Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 5, 2018
Medien sollten die Wirklichkeit möglichst vollständig beschreiben. Tatsächlich jedoch herrschen negative Nachrichten vor. Mit fatalen Folgen für Journalisten und Konsumenten.
Werden die Deutschen nach ihren persönlichen Zukunftsaussichten befragt, äußert sich die Mehrheit optimistisch. Geht es jedoch um die Zukunft des Landes oder um globale Fragen, überwiegen Gefühle von Angst, Ohnmacht und Überforderung. Ich erkläre mir diese Kluft so: Einschätzungen in unserem direkten Umkreis können wir auf eigene Erfahrung stützen. Für Informationen, die über diesen Radius hinausgehen, sind wir auf Medien angewiesen. Sie informieren uns jedoch keineswegs neutral über die Weltlage. Vielmehr ist eine Neigung zur Negativität zu beobachten, die mittlerweile auch empirisch belegbar ist.
Die kollektive Tendenz in der Medienlandschaft besteht darin, Kriminalität, Kriege und Katastrophen überzubetonen; Einzelfälle ausgenommen. »If it bleeds, it leads« lautet ein geflügeltes Journalistenwort: Wenn Blut fließt, kommt es auf die Titelseite. Heutzutage wird über jeden Mordfall weit häufiger berichtet als früher. Das hinterlässt deutliche Spuren in der Welt-Wahrnehmung der Konsumenten. Das Niedersächsische Institut für Kriminologie befragte mehrfach die Bundesbürger, wie sie die Entwicklung der Mordrate in den vergangenen zehn Jahren einschätzen. Jedes Mal tippten die Befragten auf eine starke Zunahme – während es tatsächlich immer weniger Morde gibt. Die Folge ist, dass Bürger von der Politik schärfere Gesetze und härtere Urteile fordern, obwohl alle Experten um deren Unwirksamkeit wissen.
Die Kriminologen sagen auch deutlich, wem sie die Verantwortung für diese Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit geben: den Medien und ihrer Fixiertheit auf Gewalt, Bedrohung und Misslingen. Sie können, so der verstorbene schwedische Statistikprofessor Hans Rosling, »der Versuchung nicht widerstehen, unseren Instinkt der Angst zu befeuern. Es gibt kaum eine einfachere Methode, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln.«
Der Weg zur Ganzheit führt nicht um die Angst herum, sondern mitten hindurch.
Es geht jedoch nicht um Journalisten-Schelte. Das wäre zu einfach gedacht. Medien sind Systeme, zu denen auch die Nutzer gehören. Solange sie emotionalisierende und dramatisch eingefärbte Berichte bevorzugen, wird es Medien geben – erst recht unter dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Druck –, um sie zu bedienen.
Angst ist eines unserer stärksten Gefühle. Das hat evolutionäre Gründe. Angst alarmiert uns seit Urzeiten, wenn Gefahr droht. Dann ist schnelle Reaktion angesagt. Zwar sind heutzutage direkte Gefahren »für Leib und Leben« selten geworden. Doch wer es schafft, Angst auszulösen, kann sich immer noch ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein. Sie ist das knappe Gut in der gegenwärtig herrschenden Aufmerksamkeitsökonomie.
Worauf also fokussieren wir? 2016 gab es rund 40 Millionen Passagierflüge, es ereigneten sich 19 Unfälle, bei denen Menschen umkamen. Das entspricht 0,00005 Prozent aller Flüge. Es war das zweitsicherste Jahr der Luftfahrtgeschichte. Und dennoch waren es die Abstürze, die die Schlagzeilen beherrschten. Die (Flug)Angst der Menschen wird gefüttert.
Was hat der Nutzer davon? Eine psychologische Erklärung ist: Er kann Angst projizieren. Das Furchterregende spielt sich da draußen ab, in der Welt, bei den anderen. Nicht bei mir. Ich kann Angst verdrängen, muss sie nicht fühlen. Indem sie in großen Lettern auf Papier gedruckt wird, entsteht die Illusion von Kontrolle, »ich hab’s im Griff«. Mit anderen Worten bedienen Medien, wenn sie den Wolf der Angst füttern, das Bedürfnis vieler Menschen nach Verdrängung. Damit einher geht ein gravierender Realitätsverlust. Der Weg zur Ganzheit führt nicht um die Angst herum, sondern mitten hindurch.
Auf gesellschaftspolitischer Ebene profitieren Populisten von einem Klima der Angst. Ihre Botschaft an die Wählerschaft lautet: »Für all die komplexen, angsteinflößenden Probleme habe ich eine ganz einfache Lösung.« Mauern zwischen Ländern, Ausweisung von Ausländern, mehr Polizei und härtere Strafen: Damit profilieren sie sich als Retter in der Not.
Wir Journalisten können entscheiden, welchen Wolf wir füttern: den der Angst oder den der Liebe zur Wahrheit. Wir haben die Aufgabe, ein möglichst vollständiges Bild der Wirklichkeit zu zeichnen. Dazu gehören neben Problemen eben auch Lösungen, neben Gewaltkonflikten auch erfolgreiche Friedensschlüsse, neben gesellschaftlichen Missständen auch sozialer Fortschritt. Als ich vor zehn Jahren begann, konstruktiven Journalismus zu betreiben und ihn in Deutschland bekannt zu machen, war die gängige Kollegenreaktion eine starke Abwehr: »Heißt das etwa, wir berichten destruktiv?«
Mittlerweile gibt es immer mehr Medien, die verstärkt über Lösungen berichten, sogar der »Spiegel«, einst so etwas wie das Wochenblatt für Apokalypse, heute beispielsweise mit einer Kolumne »Früher war alles schlechter«, in der globale Fortschritte anhand unbestreitbarer Fakten dargestellt werden. NDR Info, Arte und ZDF haben eigens Sendeplätze eingerichtet, auf denen Geschichten des Gelingens erzählt, Auswege dargestellt, erfolgreiche Modelle thematisiert werden.
Ich selbst erlebe diese Facette von Berichterstattung als besonders sinnstiftend und erfüllend. Sie ermutigt Menschen und stärkt ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit. Bei meinen Recherchen erlebe ich, wie es Organisationen, aber auch einzelnen Menschen gelingt, auf kreative Weise gesellschaftliche Probleme zu lösen – das inspiriert mich in meiner Arbeit immer wieder neu.
Was können Mediennutzer selbst tun? Gesunde Nahrung für den Körper wird mittlerweile von den meisten Menschen als wichtig erkannt. Sie ernähren sich mit Bio-Produkten, vegetarisch oder vegan. Eine ähnliche Haltung brauchen wir auch für geistige Nahrung. Eine bewusste Denk-Diät. Wir sollten aufhören, uns dem Dauerbombardement bedrohlicher, aufgebauschter Nachrichten auszusetzen. Und stattdessen Medien konsumieren, die sorgfältige Recherche, Reflexion und einen offenen Geist pflegen. Und die auch von der hoffnungsvollen Seite des Lebens berichten. Davon gibt es Gott sei Dank immer mehr.