»Wir alle sind Instrumente in Gottes Hand«

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Interview
Publiziert am:

April 21, 2017

Mit:
Martin Schleske
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AUSGABE:
Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
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Aus dem Leben eines Geigenbauers

Martin Schleske zählt zu den besten Geigenbauern unserer Zeit. Meisterschaft ist für ihn ein in die Zukunft offener Prozess, eine permanente Gratwanderung zwischen Zulassen und Gestalten. Wir sprachen mit ihm über die Leidenschaft für das Besondere und die Ehrfurcht vor dem, was wir nicht machen können.

evolve: Woher rührt Ihre Faszination für das Geigenbauen? Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?

Martin Schleske: Schon als ich mit 17 Jahren meine Ausbildung an der Geigenbauschule in Mittenwald begonnen habe, hat mich begeistert, nach welchen unterschiedlichen Fähigkeiten dieser Beruf fragt. Das Handwerk ist die Basis. Musik ist etwas sehr Sinnliches und dem Herzen nahe. Und es braucht den Kopf, die Physik, die Wissenschaft und Forschung, das Verständnis der Akustik. Über diese Verbindung bin ich glücklich.

e: Sie haben gerade vom Herzen gesprochen. Exzellenz lebt ja von einer tieferen Inspiration. Was ist für Sie die tiefere Quelle Ihres Schaffens?

MS: Ich unterscheide gerne zwischen Intuition und Inspiration, und es braucht beides. Intuition bedeutet, in das Holz hineinzuspüren, hineinzuhören in das, was geschieht, wenn man es bearbeitet. Inspiration ist für mich die völlige Empfänglichkeit für das, was man nicht wissen kann. Es ist das Wagnis, dass ich mich überraschen lasse von dem, was passiert. Für mich ist Geigenbau so, als ob ich mit den Händen bete. Die Freude der Seele dabei ist für mich die Kraftquelle der Intuition. Und die Stille des Betens ist die Quelle der Inspiration. Ich habe im Dach- geschoss meiner Werkstatt einen Ort, an den ich mich mehrmals täglich zurückziehe in die Stille. Musik kommt aus der Stille und aus der Liebe zur Stille.

¬Ich versuche mit jedem Instrument, Klang zu schaffen, wie er noch nie da war. ¬

e: Meisterschaft scheint die Grenzen des Möglichen immer wieder anzutesten und zu verschieben. Deshalb berührt sie uns. Wie erleben Sie das in Ihrer Arbeit?

MS: Es ist eine Spannung zwischen dem Zulassen und dem Gestalten. Die Dinge nur gestalten zu wollen, hat etwas Zwanghaftes. Dann will ich etwas durchsetzen. Aber eine Geige ist keine Konstruktion, sondern ein Schöpfungsakt. Und Schöpfung bedeutet, auf das Gegebene zu achten. Es ist die Ehrfurcht vor dem Holz, es zu fragen, was möglich ist. Es geht nicht darum, gar nicht zu gestalten, das wäre Willkür. Schöpfung lebt aus einem inneren, leidenschaftlichen Antrieb, der zugleich wach dafür ist, dass jede Geige anders ist. Anders als ich wollte und dachte, aber für sich richtig und stimmig.

e: Sie haben einmal gesagt, dass die Vollkommenheit einer ­Stradivari-Geige darin liegt, nichts Besonderes sein zu wollen. Was bedeutet Perfektion im Kontext von Meisterschaft?

MS: Perfektion ist für mich eine hochgradig gefährliche oder sogar destruktive Eigenschaft. Ein Perfektionist nimmt allem, was er berührt, das Leben. Da ist kein Raum, dass die Dinge wachsen, weil sie schon vorweggenommen sind. Vollkommenheit ist für mich die Barmherzigkeit mit dem Nichtperfekten. Ich nehme das an, was ich vorfinde, und versuche, das Potenzial zu erkennen, das darin schlummert. Im Vordergrund steht, was werden kann, was wachsen kann. Eine gute Geige ist nie perfekt. Ihr Klang hat Charakter. Es geht darum, Entfaltung zu erlauben. Dann kann das Stimmige hervortreten.

e: Hat Meisterschaft nicht auch etwas Paradoxes? Einerseits erfordert sie individuelle Anstrengung, aber gleichzeitig entsteht etwas Besonderes jenseits des Kalkulierbaren.

MS: Für mich haben beide Dimensionen etwas Heiliges, denn sie richten sich in unterschiedlichen Kategorien auf eine besondere Qualität. Ich habe Physik studiert, um Akustik tiefer zu verstehen. Unsere Ratio wirklich zu nutzen, hat gerade in der heutigen Zeit für mich eine beinahe spirituelle Bedeutung, um der Infantilität des Postfaktischen zu begegnen. Mein Akustiklabor ist nicht weniger heilig als die Werkstatt, in der das Sich-Einfühlen im Vordergrund steht. Ich liebe diese Spannung zwischen der eher wissenschaftlichen Seite meiner Arbeit und dem Empfinden der Musik. Wenn ich eines von beidem entwerte, wird es ideologisch. Man braucht immer Achtung vor dem, was einem fehlt, was sich nicht in einem verkörpert.

e: Damit aus einem Fichtenstamm eine Geige entstehen kann, durchläuft das Holz unter Ihren Händen einen subtilen Prozess der Wandlung. Was geben Sie in diesen Prozess hinein, wie antworten Sie auf das Potenzial des Holzes?

MS: Das Holz zum Klingen zu bringen, ist ein starker Prozess der Selbsterforschung. Um dem Holz bestimmte Resonanzen zu entlocken, geht es um Zehntelmillimeter. Wenn ich zu weit gehe, weil mein Ego einen Riesenklang möchte, dann säuft der Klang ins Dumpfe, Konturlose, Kraftlose ab. Wenn ich aus Ängstlichkeit nicht weit genug gehe, entsteht ein scharfer, harscher Klang. Der Ton wird eng, unangenehm und penetrant. Hier zeigen sich die beiden Ursünden des Herzens – der Stolz und die Angst. Geigenbau ist eine ständige Herausforderung, über das Bekannte hinauszugehen. Den Klang einzustellen, ist an der Werkbank ein ständiger Kontrollverlust. Ich muss etwas tun, das ich im Tiefsten nicht verstehe. Dieser ästhetisch zugelassene Kontrollverlust ist das Wichtige in jedem kreativen Prozess. Wer die stabilen Situationen nicht verlässt, wird nie wachsen können, wird nie hinausgehen über das, was möglich ist. Wie ein Instrument gestimmt werden muss, so muss auch ich mir immer wieder die Zeit nehmen, mich zu stimmen. Ich ziehe mich zurück in die Stille des Gebets. Ich brauche das Alleinsein. Es ist eine Herzensschau. Das hat etwas zu tun mit Seelenführung. Es ist eine größere Weisheit, aus der ich leben darf. Ich mache die Musik nicht selbst, ich werde gespielt.

e: Passiert es Ihnen auch manchmal, dass Sie sich überschätzen und eine Geige völlig misslingt?

MS: Ja. Bei mir ist die Gefahr größer, dass ich zu viel will als zu wenig, dass ich übertreibe. Wenn ich ein Instrument dann nicht aufgebe, lerne ich am allermeisten. Diese Probleminstrumente zeigen einem sehr viel, weil man plötzlich in einen Bereich hineinrutscht, in dem man sich sonst nicht bewegt. Durch den Fehler verlasse ich meine stabile Situation. Ich brauche die Bereitschaft, auch Fehlschläge einzustecken. Ich versuche mit jedem Instrument, Klang zu schaffen, wie er noch nie da war. Meine Instrumente sind über die Jahre immer besser geworden. Allerdings ist meine Fähigkeit zu spüren, was noch möglich ist, so viel mehr gewachsen als mein Können, dass ich mich bemühe, Frieden zu schließen mit meiner Unzufriedenheit. Vielleicht ist eher die Dankbarkeit das Ziel. Ungefähr jedes dritte Instrument, das ich baue, ist ein Experiment, das total danebengehen kann. Aber es kann auch etwas ganz Besonderes passieren.

¬Wer die stabilen Situationen nicht verlässt, wird nie wachsen können. ¬

e: Diese Experimente sind ja ein Versuch, Einzigartigkeit hervorzulocken. Wie haben Sie zu Ihrem eigenen Klang beim Geigenbau gefunden?

MS: Ich habe viele Jahre den großen italienischen Meistern nachgeeifert. Aber das ist mir nicht genug. Für mich ist Maria Callas mit ihrer Stimme eine meiner Ikonen. Ich möchte mit meinen Geigen den Klang dieser Stimme ausstrahlen. Man kann nur weiterkommen, wenn man Vorbilder hat, die fast unerreichbar sind. Sonst gibt es keine Meisterschaft. Obwohl ich seit 25 Jahren Geigenbaumeister bin, habe ich noch nicht das Gefühl, Meister zu sein.

e: Was empfinden Sie, wenn ein Musiker mit einer Ihrer Geigen Ihre Werkstatt verlässt?

MS: Große Dankbarkeit. Es ist wie ein Wunder, wenn ein Musiker glücklich ist über ein Instrument. Manche sagen dann: Du hast mir meine Stimme gegeben. Für mich ist das ein tiefes Aufatmen, weil etwas gelungen ist. Und jede verkaufte Geige gibt mir die Chance, eine neue zu bauen. Und das ist es, was ich will. Ich möchte den Weg weitergehen.

e: Wie hat das Geigenbauen Sie als Mensch verändert?

MS: Mein Empfinden, auf die Seele zu achten, ist gewachsen; Behutsamkeit und Ehrfurcht im Umgang miteinander. Wir sind alle lebendige Seelen. Wenn ich einen Menschen berühre, berühre ich eine Seele. Martin Buber sagt: »Du bist dir gegeben.« Was du dir sein sollst, kann dir kein anderer sein. Wir alle sind Instrumente in Gottes Hand. In mir ist da diese Ehrfurcht, dass die wesentlichen Dinge nicht machbar sind. Wir können uns zur Verfügung stellen, aber wir verfügen nicht darüber. Es ist eine Gnade, empfänglich zu werden. Ich kann mich nur öffnen und aus der Liebe zur Stille leben.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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