegeln, beide von Menschen, die in einer sich verdunkelnden Welt leben, eingefordert und entwickelt werden.

Ich bin besorgt darüber, dass wir Weisheit in der sozialen Dynamik gefangen halten, wenn wir uns auf das Weibliche und das Männliche fokussieren. Wenn wir aber tiefer in den Prozess der Emergenz einsteigen, was einem Eintauchen in die Dunkelheit und einem Hervorbringen ans Licht entspricht, wird ein anderer, neutralerer Weg sichtbar, der den kulturell entstandenen Ballast der Geschlechter übersteigt. Können wir die Fähigkeit, alles im Nichtwissen zu öffnen und zu halten, als die Liebe der Agape erkennen? Und die Bewegung des Hervorbringens ans Licht als die Liebe, die Eros ist? Nach Auffassung des Philosophen Ken Wilber ist Agape archetypisch weiblich und Eros männlich. Aber es ist nicht erforderlich, diesen Schachzug zu machen. Jede und jeder von uns Menschen, der und die daran arbeitet, ihre und seine Menschlichkeit in dieser Zeit des großen Übergangs zu entwickeln, muss beides in sich tragen und beide in ihrer Verkörperung kultivieren. Dann kann ein neuer Mensch, der die tiefsten Qualitäten dessen vereint, was in zwei Geschlechter aufgeteilt wurde, zum Gefäß für die Emergenz der heute so nötigen Weisheit werden.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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