Im Spektrum: Wenn die Erde uns fragt

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 30, 2020

Featuring:
Bayo Akomolafe
Charles Eisenstein
Sylvia Kéré Wellensiek
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Issue:
Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Der Klimawandel und die ökologische Krise scheinen auch eine Frage an unsere Lebensweise und unser Selbstverständnis als Menschen zu sein. Wie können, ja, wie müssen wir uns verändern, um auf diese Frage zu antworten? Wir haben fünf Menschen, die sich aus verschiedenen Beweggründen mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen auf uns Menschen befassen, gefragt:

Was ist die wichtigste Fähigkeit, welche wir als Menschheit entwickeln müssen, um auf den Klimawandel wirksam antworten zu können?

Bayo Akomolafe

Ich sehe Fähigkeiten an sich nicht als menschliche Eigenschaften. Wenn wir ökologisch denken, dann entstehen Fähigkeiten aus den Beziehungen, die wir mit Umgebungen pflegen – deshalb sind sie keine Merkmale, die wir »besitzen« können. Wichtiger noch ist, dass meine kulturellen Visionen für diese bedrohten Zeiten mir nahelegen, dass dies (Ihre Frage) nicht die »richtige« Frage sein könnte: Die undurchdringlichen Mauern, die wir um die moderne Zivilisation gebaut haben, wurden durchbrochen und mit dem »Klimawandel« erfahren wir ein Eindringen »heidnischer« Körper. Dieses Einsickern verringert die Stabilität, die ein Merkmal des Anthropozentrismus war. Als solche werden wir als Flüchtige neu erschaffen. Und was Flüchtige gut können, ist rennen und sich verstecken.

Bei der Flüchtigkeit geht es um den Übergang, es ist die Sklavenbefreiung aus der gegensätzlichen Seinsweise und bewohnt andere Seiten der Macht. Allgemein gesprochen erscheint mir dieses Narrativ des Übergangs, des Gangs durch die Tiefe, nicht als ein triumphales Erlangen neuer Fähigkeiten, mit denen wir angenehmerweise unsere Probleme lösen können. Nein. Ich spüre eine Geschichte der Unfähigwerdung, nicht die Entwicklung von Fähigkeiten. Eine Geschichte des Niedergangs, nicht des Aufstiegs. Aber natürlich ist dieser Niedergang schöpferisch: Er wird uns neue Sinne, neue Gesten, neue Möglichkeiten und sogar neue Fähigkeiten eröffnen. Aber im Geiste, der diesen Niedergang würdigt, ist es wahrscheinlich angemessener, nicht zu viel und zu überzeugt darüber zu sprechen, was diese neuen Fähigkeiten sein könnten.

Dr. Bayo Akomolafe, Psychologe, Aktivist und Autor

Liane Dirks

Das Herz aufreißen, mutig sein, lieben: diese Welt, diese Schönheit, diesen Wahnsinn. Und dann noch mehr lieben und wissen, dass zum Lieben nicht nur das Ja gehört, sondern manchmal auch das sehr entschiedene Nein. Und es aussprechen, wenn es nötig ist, und es aushalten, wenn es weh tut, und geradestehen und stehen bleiben, wenn die Antworten noch nicht mal mehr diskutierbar sind. Endlich wieder darauf vertrauen, dass wir es alle in uns haben, dieses tiefe Wissen um richtig und falsch, und verstehen, dass zum Handeln dennoch der Irrtum gehört. Und dass dies auch für die Wissenden und Besorgten gilt. Und deshalb: im Spiel bleiben. Die Schöpferkraft als inhärentes Prinzip nicht nur behaupten, sondern leben. Bis zum letzten Atemzug.

Die Welt ist eine Schöpfungsgeschichte und wir schreiben mit. Das Kapitel, an dem wir angelangt sind, heißt: die Entscheidung. Diesmal müssen wir keinen Drachen bekämpfen, sondern neue Wege gehen und neue Landschaften entwerfen. Das haben wir noch nie gemacht, das ist wahres Neuland. Darum helfen weder Schwert noch Rüstung. Diesmal hilft nur eins: Das Herz aufreißen, mutig sein, das Leben lieben, bis es schmerzt, und losgehen. Und sicher sein: Wir werden geführt. Mit uns, durch uns und über uns. (So schlagen wir ein neues Kapitel auf und grad ist mir so, als hörte ich von dort drüben ein Jauchzen.) Mit wundem Herzen in der Freude bleiben und ins heilende Handeln gehen. Das Abenteuer wahren Menschseins fängt gerade erst richtig an.

Liane Dirks, Schriftstellerin, Autorin des »Climate Fiction«-Buches »Falsche Himmel«.

Charles Eisenstein

Die wichtigste Fähigkeit ist Empathie. Der Grund, warum wir als Gesellschaft unfähig sind, auf die ökologische Krise zu antworten, ist, dass wir einen Großteil unserer Energie dazu verwenden, gegeneinander zu kämpfen, sei es militärisch, politisch oder auf andere Weise. Eine stark polarisierte Gesellschaft kann nichts anderes tun als zu kämpfen – stellen wir uns nur vor, dass auf der Titanic, im Raum des Steuermanns, ein Streit ausbricht, genau in einem Moment, der von allen verlangt, gemeinsam das Steuer fester zu ergreifen. Empathie erfordert nachzufragen: »Wie würde es sich anfühlen, wenn ich du wäre?« Es ist ein Weg, uns gegenseitig wieder zu vermenschlichen, zu verstehen, woher die verschiedenen Überzeugungen kommen. Es ist ein Teil derselben Geisteshaltung, die wir benötigen, um die Erde wieder zu heiligen, um sie wieder in das vollständige Sein zu heben. Die Hauptursache für die Umweltkrise sind nicht die Treibhausgase, sondern die Umweltzerstörung, der Ökozid: die Zerstörung der Wälder, des Bodens, der Feuchtbiotope, der Arten, usw. – das Ergebnis eines ganzen Lebensstils, der die Erde als eine Ansammlung von »Ressourcen« betrachtet. Keine technische Reparatur, wie z. B. das Auswechseln von Energiequellen, kann dieses Problem lösen. Die einzige Lösung, die in Wahrheit eine Initiation ist, besteht darin, sich wieder in die Erde zu verlieben – in jeden einzelnen kostbaren Teil von ihr.

Charles Eisenstein, Aktivist, Nachhaltigkeitsforscher, Autor von »Klima: Eine neue Perspektive«.

Thomas Bruhn

Ich tue mich schwer, mich hier auf EINE Fähigkeit zu beschränken. Tatsächlich entstehen sinnvolle Veränderungen aus meiner Sicht eigentlich stets durch das harmonische Zusammenspiel mehrerer Aspekte, die sich jeweils gegenseitig bedingen und gleich wichtig sind. Um auf den Klimawandel wirksam zu antworten, sind das aus meiner Sicht:

Eine tiefe, bedingungslose Wertschätzung für das Gesamtsystem Erde, einschließlich uns selbst. Ohne ehrliche Liebe für das Leben in uns selbst und um uns herum werden wir keine wirksamen Antworten finden.

Die Klarheit darüber, in welchen Beziehungen wir tatsächlich wirksam sind. In unserer komplexen Welt fühlen wir uns in vielen Beziehungen eher ohnmächtig und fremdbestimmt und übersehen dabei vielleicht unsere eigenen Gestaltungsspielräume, vor allem in Verbindung mit anderen.

Den Mut, diejenigen Veränderungen anzugehen, die in meinem eigenen Wirksamkeitsfeld liegen. Es macht Freude, Verantwortung selbst zu übernehmen und nicht zuerst von anderen zu fordern oder die Taten oder Versäumnisse anderer zu kritisieren.

Das Vertrauen in all jene Menschen, Akteure und Kräfte, die sich um das kümmern, was ich selbst NICHT tun kann. Niemand kann oder muss die ganze Welt bewegen. Es reicht, wenn ich selbst in meinem Umfeld den Wandel lebe, den ich für stimmig halte.

Dr. Thomas Bruhn, Forschungsgruppenleiter »Geisteshaltungen für das Anthropozän« am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam.

Sylvia Kéré Wellensiek

Aus meiner Sicht ist die maßlose Ausbeutung der Ressourcen unserer Erde, mit all ihren unabwägbaren Folgen, ein direkter Spiegel unserer eigenen inneren Ausbeutung und Disbalance. Solange wir Verletzung, Trauma und Abtrennung in uns tragen und diese Schmerzen nicht aktiv bearbeiten, müssen wir zwanghaft kompensieren. In dieser inneren, überspielten, kaschierten Ohnmacht erlebe ich die Wurzel der äußeren Geschehnisse.

Was kann ich machen? Aufhören zu projizieren und bei mir bleiben – genau hinschauen, spüren, anerkennen, bezeugen, welche Mechanismen ich bei mir selbst wahrnehme. Ich erlebe in mir die gleichen Kompensationsmuster wie bei anderen. Wir sind uns alle ähnlich! Konsequente innere Einkehr, verantwortungsvolle Ausrichtung auf eigene Heilung und Entfaltung, tägliche Rituale der Verwurzelung im eigenen Wesenskern sind der größte und mächtigste Hebel, um tragfähige Wandlungsprozesse zu initiieren. Hier verschmelzen meine persönlichen Fähigkeiten mit dem wundersamen, geheimnisvollen Gewebe der kreativen Schöpfungskraft. Die Verbindung meiner Energie mit dem großen Ganzen schenkt mir Klarheit und Ausrichtung, um im Äußeren vielfältige Handlungsspielräume zu entdecken und zu nutzen.

Es ist eine beständige Arbeit mit mir selbst. Und davon abgeleitet ein kontinuierlicher Prozess mit der Familie, mit Freunden, mit Gleichgesinnten und Andersdenkenden, um aus den Feldern der Spannung und der destruktiven Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen auszusteigen. Wir können uns gemeinsam auf einen neuen, achtsamen Boden stellen. Und wir können diese Reifungsprozesse so einfach und anschlussfähig gestalten, dass viele Menschen überall in der Gesellschaft sie verstehen und praktizieren können.

Sylvia Kéré Wellensiek, Resilienz-Coach und Autorin

Author:
evolve
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