Wenn Dinge sprechen lernen

Our Emotional Participation in the World
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Published On:

November 2, 2021

Featuring:
Chico Mendes
Kimberly Clark
Susan Stockwell
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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Susan Stockwell über ihre Kunst

Susan Stockwell wuchs in der Industriestadt Manchester in einem politisch engagierten Elternhaus auf. Mit 18 verließ sie dieses lokale Umfeld, um die Welt zu bereisen, und verliebte sich in die Kunst. Während des Studiums an der Sheffield University entdeckte sie die Bildhauerei als ihr Ausdrucksmittel. Unter Verwendung von Gebrauchsgegenständen und industriellen Materialien entwickelte sie ihre eigene ästhetische Sprache, die Bezüge zu Geschichte, Politik, Geschlechterfragen und Ökologie herstellt. Wir sprachen mit Susan Stockwell über ihren künstlerischen Prozess, in dessen ­Verlauf verschiedene Materialien für sie zu wichtigen Quellen der Inspiration wurden.

»Rumpelstiltskin« ©Susan Stockwell 2018. Image Aspex Gallery 2018

Gummischläuche – Dem Material folgen

Bei meinem ersten Projekt an der Kunstschule bekamen wir einen riesigen Haufen Sägespäne ins Atelier und hatten drei Wochen Zeit, damit zu arbeiten. Wir durften weder Kleber noch formgebende Materialien verwenden. Wir haben in der Gruppe und einzeln damit gearbeitet. Wir gruben uns gegenseitig darin ein und bliesen die Sägespäne mit Staubsaugern überallhin. Ich gestaltete eine Form für Stufen und schüttete das Sägemehl in die Form, um daraus Stufen zu formen, die scheinbar aus dem Atelier hinausführten. Und dann habe ich im Rahmen einer Performance die Stufen betreten. Das war eine sehr prägende Arbeit, weil wir so intensiv mit einem Material arbeiteten, es an seine Grenzen brachten und so erfinderisch wie möglich damit waren. Wenn ich heute mit Materialien arbeite, erforsche ich ihre Möglichkeiten und Bedeutungen und treibe sie an ihre Grenzen.

In den späten 1980er-Jahren ging ich in eine Werkstatt, um meine Reifen wechseln zu lassen, und entdeckte einen riesigen Haufen von Gummischläuchen und Reifen. Ich holte sie aus der Werkstatt und begann, damit zu arbeiten. Auf diese Weise hatte ich einen endlosen Vorrat an kostenlosem Material. Die Erkenntnis, dass ich experimentieren konnte und mir keine Gedanken über Kosten und Abfall machen musste, hat mich sehr geprägt. Ich konnte scheitern und neu anfangen. 

1991 hatte ich eine Einzelausstellung in der Mappin Art Gallery in Sheffield mit Arbeiten, die fast ausschließlich aus den Gummischläuchen hergestellt wurden. Im Zusammenhang damit erforschte ich die Geschichte von Gummi als ein wichtiges Material für die Industrialisierung. Ich las über Chico Mendes (1944 – 88), den ersten Öko-Aktivisten im brasilianischen Regenwald. Kautschuk als Grundmaterial von Gummi stammt ursprünglich aus dem brasilianischen Regenwald, ist aber sehr schwer zu ernten. Die Massenproduktion von Kautschuk in Plantagen ermöglichte u. a. die industrielle Revolution.

Chico Mendes erkannte, dass die Abholzung des Regenwaldes zerstörerisch war. Also brachte er sich mit 19 Jahren selbst das Lesen und Sprechen in Englisch bei. Er reiste um die Welt, sprach bei den Vereinten Nationen und berichtete den Regierungen, was mit dem brasilianischen Regenwald geschah. Er wurde sehr populär und machte das Problem des brasilianischen Regenwaldes bekannt. Bei seiner Rückkehr wurde er von einem Rancher erschossen. Durch seinen Tod wurde sein Engagement noch weiter international bekannt und er wurde zum Helden der Ökologiebewegung. 

Ich bin Künstlerin. Ich sehe mich nicht als politische Aktivistin.

Ich fand diese Geschichte faszinierend, und gestaltete große Installationen, für die aufgeschnittene Gummischläuche verwebt, zusammengenäht und in großen Strukturen aufgehängt wurden. Zwei oder drei Jahre lang habe ich nur mit diesem Material gearbeitet. Ich habe viel gelesen und recherchiert, was ich bei allen Werken tue, und ich begann, einige der Arbeiten zu illustrieren, die mit Chico Mendes und dem Regenwald zu tun hatten. Aber bald merkte ich, dass diese Herangehensweise nicht sehr interessant war. Sie war illustrativ und eindimensional. Wenn ich aber direkt mit dem Material arbeitete, mich darauf einließ und meine Möglichkeiten ausdehnte, indem ich darauf reagierte und antwortete, dann wurde die Arbeit viel interessanter und vielschichtiger in Dynamik und Bedeutung. Diese vielschichtige Lesart ist für mich als Bildhauerin wichtig. Ich illustriere nicht, ich versuche nicht, bestimmte Themen zu vermitteln. 

Ich arbeite sehr intuitiv. Ich stimme mich auf das Material ein. Ich recherchiere viel, aber dann vergesse ich es und arbeite im Atelier mit dem Material und sehe, was dabei herauskommt. Ich tauche völlig darin ein, intellektuell, körperlich und kreativ. Ich versetze mich in einen Zustand, den ich nur als meditativ beschreiben kann. Ich arbeite mit dem Material, spreche damit, lasse die Arbeit ruhen und kehre zurück, und dieser Prozess führt zu etwas Neuem, Größerem, Komplexerem. Es ist ein sehr langsamer Prozess, oft dauert es Jahre, bis eine Idee ihr Potenzial erreicht. Ich arbeite auch als Reaktion auf Räume, berücksichtige ihre Geschichte und Funktionen sowie ihre physischen Eigenschaften. Das Werk führt ein Eigenleben, es ist ein kreativer Prozess, der mich in neue Gefilde führt, es ist eine Entdeckungsreise. 

Toilettenpapier – Stabile Vergänglichkeit

Anfang der 90er-Jahre verließ ich Sheffield und ging an das Royal College of Art in London, um ein Postgraduiertenstudium zu absolvieren. Dort habe ich fragile organische Formen aus Pappmaché und Toilettenpapier hergestellt. Ich wollte die Realität des Todes und Verschwindens erforschen. Eine entscheidende Erkenntnis kam mir, als ich eine große Menge Toilettenpapier von Kimberly Clark besorgte. Ursprünglich wollte ich es für die Herstellung von Pappmaché-Formen verwenden, aber mir wurde schnell klar, dass es von Natur aus zerbrechlich ist und ich es nicht auf diese Weise umgestalten musste. Von da an habe ich viel mit Toilettenpapier experimentiert. Ich habe es aufgehängt und bin hindurchgesprungen. Ich habe darauf gemalt und Löcher hineingeschnitten. Schließlich fing ich an, es aufzustapeln, und es entstanden solide aussehende Blockformen. Ich benutzte kein Wasser oder Klebstoff, ich stapelte sie zu großen Formen, auf die ich mich legte, um sie zu verfestigen. Sie sahen aus wie Travertin-Marmor, und doch waren sie so unbeständig.

In dieser Zeit lernte ich viel über Toilettenpapier, woher es kommt und wofür es verwendet wird. Es heißt, es sei nachhaltig, aber das ist es überhaupt nicht, es werden riesige Waldflächen zerstört. Eigentlich brauchen wir es gar nicht. Es ist ein Luxusgut, das wir im Westen benutzen, ohne zu wissen, was wir damit anrichten. 

Nachdem ich das Toilettenpapier für eine Ausstellung verwendet hatte, ging es zurück an die Fabrik, um zu normalem Toilettenpapier verarbeitet zu werden. Ich habe es nur ausgeliehen. Ihr Klopapier zuhause könnte also einmal Kunst gewesen sein! Dieses Prinzip zieht sich durch alle meine großen Arbeiten. Ich mache das zum Teil aus logistischen Gründen, weil man diese Materialien nicht lagern kann. Aber auch, weil es Sinn macht; es geht zurück in die Produktionskette. Es ist ein Kreislauf. Ich schaffe Skulpturen, aber ich produziere keinen Müll.

Computerteile – Eine Architektur der Information

2007 ging ich nach einem Aufenthalt in Nanjing, China, nach Taiwan und arbeitete einige Monate im Taipei Artist Village. Es war fantastisch, denn es war voll von Schriftstellern, Kuratoren, Künstlern, Tänzern und Musikern aus der ganzen Welt. Das war eine wichtige Zeit, nicht nur wegen der Arbeiten, die ich gemacht habe, sondern auch wegen der Dialoge, die ich mit all diesen kreativen Menschen geführt habe, und wegen der Freundschaften, die entstanden sind. 2008 wurde ich erneut von der Hong Foundation eingeladen und schuf eine Installation aus drei Tonnen Computerkomponenten, die von Panasonic zur Verfügung gestellt worden waren, die dann in deren Ausstellungsraum gezeigt wurde. Ich habe die Ausstellung »B-Side Ecology« mit recycelten Computerteilen gestaltet, die wie Stadtansichten der lokalen Architektur aussahen, wenn man sie aus einem Flugzeug betrachtet. Computer--Hauptplatinen sind Landkarten für die Weitergabe von Informationen und Elektrizi-tät, und für mich sehen sie wie Städte von oben aus. Natürlich sind diese Materialien auch ein Symbol für die Schnelllebigkeit unserer Elektronikindustrie und unseren Hunger nach immer neuen Geräten. Seitdem habe ich viel Kunst aus recycelten Computern und Komponenten gemacht. Aber auch hier leihe ich mir die Teile von Recycling-Zentren, und dann gehen sie zurück in die Recycling-Kette. 

Quilts – Unser Leben zusammennähen

Nähen ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Praxis. Ich nähe Quilte, Karten und Kleider. Oft arbeite ich dabei mit anderen Menschen zusammen. Zwischen 2012 und 2015 habe ich für das National Army Museum in London mit ehemaligen Soldaten, die im Irak und in Afghanistan waren, einen Quilt mit dem Titel »Peacemakers« hergestellt. Für mich ist Nähen nicht nur eine Tätigkeit, sondern ein therapeutischer Prozess, bei dem man in einen meditativen, entspannenden, beruhigenden Zustand kommt. Das ist der Grund, warum ich all diese sich wiederholenden Prozesse wie Bauen, Stapeln oder Nähen nutze. Wenn ich mit Menschen nähe, scheint das ebenso therapeutisch zu sein, und es ist ein bisschen so, als würde ich das Leben der Menschen wieder zusammen-nähen, reparieren, flicken, heilen. Es ist ein Prozess, bei dem es um viel mehr geht als nur um das Nähen mit der Hand. Es ist, als hätte die Hand ihre eigene Sprache, und sie verbindet das Gehirn und den Geist mit dem physischen Körper. 

Studio ©Susan Stockwell 2010. Photo ©Courtesy of the Victoria & Albert Museum

Geld und Boote – Was uns alle verbindet

Ich liebe das Symbol der Boote. Sie stehen für den Übergang vom Leben zum Tod. Eine Zeit lang hatte ich ein altes Holzboot in meinem Atelier. Darin habe ich gesessen und über Dinge nachgedacht. Ich lud die Gäste ein, darin zu sitzen und zu träumen, wenn sie ins Atelier kamen. Davon inspiriert habe ich angefangen, Arbeiten wie »Sail Away« und »Trade Winds« zu gestalten und dabei mit Geld zu arbeiten.

Seitdem ich in China war, habe ich altes chinesisches Geld namens Jiao gesammelt, das eigentlich nichts wert ist. Aber es ist sehr schön, und es sind Bilder von ethnischen Minderheiten in China darauf abgebildet, was heute eine ganz andere Bedeutung hat. Ich habe eine Menge davon gesammelt und daraus »Chinese Dream« gestaltet, einen großen Quilt für die Ausstellung »Quilts 1700 to the Present Day« im Victoria and Albert Museum London. Es enthält eine Weltkarte, die auf ein Meer von blauen 10-Yuan-Scheinen genäht ist, auf denen ein Bild von Maos Gesicht zu sehen ist. Es bezieht sich auf den Traum, den jeder hat, nämlich das Leben und sich selbst zu verbessern, aber dieser Traum basiert vor allem auf Geld. Diese Serie von Arbeiten mit Booten aus Geld nannte ich »Sail Away«.

Während dieses Prozesses habe ich viel über Geld gelesen. Ich denke, es ist ein wirklich interessantes Material für die Bildhauerei, weil wir alle diese enge Beziehung dazu haben. Wir sehen es als Mittel zum Zweck, dabei ist es eigentlich viel komplexer. Die Symbole, Motive und Gestaltung darauf -stehen oft für eine Geschichte oder ein Land. Als ich damit spielte, es erforschte und darüber nachdachte, wurde mir klar, dass Geld eine perfekte Bootsform hat. Und das war eine interessante Verbindung: Wir investieren für die Erfüllung unserer Träume in Reisen und in Geld. Geld geht durch die Hände von Tausenden von Menschen und sie hinterlassen ihren Fingerabdruck, deshalb verbindet es uns. 

Landkarten und Kleider – Neuland erschließen

»Sail Painting«, installation at the Royal Shakespeare Theater. ©Susan Stockwell 2015. Photo ©Jeff Leyshon

Eine Zeit lang habe mit Landkarten gearbeitet und mein Atelier war voll davon. Plötzlich fiel mir auf, dass viele von ihnen anatomische Formen haben. Afrika hat die Form eines Magens, Brasilien die einer Leber, Mittelamerika sieht aus wie ein Schultergurt, die Nordküste Afrikas bildet ein schönes Dekolleté. Ich hatte ein Aha-Erlebnis: Diese Landkarten und unsere Welt sind wie unsere menschliche Anatomie. Also habe ich angefangen, Kleider zu entwerfen. Mir wurde auch klar: Wenn ich Landkarten benutze, um eine weibliche Form zu schaffen, beanspruche ich weibliches Territorium. 

Karten wurden traditionell von Männern benutzt, um physisches Territorium zu beanspruchen. Jetzt habe ich die Karten umgewandelt und sie beanspruchen weibliches Terrain, sie beanspruchen den weiblichen Körper. Aber ohne wirtschaftlichen Einfluss haben Frauen keine Macht, und so habe ich ein Kleid mit Geld gestaltet, es ist eine weitere Behauptung oder Absteckung von Territorium: Das ist mein Körper! 

»Territory Dress 2019« wurde als Auftragsarbeit für das Tropenmuseum in Amsterdam angefertigt. Es hat ein Loch im Bauch, aus dem ein Boot herausfährt, und verweist auf die Kolonialgeschichte der Niederlande und anderer europäischer Nationen. Aber es hat auch zeitgenössische Bezüge, Strichcodes, Computerteile, Gummi und Batik, die aufgenäht und aufgedruckt sind. Die Form der Schleppe ist an die surinamischen Angissa angelehnt, die Kopfbedeckungen, die die Sklaven anfertigten, um miteinander zu kommunizieren. Dieses Stück enthält viele Referenzen und ist dennoch ein wunderschönes, taktiles Objekt, an dem man sich auch einfach erfreuen kann!

Ich bin Künstlerin. Ich sehe mich nicht als politische Aktivistin. Ich fühle mich wohl, wenn die Betrachter meine Werke als schöne -Objekte betrachten und sich an ihnen erfreuen. Ich würde gerne wieder mehr dazu zurückkehren, denn ich genieße den reinen Prozess der Herstellung. Da ich Yoga und Meditation praktiziert habe, gibt es einen Teil meines Schaffensprozesses, der einen ähnlichen Zustand erzeugt. Ich kann meine Gedanken leeren, den Lärm stoppen und mich in einen Bewusstseinszustand versetzen, den ich kreativ finde. Ich lese und recherchiere, und dann versuche ich, meinen Geist zu leeren und dem Material die Führung zu überlassen. Ich werde zum Medium des Materials –es spricht zu mir. 

Das Gespräch, aus dem dieser Text entstand, führte Mike Kauschke.

Mehr zum Thema: www.susanstockwell.co.uk

Author:
Mike Kauschke
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