Wenn wir einfühlsam werden

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July 21, 2016

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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Die Atman-Ausstellung in Berlin

In der Malzfabrik in Berlin öffnet sich in diesem Sommer ein Erfahrungsraum, ein Ort für Meditation durch Begegnung: Atman. Diese Ausstellung lädt zu einer tiefenkontemplativen Erfahrung ein, die sich fast wie ein religiöses Ritual anfühlt.Ein geführtes Ritual, das dich bittet, dich auf eine Reise zu begeben, dir Zeit zu nehmen, stehen zu bleiben, zu kontemplieren. Du wirst in die Dunkelheiteingeladen, geleitet von hellen Kerzen. Du bewegst dich in einer Gruppe miteinem Dutzend anderer Besucher, niemand spricht. Gemeinsam geht ihr einenlangen Flur entlang, an dessen Ende ein Licht scheint. In diesem Licht spürstdu jemandes Präsenz, du erkennst ein menschliches Gesicht, das dich von weitentfernt grüßt und dich beobachtet, als du näher kommst. Während du den ­Silhouetten deiner Gruppe folgst, wirst du von einer durchdringenden, tiefen Stimmebegleitet, die von oben in unverständlichen Sprachen spricht, und deren Echo inden Katakomben, die sich langsam in einen Tempel verwandeln, widerhallt.

Zuerstmag das ziemlich ungewöhnlich sein: es geschieht nicht oft, dass du dich in soeiner extremen Nähe mit einem menschlichen Gesicht befindest. Je mehr du dich daran gewöhnst, umso mehr beginnt eine Reise der Begegnung, des Kennenlernens,mit jedem Gesicht, das du triffst. Eingeprägt in die Gesichter entdeckst du dieGefühle, die diese bestimmte Person in diesem Moment hatte, und Spuren von dem,was er oder sie wiederholt in seinem oder ihrem Leben erfahren hat. Ein Gesichtwird zu einer Landkarte. Jede Falte der Haut führt irgendwohin. Während du dichin die Landschaft der Gesichter begibst, einmal auf Details fokussiert, dannwieder das ganze Gesicht in den Blick nehmend, entsteht eine sich fortlaufendverändernde Topografie, die dich zum Sehen einlädt, wodurch sich das Bild durch deinen Blick verändert.

Jedes Gesicht wird zu einer Landkarte.

DerSchöpfer dieser Ausstellung, Bernd Kolb, war erfolgreicher Unternehmer, bis er bemerkte, dass für ihn »business as usual« nicht mehr funktionierte. Erversuchte eine Zeit lang, das »System« zu reparieren, wurde aber enttäuscht,weil die Menschen zwar alle Informationen, Zahlen und Tatsachen kannten, sichaber nichts veränderte. Die Denkweise musste sich ändern, ein anderesBewusstsein musste sich entwickeln. So begann Kolb die Reise seiner eigenenBewusstseinsveränderung. Er fuhr nach Asien und suchte Menschen, die dieWeisheit alter asiatischer Kulturen bewahrten. Seine Begegnungen undkraftvollen Erfahrungen dort führten ihn dahin, Fotos der Menschen, denen erbegegnet war, in einem Buch zu versammeln. Und mit diesen Fotos eineAusstellung zu gestalten, um eine Erfahrung von Begegnung zu ermöglichen, dieuns an unser Spüren erinnern kann – in einer Gesellschaft, die obsessiv undununterbrochen mit denken, analysieren und urteilen beschäftigt ist. Gewahrseinist der Schlüssel, um uns das Gefühl von Zeitlosigkeit und Verbundenheitzurückzubringen, um jede Erfahrung willkommen zu heißen und so Mitgefühl zuentwickeln.

Aber inmitten dieser kontemplativen Meditation musste ich auch an Edward SaidsKritik des »Orientalismus« denken, an die Mythologisierung und dieIdealisierung des exotischen Anderen mit seinen mysteriösen Qualitäten, die wirWestler nicht haben oder seit langer Zeit verloren haben. Beim tiefen Blick indiese Gesichter auf den Fotografien wurde mir bewusst, dass wir diese Menschen,diese Gefühle, diese Gesichtsausdrücke überall auf der Erde finden können.Selbst wenn sie in der westlichen Gesellschaft oft versteckt sind, hinter demAufrechterhalten eines Selbstbildes, hinter dem Wunsch, gut auszusehen odercool zu erscheinen. Die Selfie-Kultur propagiert diese »Wie sehe ichaus?«-Geisteshaltung. Die Geisteshaltung der Menschen auf den Foto­grafienkönnte hingegen als Begegnung bezeichnet werden – »Ich sehe dich«. Sie umfasstsowohl die Offenheit, den anderen zu sehen, als auch gesehen zu werden.

Alsich dort stand, dachte ich über unseren westlichen Geist nach, mit seinenVersuchen, das Unerklärliche wegzuerklären, das Göttliche zu zähmen und alleszu Mickey Mouse zu machen. Aber manche Dinge werden für immer dem Versuchwiderstehen, zu Disneyland gemacht zu werden. Atman bedeutet in Sanskrit Seeleoder göttlicher Funken. Das ist ein einfühlsames Wort, das versucht, dasUnbenennbare zu benennen. Still lädt es uns ein, selbst einfühlsam zu werdenund das Unsichtbare zu respektieren, das, was viel größer ist als wir – und daswir gleichzeitig sind.

Author:
Sabina Abdulajeva
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