Wir sind mehr als Kopfkino

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 12, 2015

Featuring:
Thomas Fuchs
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Issue:
Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Warum unser Gehirn nicht bewusst ist


Unser Körper ist Leben – aber oft spüren wir dieses Leben nicht und misstrauen ihm. Der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs sieht die Ursache dafür in unserer Entfremdung von der Grundlage unseres Lebens: der Leib als Medium zur Wahrnehmung der Welt.

evolve: In Ihrem Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ hinterfragen Sie die neurowissenschaftliche Idee eines Gehirns, das sozusagen aus sich selbst unser Bewusstsein schafft. Wie verstehen Sie das Gehirn und seine Beziehung zum Körper und zur Umwelt?

Thomas Fuchs: Im dominierenden neurowissenschaftlichen Paradigma erscheint das Gehirn als das Organ, das unser Bewusstsein wie eine Art „Kopfkino“ erzeugt. Meiner Ansicht nach ist das Gehirn jedoch vielmehr ein Organ, das in den Organismus und seine Funktionen, oder in die Leiblichkeit und die ökologischen Beziehungen des Leibes zur Umwelt so eingebettet ist, dass es sie ermöglicht und vermittelt.
Zum einen sind die Gehirnprozesse nicht erklärbar ohne ihre neuronale und humorale Einbettung in den gesamten Körper. Das heißt, das Gehirn hört nicht einfach am verlängerten Rückenmark auf, sondern es ist selbst über das gesamte zentrale Nervensystem, über hormonelle, autonom-nervöse, immunologische und andere Prozesse in den Gesamtkörper eingebettet. Es erhält fortwährend Rückmeldungen aus dem Körper und sendet ständig Signale in ihn zurück. Diese Wechselbeziehung zwischen dem Gehirn und dem übrigen Organismus ist die Basis für das elementare, leibliche Bewusstsein. Bewusstes Erleben entsteht also nicht einfach irgendwo im Kortex, sondern in einer kontinuierlichen Interaktion des Gehirns mit dem übrigen Organismus.
Zum anderen beruht unser Bewusstsein auf den senso-motorischen Kreisläufen, in denen der Organismus mit der Umwelt interagiert, und die vom Gehirn nur verknüpft und vermittelt werden. Ohne Gehirn könnten wir zwar nicht fühlen, wahrnehmen und handeln, aber ohne einen fühlenden, wahrnehmenden und beweglichen Körper erst recht nicht. Die Neurowissenschaft sieht das Gehirn nicht in diesen medialen, vermittelnden Funktionen. Stattdessen erscheint es als vermeintlich direkter Produzent des Ich, des Bewusstseins und der erlebten Welt.

Mensch statt Gehirn

In der Neurobiologie wird das Gehirn damit zu einem isolierten Gegenstand, den man erforschen kann, und der aus sich heraus all das erzeugt, was eigentlich nur als interaktiver Prozess zu beschreiben ist. Wir ersetzen gewissermaßen Prozess durch Struktur: Wir untersuchen die Strukturen und Mechanismen des Gehirns und betrachten es nicht mehr im lebendigen Prozess. Das scheint mir eine grundlegende Fehlinterpretation zu sein, die natürlich weitreichende Auswirkungen auf unser Selbstverständnis hat, aber auch auf Fragen, die sich in der Psychologie, der Pädagogik oder der Psychiatrie stellen. Dort geht es im Grunde immer darum, Menschen zu helfen, sich zu entwickeln und sich in ihrer Lebenssituation besser zurechtzufinden. Wenn wir versuchen, die Lösung dafür im Gehirn zu finden, dann zäumen wir das Pferd vom Schwanz auf. Wir haben nicht mehr die lebendige Person in ihren Beziehungen zur Umwelt im Blick, sondern versuchen, im Gehirn die Lösungen für etwas zu finden, was nur in einem interaktiven Prozess von Organismus und Umwelt gelebt und erfahren werden kann.

e: Sie sprachen von einem „elementaren leiblichen Bewusstsein“ und von den „ökologischen Beziehungen des Leibes zur Welt“. Wie muss sich Ihrer Ansicht nach unsere Sicht des Körpers verändern, um zu verstehen, wie wir so „in der Welt sein“ können?

TF: Zunächst einmal gilt der schlichte Satz: Der Mensch denkt, nicht das Gehirn. Wir müssen lebendige Organismen sein, um denken zu können. Das heißt, die Bewusstseinsprozesse setzen Leben voraus – lebendig ist aber kein Gehirn und auch kein Geist, sondern nur das Lebewesen als Ganzes. Der lebendige Organismus ist die grundlegende Einheit, von der wir ausgehen müssen, damit wir sowohl die Gehirnprozesse als auch die Bewusstseinsvorgänge auf einen einheitlichen Lebensprozess rückbeziehen können.
Als Lebewesen erfahren wir nun selbst eine elementare Lebendigkeit. Damit meine ich nicht nur die physiologischen Prozesse, die unseren Organismus am Leben erhalten, sondern auch unser Lebensgefühl. Es ist ein basales leibliches Erleben, das man etwa als Vitalität, Frische oder auch Müdigkeit an sich selbst spürt, und das immer im Hintergrund unseres Bewusstseins bleibt. Und dieses Erleben entsteht durch die ständige Verbindung und Rückkoppelung zwischen dem Gehirn und dem gesamten übrigen Organismus. Wenn Neurowissenschaftler Bewusstseinsvorgänge untersuchen, dann erforschen sie die Funktionen etwa des Sehens, Hörens oder Denkens. Aber das sind bereits spezialisierte, gerichtete Prozesse, die sich auf einzelne Aspekte der Welt beziehen. Damit wir uns so auf bestimmte Aspekte der Welt richten können, bedarf es eines elementaren Selbsterlebens, das noch prä-reflexiv, also nicht im Sinne des Ich-Bewusstseins selbstbewusst ist. Es ist vielmehr ein elementares Gefühl von Lebendigkeit im leiblichen Dasein.

Leib = Leben

e: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sagen Sie, dass wir vor unserem Ich-Bewusstsein, das sich getrennt von der Welt erfährt und aus dieser Trennung heraus mit der Welt umgeht, in einer grundlegenden Lebendigkeit eigentlich zutiefst mit der Welt verbunden sind?

TF: Ja, Lebendigkeit ist ein leibliches Hintergrund-Empfinden, das mich begleitet, auf welche Gegenstände ich sonst mit meinem Bewusstsein auch immer gerichtet sein mag. Es ist das Erste, was wir empfinden, wenn wir morgens aufwachen. Noch bevor wir sagen können, wer wir sind, uns an bestimmte Ereignisse erinnern oder uns vorstellen, was der heutige Tag bringt, sind wir zunächst lebendig. Das ist so selbstverständlich, dass wir es gar nicht bemerken, weil wir meist schon auf die Gegenstände des Bewusstseins gerichtet sind. Aber unseren Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken und Handlungen liegt etwas voraus, das so elementar ist, dass man es gar nicht leicht direkt beschreiben oder erfassen kann. Es ist das Leben selbst.

e: Dann wäre es unsinnig, das Bewusstsein ohne seine Grundlage in der Lebendigkeit überhaupt verstehen zu wollen, zum Beispiel nur als informationsverarbeitenden Prozess.

TF: Ja, Bewusstsein ist gewissermaßen eine gesteigerte Form von Lebendigkeit. „Er-leben“ ist sozusagen der Übergang des Lebensprozesses in Bewusstsein. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass wir einem Computer niemals Bewusstsein zuschreiben können. Er mag ja meinetwegen alle kognitiven Funktionen ausführen, die auch wir Menschen ausführen können – vielleicht sogar besser als wir. Aber er ist nicht lebendig; er hat kein elementares Lebensgefühl. Denn dazu müsste er ein sich auto-poetisch organisierender, sich selbst erhaltender Organismus sein, mit vielen rekursiven Teilfunktionen, die ineinandergreifen. Aus Schaltkreisen entsteht kein Lebensgefühl, daher auch kein Bewusstsein.

e: Wie sind wir nun über diese grundlegende Lebendigkeit mit der Welt in Verbindung?

TF: Die Lebendigkeit manifestiert sich in allen Formen des Wahrnehmens, Bewegens und Handelns in der Welt. Wir sind als leibliche Wesen so auf die Welt bezogen, dass der Leib in verschiedenster Weise diese Beziehungen vermittelt. Überall dort, wo wir gegenständlich, zielgerichtet, also wahrnehmend, denkend oder wollend auf etwas gerichtet sind, ist es der lebendige Leib als Medium, das mir diese Gerichtetheit erlaubt. Ich könnte ihn vielleicht mit der Brille vergleichen, die ich trage und durch die ich auf die Welt schaue. Ich kann mir jetzt, wo ich mit Ihnen darüber spreche, bewusst machen, dass ein Glas vor meinem Auge ist. Aber den ganzen Morgen habe ich diese Brille selbstverständlich getragen, ohne sie zu bemerken. Sie war also in gewisser Weise Medium meiner Wahrnehmung. Genauso verhält es sich mit dem Leib, er ist ständig „mit da“, mit präsent, aber er liegt nicht im Fokus der Aufmerksamkeit.

Natürliche Lebendigkeit

e: Im Vergleich mit der Brille sagen Sie, dass der Leib uns so selbstverständlich ist, dass wir seine Anwesenheit einfach übersehen.

TF: Ja, aber natürlich keineswegs immer – es kommt ja auch oft zum Bewusstsein des Leibes als Körper, etwa wenn wir gezielt bestimmte leibliche Spür- und Lusterfahrungen suchen. Häufig wird uns der Körper freilich dann bewusst, wenn seine Funktionen in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder gestört sind, etwa wenn ich Schmerzen habe, stolpere, ermüdet oder gelähmt bin. Oder auch wenn wir uns des Körpers bedienen, um eine bestimmte Sache zu lernen. Wenn ich z. B. Klavier spielen lerne, dann muss ich mir jeden einzelnen Finger bewusst machen, ihn spüren und darauf achten, wie er sich bewegt. In dem Maß, indem ich dies erlernt habe, ist interessanterweise die Gegentendenz zu beobachten: Die Fingerbewegung wird mir immer unbewusster, weil sie nun in einen Gesamtablauf integriert ist, den ich als Ganzen in Aktion setzen kann, ohne noch auf die einzelnen Körperbewegungen zu achten. Wenn ich ein geschickter Klavierspieler oder Tänzer bin, dann sind die Einzelbewegungen so in mein Leibgedächtnis integriert, dass ich ihrer gar nicht mehr bewusst bin.

e: Sehen Sie diese „Leib-Vergessenheit“ als ein Problem oder ist es einfach eine Voraussetzung, um leben zu können?

TF: Die „Leib-Vergessenheit“ oder „Leib-Verborgenheit“ ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir überhaupt in der Welt sein können. Nur als Medium ermöglicht uns der Leib die
Fülle von großartigen Dingen, die wir in der Welt tun können. Wenn wir jedes Mal auf alle Einzelaktionen achten müssten, dann wären wir sehr rasch überfordert. Ohne die Medialität, die Selbstverborgenheit oder Selbstvergessenheit des Leiblichen könnten wir uns gar nicht auf übergreifende Zusammenhänge richten. Ich könnte nicht einmal mit Ihnen sprechen, wenn meine Zunge die Worte nicht von selbst richtig sprechen würde. Erst wenn ich eine neue Sprache lerne, muss ich die Leibvergessenheit aufheben und mir bewusst machen, wie ein bestimmtes Wort in dieser Sprache gesprochen wird. Ich muss also gezielt üben, um z. B. eine neue Sprache erlernen und mir damit ein Stück neue Welt zu erschließen. Es ist also ein Segen, dass wir die Leibvergessenheit auch aufheben können. Andernfalls wären wir nur geschickte Tiere, die bestimmte spezialisierte Funktionen ausüben können, aber nicht in der Lage sind, ihre Fähigkeiten selbst gezielt zu beeinflussen und etwas Neues zu lernen. Wir können uns also einerseits der natürlichen Lebendigkeit des Leibes anvertrauen, andererseits den Leib doch auch als Mittel nutzen, um uns neue Weltinhalte zu erschließen.

Jenseits der Entfremdung

e: Die isolierende Sicht des Gehirns, die Sie beschrieben haben, geht ja auch mit einer subjektiv empfundenen Trennung einher, die man vielleicht als Entfremdung von der Welt oder sogar von sich selbst bezeichnen kann. Welche Rolle spielt für Sie dieser Begriff der Entfremdung?

TF: Eine Entfremdung von uns selbst tritt dann ein, wenn wir die Prozesse des leiblichen In-der-Welt-seins nur noch aus einer objektivierenden Perspektive betrachten, also nicht mehr aus der Perspektive der ersten, sondern der dritten Person. Wir sehen uns dann immer weniger als Per¬sonen, die Motive oder Beweggründe haben und Ent¬scheidun¬gen treffen, sondern eher als Agenten unserer Gene, Hormone und Neuronen, als Wesen, die in verschiedenster Weise von ih¬rem Körper gesteuert wer¬den. Auch unsere Prob¬leme, Konflikte und Leiden sind dann nicht mehr existen¬zielle Aufgaben, mit denen wir konfrontiert sind, son¬dern Resultat von fehlge¬steuerten neuronalen Netz¬werken und Transmitterdefiziten.
Eine Entfremdung liegt auch in unserem verdinglichenden Verhältnis zu unserem eigenen Körper. Dass der Körper in der gegenwärtigen Kultur so im Vordergrund steht und mit allen Mitteln gestaltet, modelliert, verschönert, operiert und in irgendeiner Weise manipuliert wird, bedeutet ja eine Vergegenständlichung des Leibes zum Körper, den man wie ein Instrument benutzt. Das ist bis zu einem gewissen Grad natürlich verständlich, kann aber problematisch werden, wenn wir uns nur noch als Körper, also nur noch von außen sehen. Gerade in der Schönheitschirurgie oder im Bodybuilding formen wir den Körper wie einen äußerlichen Gegenstand.
Entfremdend wirkt sich eine objektivierende Sicht auch auf unser Verhältnis zu anderen aus. Nach den gegenwärtig vorherrschenden Theorien der sozialen Wahrnehmung können wir das, was andere Menschen fühlen, tun und denken nur dadurch verstehen, dass wir uns eine Theorie über sie bilden, eine sogenannte „Theory of Mind“. Wir müssen also aus äußeren Anzeichen und Bewegungen Schlussfolgerungen bilden, um zu erkennen, was andere Menschen empfinden und wollen. Wenn wir das zur Grundlage unseres sozialen Verstehens machen, dann neigen wir dazu, andere Menschen wie Objekte zu betrachten, die in irgendeiner Weise „entschlüsselt“ werden müssen. Wir verlassen uns nicht mehr auf unsere zwischenleiblichen Empfindungen, durch die wir ja selbstverständlich wahrnehmen, wie sich jemand fühlt, wenn er lacht oder weint. Die primäre leibliche Empathie lässt uns erfahren, dass wir mit anderen verbunden sind, ebenso wie das Lebensgefühl uns mit der Welt insgesamt verbindet. Entfremdung entsteht dadurch, dass wir diesen primären leiblichen Beziehungen zur Welt nicht mehr vertrauen – also dem Leben nicht mehr vertrauen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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