Wie lebendig ist Europa?

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 21, 2016

Mit:
Michel Saloff-Coste
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AUSGABE:
Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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AUF DER SUCHE NACH EINER DYNAMISCHEN VISION

Europas Zukunft hängt davon ab, eine kulturelle Dynamik zu entwickeln, die Tradition, modernes Denken und postmoderne Pluralität in einen übergreifenden und offenen Entwicklungsprozess bringt, sagt Michel Saloff-Coste. Der Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler und Künstler hat bei Gilles Deleuze Philosophie studiert, Unternehmen beraten, eine Integrale Universität gegründet und mit Jacques Dolors an der Entwicklung Europas gearbeitet. Wir sprachen mit ihm über die evolutionäre Kraft, die nötig ist, damit Europa eine Zukunft hat.

evolve: Wenn wir auf Europa schauen, sehen uns viele mitten in einem »Kampf der Kulturen«. Ich meine damit nicht den Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam, sondern den Konflikt zwischen religiösen Traditionalisten und zwei Formen des Säkularismus – die Modernisten und die Postmodernen. Die Modernisten neigen zu Rationalität, effizientem Bürokratismus und befürworten den Kapitalismus. Die Postmodernen sind häufig sehr individualistisch, egalitär und pluralistisch, und zunehmend interessiert an persönlicher Spiri­tualität. Sehen Sie, dass diese Spaltung heute Europa beeinflusst?

Michel Saloff-Coste: Auf der ganzen Welt gibt es diese großen Gräben zwischen den Traditionalisten, Modernisten und Postmodernen. In Europa haben wir in den vergangenen fünfhundert Jahren viele Kämpfe zwischen verschiedenen Wertesystemen erlebt. Es gab einen tiefen Konflikt zwischen dem traditionellen Katholizismus und einem protestantischen Modernismus, der schließlich zu Redefreiheit und der industriellen Revolution des Kapitalismus führte. Wir könnten sogar sagen, dass die zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert Ausdruck von Konflikten zwischen Werten und Glaubenssystemen waren und nicht nur Konflikte zwischen Nationen. Und heute sind wir mitten in einem Kampf zwischen traditionellen, modernen und postmodernen Werten. Diese Konflikte werden noch durch eine neue Entwicklung des Traditionalismus intensiviert, weil sich viele moderne Menschen aufgrund der wirtschaftlichen Probleme der Mittelklasse und dem Verlust eines sinnvollen Bezugssystems dem Traditionalismus und einem extremen Rechtspopulismus zuwenden.

In Nordeuropa sehen wir eine starke Entwicklung der postmodernen »Kulturell Kreativen«, wie sie der Soziologe Paul Ray bezeichnet. Wenn wir Werte- und Glaubenssysteme aus soziologischer Perspektive untersuchen, können wir die nordischen Länder als die höchstentwickelten Gesellschaften bezeichnen. Aber sogar dort können wir den Aufstieg politisch weit rechts stehender neo-traditionalistischer Bewegungen beobachten. Das ist auch eine Art Gegenreaktion, weil es sogar für Modernisten schwierig ist, diese neuen postmodernen Werte- und Glaubenssysteme bereitwillig anzunehmen.

Teil der Entwicklung zu modernen Werten ist auch eine existenzielle Krise, die in der philosophischen Tradition z. B. von Jean-Paul Sartre formuliert wurde. Um ein moderner Mensch zu werden, muss man die Sicherheit der religiösen Traditionen aufgeben und den Schritt in die Unbestimmtheit einer eigenen freien Entscheidung gehen. Unsere europäische Tradition ist zum Teil durch die Überzeugung definiert, dass wir als menschliche Wesen unsere Moralität durch Introspektion entwickeln können. Dieser Schritt in die Individualisierung, in unsere eigene kreative Kraft und einen selbst gestalteten Lebensweg ist das große Geschenk der Moderne. Das ist ein notwendiger Schritt in unserer Entwicklung. Die Moderne gibt eine Freiheit für die individuelle Kreativität, die in einer traditionellen Gesellschaft nicht möglich ist – und die Postmoderne geht sogar noch weiter mit dieser kreativen Freiheit, indem sie die Konventionen der Gesellschaft aufbricht und hinterfragt, um uns in allen Aspekten unseres Lebens Wahlfreiheit zu ermöglichen. Für Menschen jedoch, die ökonomisch in einer Gesellschaft nicht gut integriert sind, die nicht so gut ausgebildet sind oder nicht den Mut haben, ihr eigenes Glaubenssystem zu gestalten, kann es sicherer erscheinen, zu traditionellen Werten zurückzukehren. Für sie hat die Moderne versagt. Und postmoderne Ideen erscheinen zu kompliziert und komplex.

Ohne Dynamik keine Entwicklung

e: Welche Auswirkungen hat der Zustrom von Flüchtlingen in Europa auf diese Konflikte?

MSC: Die Situation der Flüchtlinge hat mit zu der Regression beigetragen, die wir gerade in Europa beobachten. Allerdings sind die Flüchtlinge nicht das Problem. Das Problem ist, dass Europa als Ganzes keine dynamische Gesellschaft mehr ist. Das Fehlen der dynamischen Kraft hat direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der Kultur. Die Bevölkerung wird immer älter und die Geburten­rate ist niedrig. Die Gründe dafür sind ein höheres Bildungsniveau, der zunehmende Individualismus und die Bedeutung der eigenen Karriere. Durch die niedrige Geburtenrate entstehen statische, relativ unbewegliche Gesellschaftsschichten. In so einer Atmosphäre gibt es wenig Raum für Neuankömmlinge, denn in vielen Ländern Europas gibt es schon eine hohe Jugend­arbeitslosigkeit. Wenn zum Beispiel gut ausgebildete Franzosen keine Arbeit mehr finden, ist es für Immigranten ohne Ausbildung umso schwieriger. Die Geburtenrate ist ein strukturelles Problem, das einen hohen Einfluss hat, wie Zukunftsforscher aufzeigen. In den nächsten zehn oder zwanzig Jahren wird viel davon abhängen, wie viele junge Menschen wir haben, weil diese die Zukunft bestimmen. Jede ­alternde Gesellschaft hat ein Problem mit ihrer Entwicklung. Deshalb brauchen wir wirksame Strategien, um Frauen dabei zu unterstützen, einer Karriere zu folgen, sich selbst zu entwickeln und gleichzeitig Kinder zu bekommen. Wir brauchen zumindest eine stabile Bevölkerung, weil eine sinkende Bevölkerungszahl auch für ökonomische Belange sehr gefährlich ist, denn sie bringt eine schrumpfende Wirtschaft mit sich. Das ist auch der Grund, w­a­rum Asien gerade jetzt so massiv aufstrebt; es gibt dort eine starke neue Generation gut ausgebildeter junger Menschen. Wir können zudem sehen, dass die Zukunft aufgrund der großen Anzahl von jungen Menschen auch in Afrika oder in Indien liegt. Aber in all diesen Fällen ist das Bildungsniveau der Heranwachsenden der entscheidende Faktor.

e: Aus diesem Grund sagen einige Leute, dass Einwanderung für Deutschland wichtig ist, damit mehr junge Menschen ins Land kommen.

MSC: Statistisch gesehen ist das sicher richtig, aber es hängt davon ab, welche Kultur wir uns wünschen. Wir brauchen junge Menschen, um die Wirtschaft zu stärken, aber müssen auch unsere eigene Kultur wertschätzen und weiterentwickeln. Deutschland oder Frankreich zum Beispiel, sind ganz einzigartige Kulturen, und wir brauchen Menschen, die diese kulturelle Identität tragen und sich dafür einsetzen. Wenn die meisten der jungen Menschen aus anderen Kulturen kommen, dann kann sich das Land natürlich ökonomisch weiterentwickeln, aber inwieweit kann es seine eigene Kultur voranbringen und entwickeln? Es könnte ein vollkommen anderes Land werden, was vielleicht sogar gut ist, aber es stellt uns alle vor die Frage: In welchem Land will ich leben?

Man braucht also junge Menschen, die die Werte der deutschen Kultur kennen, vertreten und sich damit identifizieren. Wenn diese Dynamik stark ist, können sich Menschen aus anderen Kulturen leichter integrieren. Man entwickelt gemeinsam die eigene Kultur und sie können sich diesem Erfolg anschließen; so geschah es beispielsweise mit den Italienern in Frankreich oder mit den Türken in Deutschland. Dann wird es für diese Menschen aus anderen Kulturen einfach, an diesem Erfolg Anteil zu haben und daran mitzuwirken. Aber wenn die eigene Bevölkerung schrumpft und ökonomische Probleme hat, dann wird die Integration von anderen Kulturen sehr schwierig. Wenn wir wollen, dass Europa sich entwickelt, brauchen wir die Dynamik einer stabilen Geburtenrate, einer florierenden Wirtschaft und einer lebendigen Vision.

Vision leben

e: Zusätzlich zu einer stabilen Geburtenrate und intakten Wirtschaft brauchen wir also auch eine dynamischere Vision für die Zukunft Europas?

MSC: Ja, wir brauchen eine Vision. Wenn man die Gründungs­dokumente von Europa liest, stellt man fest, dass sie auf einer klaren Vision von Einheit und Unterschiedlichkeit basieren. Wir können diese Vision sogar systemisch oder integral nennen, weil sie diese Gegensätze in eine neue Synthese bringt. Es ist eine Vision von einzelnen Ländern in einer höheren Einheit. Diese Vision hat tiefe Wurzeln in der europäischen Geistesgeschichte. Die ­Ideen sind gut, aber wenn wir nicht in der Lage sind, sie umzusetzen, ist es schwieriger, andere von ihnen zu überzeugen.

Die Anzahl der Menschen, die an systemischen, integralen ­Ideen interessiert sind, wächst, aber es ist immer noch eine kleine Minderheit gut ausgebildeter Menschen. Diejenigen, die eine systemische integrale Perspektive entwickeln, müssen Räume und Netzwerke finden, um mitten in dieser Krise ihre Ideen so weiterzuentwickeln, dass sie eine Vision für andere anbieten können. Die integrale Perspektive schätzt die Beiträge aller Wertesysteme, wodurch wir die religiöse Verbundenheit traditioneller Werte, die Unabhängigkeit moderner Werte und die Pluralität und den Relativismus der postmodernen Werte wertschätzen können. Eine integrale Perspektive ist deshalb so wichtig, weil sie der einzige Weg ist, durch den wir systemische Probleme behandeln können, wie den Klimawandel oder eine Wirtschaft, in der wir uns von einer mechanistischen zu einer systemischen Perspektive bewegen müssen. Die Lösungen werden von dieser systemischen Bewusstseinsebene kommen, auch wenn nur eine Minderheit der Menschen die Welt auf diese Weise sehen kann.

Eine Veränderung zu dieser integralen Perspektive wird stattfinden. Ob es in Europa sein wird, weiß ich nicht, weil auch Asien eine führende Rolle übernehmen könnte. In Asien beobachte ich, dass die Menschen dort nicht nur hart arbeiten, sondern auch komplex denken können. In Asien gibt es viele sehr gebildete Menschen, die viel natürlicher dazu neigen, integral zu sein, weil ihre traditionelle Kultur, wie z. B. der Konfuzianismus oder der Taoismus, immer einige systemische Elemente enthielt. Die Kultur in Asien neigt nicht zum Gegensatz, deshalb können sie sich viel natürlicher auf einen integralen Ansatz zubewegen. Auch ihre Sprache ist nicht so gegensätzlich, sondern komplex und beziehungsorientiert. Wörter erhalten ihre Bedeutung aus dem Kontext, in dem sie verwendet werden.

In einer perfekten Welt wird sich die Menschheit zu einer systemischen, integralen Sichtweise entwickeln. Wie wir jedoch wissen, entwickeln sich Menschen über verschiedene Stufen hinweg, und manchmal bleiben sie stecken. Aber jeder von uns kann seinem eigenen Impuls folgen und sich selbst so viel wie möglich weiterentwickeln – für uns selbst und für die Menschheit.

Liebe zur Zukunft

e: Sehen Sie in Ihrer Arbeit Hinweise dafür, dass diese Perspektive sich entwickelt?

MSC: Vor dreißig Jahren schrieb ich über eine integrale Sichtweise und habe sie in Management und Gesellschaft angewandt, zum Beispiel auch zusammen mit Jacques Delors auf europäischer Ebene. Ich gründete die Integrale Universität in Frankreich als einen Knotenpunkt für diese neuen Ideen, die dadurch Verbreitung fanden. Vor Kurzem bat mich die Universität von Lille, ein neues Institut einzurichten, »The International Institute for Cultural Studies on Innovation Ecosystems«. In diesem Zusammenhang reise ich und versuche, die innovativsten Menschen in jedem Land zu treffen und zu erforschen, welche neuen Lösungen sie finden. Viele dieser Menschen wenden Aspekte einer integralen Perspektive schon an – aus einer tiefen Liebe und Fürsorge für die Welt. Ich kann sehen, wie heute Ideen umgesetzt werden, über die ich vor dreißig Jahren schrieb. Das macht mir sehr viel Hoffnung. Hier sehen wir die evolutionäre Dynamik in Aktion. Die jungen Menschen, die ich treffe, fühlen sich auf eine bestimmte Weise wie meine Kinder an, aber sie sind Kinder der Unendlichkeit, Kinder der Evolution. Denn es sind ja nicht meine Ideen, sondern Ideen der Zukunft, die durch mich Ausdruck fanden. Diese Zukunft mag weit weg sein und illusorisch klingen, aber sie manifestiert sich bereits in einigen Menschen. Sie arbeiten aus der Zukunft heraus und aus anderen Werten. Sie suchen keine Anerkennung und wollen nicht bekannt werden, sie arbeiten einfach mit sehr viel Begeisterung und Liebe an neuen Lösungen. Sie bringen unglaubliche Freude in ihre Arbeit ein: Für sie ist es ein Herzensanliegen. Aber bei alldem sollten wir nicht vergessen, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, riesig sind und es noch viel braucht, damit diese Werte und Ideen größere Wirkung entfalten werden.

e: Aber die Liebe, von der Sie gesprochen haben, kann uns die Stärke geben weiterzugehen, zu handeln, es ist eine Verbundenheit mit etwas Größerem. In dieser Liebe können wir uns begegnen und entfalten. Dort finden wir eine ko-­evolutionäre Freude.

MSC: Ja, in der Moderne war die Währung das Geld, aber auf dieser neuen Ebene ist die Währung sozusagen ­Liebe und Freude. Wir finden Erfüllung in der Liebe und Freude, die wir miteinander teilen, während wir unseren Beitrag zur Entwicklung unserer Welt geben.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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