Wer kann Nachhaltigkeit besser?

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Essay
Publiziert am:

October 23, 2023

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Ausgabe 40 / 2023
|
October 2023
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Offene Gesellschaften oder digitale Autokratien

Wie gehen wir mit den Herausforderungen um, vor denen wir als Gesellschaft stehen? Brauchen wir mehr Regulierung oder setzen wir auf die Eigenverantwortlichkeit? Ein Debattenbeitrag.

Wenn wir einen Beruf wählen, einen Urlaub aussuchen oder den Partner fürs Leben finden wollen, dann können wir dies in freiheitlicher Eigenverantwortung tun oder diese Entscheidungen an andere abgeben. Das Gleiche gilt, wenn es darum geht, Kinderarmut zu beenden, unser Energiesystem umzubauen oder einen Mandatsträger zu wählen. Immer geht es darum, ob dies in Freiheit und Verantwortung mit all ihren Unsicherheiten oder unter Zwang, Kontrolle und Zensur geschieht. Man kann sagen: Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts. Denn wenn wir anfangen, Freiheit durch Solidarität oder Gerechtigkeit zu ersetzen – so wichtig und edel diese Tugenden sind –, dann kann es schnell passieren, dass wir in Unfreiheit solidarisch zueinander sind, und dass wir in Unfreiheit Verteilungsmustern und politischen Entscheidungen zustimmen müssen, die wir gar nicht gewollt haben. Was wären die Erziehung unserer Kinder, ein freier und investigativer Journalismus, faire Preisbildungen auf Märkten, öffentlicher Meinungsaustausch oder Forschung ohne Freiheit? Fast nichts mehr. Alles passiert dann in Unfreiheit. Ohne Freiheit führt dies alles in die Knechtschaft. Das können wir so eigentlich nicht wollen. Bevormundung, Zensur und Knechtschaft sind das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, Kritik und Freiheit. Geht die Freiheit verloren, geht fast alles verloren. Aber was hat das alles mit den großen Fragen unseres nachhaltigen Zusammenlebens zu tun? Könnte es sein, dass es gerade jene Formen der Knechtschaft sind, die uns die Herausforderungen im 21. Jahrhundert besser meistern lassen als Formen der Freiheit?

Wir wissen heute mit großer Sicherheit, dass diese Geschichte nicht zu Ende ist. Stattdessen wiederholt sie sich so lange, bis allen klar geworden ist, was auf dem Spiel steht: eine Ordnung der Freiheit nämlich. Heute, in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts erscheint der Weg zur Knechtschaft in einem anderen Gewand, und er wirkt deutlich subtiler und latenter, aber damit nicht weniger machtvoll: Autokratische Regime, illiberale Demokratien, Populismen, unkontrollierte digitale Großtechnologien sind nur die vordergründigsten. Hierher gehören auch die unkritischen, fehlerhaften, einseitigen und teils fundamentalistischen Auseinandersetzungen mit der Erderwärmung, dem Verlust an Biodiversität und fortschreitenden Pandemien. Es sind im Kern nur die Errungenschaften des politischen Liberalismus mit all seinen vielfältigen, personalen Freiheitsrechten und Rechtsstaatsmechanismen, die uns den richtigen Umgang mit Autokraten und Populisten, mit Klimaerwärmung, Artenschutz und Pandemien zeigen werden. Und es sind dann wohl erst liberale Anrechte, die uns mehr Wohlstand, mehr Problemlösungsstrategien und ein Mehr an Wohlbefinden und Glück garantieren werden. Anders wird es nicht gehen.


»Bevormundung, Zensur und Knechtschaft sind das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, Kritik und Freiheit.«

Nochmal: Wer kann diese Herausforderungen besser meistern? Linke und rechte Narrative helfen uns nicht mehr weiter. Die Konfliktlinie ist jetzt eine völlig andere: Digitale autokratische Regime auf der einen, offene, freie und kritische Verhältnisse auf der anderen Seite. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben in Offenen Gesellschaften, die anderen 50 Prozent in zerfallenen Staaten (failed states) oder Autokratien. Wir stehen jetzt gewissermaßen an der Wasserscheide, ob wir uns nach vorne in die Freiheit oder rückwärts in die Knechtschaft entwickeln wollen.

Es ist also eine grundsätzliche Frage, welche Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens besser in der Lage sind, auf die Komplexität dieses neuen Zeitalters (Anthropozän) mit seinen asymmetrischen Schocks, »Black Swan-Ereignissen«, Tipping points etc. klüger und erfolgreicher zu reagieren. Wie gehen wir mit Wasserstress, Verbrenner-Aus, regenerativer Landwirtschaft, OneHealth oder einer neuen Taxonomie für das Finanzsystem um? Wir haben zwei Möglichkeiten:

Mit autokratischem Durchregieren, Manipulationen, staatlichen Vorgaben und technokratischen Silo-­Lösungen, welche alle einer Illusion der Kontrolle und des Wissens erliegen; oder mit kritischen und freien Bürgern in einer kritischen Öffentlichkeit, die durch Versuch und Irrtum Institutionen schaffen und angstfrei dezentral Fehler korrigieren? Kurz: der Weg in die Knechtschaft oder der in die Freiheit? Zugegeben beeindrucken digitale Autokratien mit ihrer Größe und Durchschlagskraft, ihren ökonomischen Teilerfolgen in der Armutsbekämpfung und der rigorosen Umsetzung von adminis­trativen Dekreten. Aber der Eindruck trügt. Denn die Gleichung heißt: Freiheit und Nachhaltigkeit bedingen sich gegenseitig. Keines ist ohne das andere zu haben.

Wenn es Offenen Gesellschaften gelingt, die Einseitigkeit eines ökonomischen Liberalismus, welchen die historische Phase 1989 – 2019 geprägt hat, zu überwinden, wird deutlich, dass sie besser zur Selbstkorrektur in der Lage sind und flexibler und anpassungsfähiger reagieren können als alle ihre geschlossenen, autokratischen Gegenspieler. Mehr noch: Erst in Offenen Gesellschaften wird jene Information und jenes Wissen überhaupt erst geschaffen, welches wir benötigen, um im 21. Jahrhundert bestehen zu können: freie Märkte und Preisbildungen, eine freie Presse und investigativer Journalismus; Bildungseinrichtungen, die individuelle Kreativität, Neugier, kritische Urteilskraft und Selbstwirksamkeit freisetzen; ein Wissenschaftsbetrieb, welcher nicht einem Parteiprogramm, einer Ideologie oder der isolierten Industriefinanzierung unterworfen, sondern der rigorosen Methodenkritik, der öffentlichen Debatte und der Wahrheit verpflichtet ist. Und das ist nicht alles: Es sind immer erst Offene Gesellschaften, die Institutionen schaffen, welche Diversität, Vielfalt und Unterschiede aushalten können und gleichzeitig nutzen und damit einen Mehrwert für alle schaffen können. Und es sind nur Offene Gesellschaften, die einen Kulturbetrieb gewährleisten, der nicht für politische und ökonomische Zwecke instrumentalisiert ist, sondern einzig und allein der Freiheit verpflichtet sein soll. Zugegeben: Dies gelingt nicht immer und in jedem Einzelfall, aber dies spricht nicht gegen ihre grundsätzliche Ausrichtung: eine kritische Ordnung der Freiheit, die zur Selbstkorrektur fähig ist. Und dann geht es nicht mehr darum, dass wir im globalen Norden eine Missionsstation sind, die die Welt beglückt, sondern viel eher ein Kloster, welches seine Hausaufgaben macht.

Offene Gesellschaften, die auf eine Ordnung der Freiheit setzen, können es besser, weil ihre Gegenspieler unterkomplex sind und gleichzeitig von Bedingungen abhängig, welche sie selbst nicht schaffen können; aber wohl auch, weil Offene Gesellschaften Freiheit, Kritik und Wahrheit zusammenbringen können. Zugegebenermaßen ist das anstrengend, gar eine Zumutung und sicherlich keine Konsensveranstaltung, sondern eine Form der geregelten Konfliktlösungen, bei der freie und gleiche Bürger bereit sind, einen Mehrheitsbeschluss anzuerkennen, und zugleich wissen, wie aus Minderheiten Mehrheiten werden, wie man Mandatsträger abwählt und zugleich eine andere Politik möglich wird.

Wenn wir jetzt über Kindergrundsicherung, CO2-Steuer, Industriepreisbremse oder Vermögensabgaben diskutieren, dann sollten wir uns daran erinnern, dass es im Kern immer um die Frage einer Ordnung der Freiheit gehen sollte. In diesem Sinne ist die personale Freiheit, auch jene zukünftiger Generationen, ein Kind der Offenheit und nicht umgekehrt. Technologie-Offenheit etwa, aber auch jene, die wir im Wissenschaftsbetrieb oder im öffentlichen Diskurs benötigen. Ergebnis- und erkenntnisoffen, immer bereit, die eigenen Vermutungen widerlegen zu lassen. Erst so können wir Fragen und Problemstellungen formulieren und Lösungen finden, die uns Alternativen ermöglichen. ■

Author:
Stefan Brunnhuber
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