Wildes Herz

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Book/Film Review
Published On:

November 5, 2018

Featuring:
Rainer Maria Rilke
Rüdiger Sünner
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Issue:
Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Eine Besprechung des Films »Engel über Europa« von Rüdiger Sünner

Rüdiger Sünners neuer Film ­»Engel über Europa« ist dem Dichter ­»Rilke als Gottsucher« gewidmet. Es ist ein stiller, meditativer Film. Wer sich ihm öffnet und hingibt, taucht in einen kontemplativen Bild-Kosmos wie in ein Traumspiel ein. Diese eigene Handschrift wird unterstrichen durch den sehr persönlichen Anfang, indem einige Fotos von Sünners Vaters zu sehen sind, der, wie wir erfahren, ein glühender Rilke-Verehrer war, zu dem Sünner selbst jedoch ein eher ablehnendes Verhältnis hatte. Der Gegensatz zwischen dem kühlen, autoritären Vater und der zarten, feinfühligen Lyrik Rilkes schien dem Jugendlichen unüberbrückbar, weshalb ihm auch Rilke lange Zeit fremd blieb. Er wollte Kunst und Literatur im Widerstand zum Vater frei entdecken. Umso bemerkenswerter, dass Sünner diese Voreingenommenheit überwand und sich nun völlig offen und eigenständig an den vormals zweifelhaften Dichter heranwagt. Dieses biographische Detail hebt die Intimität des Filmerlebnisses hervor und stimmt auf die Innigkeit ein, die in den folgenden 80 Minuten bestimmend sein wird. Hier wird nicht einfach von Rilke erzählt, sondern im Erzählen von Rilke begegnet sich der Erzählende selbst in seiner weiten Widersprüchlichkeit. Oder in Rilkes wunderbaren Worten: »In meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit.«

Wer immer sich auf das Offene zubewegen will, kann dies nur im Schutzlossein.

Der im Untertitel anklingende »Gottsucher« Rilke spürt wortmächtig dem Numinosen fernab begangener Pfade nach. Durch die beengende christliche Erziehung seiner Mutter, die ihn als ihr »Marienkind« ansah und den Knaben überdies mehrere Jahre in Mädchenkleider steckte, wurde ihm das offizielle Gottesbild der Kirche verleidet. Doch Rilke wendet sich nicht einfach traumatisiert vom traditionellen Christentum ab, sondern bildet als ein unermüdlich Suchender seine Wahrnehmungsorgane immer feiner aus, übt sich in Lauschen und Staunen, um das Geheimnisvolle in den Dingen zu entdecken. Dabei erschließt sich ihm »die Identität von Furchtbarkeit und Seligkeit (...), dieser zwei Gesichter, ja dieses einzigen Gesichtes, das sich nur so oder so darstellt, je nach Entfernung aus der, oder der Verfassung, in der wir es wahrnehmen.« Als dieser das Helle und Dunkle gleichermaßen Umgreifende, entpuppt sich Rilke als »Gottsucher« im besten Sinne, der, ähnlich wie die Mystiker, hingebungsvoll auf den Wert der eigenen seelischen Erfahrung vertraut und allergisch auf jede dogmatische Geste reagiert: »Der Bewegung meiner Seele, aufs Offene zu, wäre jeder geistliche Zwischenhändler kränkend und zuwider.« Das Offene ist ja zugleich das Überraschende, Immer-Neue und Nicht-eindeutig-Definierte. Wer immer sich also auf das Offene zubewegen will, kann dies nur im Schutzlossein. ­Rilkes spirituelle Suche bleibt daher immer ein Wagnis. Diese Dynamik wird auch an Rilkes Engelsbild deutlich, das Sünner in besonders anrührender Weise zu gestalten weiß und im Film mit den Worten kommentiert: »dass die Engel die Menschen brauchen, da sie nur in den Weiten des Kosmos leben, aber das Göttliche nicht in den nächsten Dingen sehen können.« Diese Aufgabe kommt dem Menschen zu. Ihm ist es anheimgegeben, die Dinge zu verwandeln und »ihr Wesen in uns unsichtbar wieder« auferstehen zu lassen. Die Himmlischen sind also bei Rilke nicht einfach Tröster des verzweifelten Menschen, sondern Wesen, die auf die Werke der menschlichen Freiheit angewiesen sind, damit »alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat« zurückkommt und sich die Engel »lobsingend zur Erde« entschließen.

Wer die Wirkkräfte des dichterischen Blütenstaubs tiefer durchdringen will, dem sei auch wärmstens das Buch von Rüdiger Sünner ans Herz gelegt (aus dem auch im Vorigen schon zitiert wurde), das mit gleichnamigem Titel parallel zum Film erschienen ist. Sünner schreibt darin über seine eigene Motivation: »Wollte nicht auch ich einen (...) ›Großen Gesang‹ anstimmen, der die Menschen vor allem aufbaut, inspiriert, erhebt zu Möglichkeiten des Denkens und Fühlens, die sie vielleicht schon verloren glaubten?« Und tatsächlich löst das völlig eigenständige Buch, das vielmehr ist als ein bloßes Begleitbuch zum Film, all diese Dinge ein. Es ist ein zu entdeckendes Juwel in der Masse der spirituellen Engels- und Lebenshilfebücher, das keine einfachen Rezepte und Erbauungen bietet, dafür aber den einzelnen, suchenden, ringenden, hoffenden, fragenden, zweifelnden Menschen an die kostbaren, in ihm selbst schlummernden Seelenkräfte erinnert. 

Author:
Martin Spura
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