Wir und die anderen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 26, 2015

Mit:
Raul Quiñones-Rosado
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AUSGABE:
Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Wie wir Menschen zu Fremden machen


Unsere heutigen multikulturellen Gesellschaften tragen das Erbe jahrhundertelanger institutioneller Unterdrückung in sich. Wie können wir uns dieser tief verinnerlichten Vorurteile gegenüber dem Fremden bewusst werden und uns davon befreien?

Ein Interview mit Raul Quiñones-Rosado

evolve: Deutschland wird dieses Jahr 800.000 Flüchtlinge aufnehmen, ein großer Teil davon kommt aus Syrien. Diese Flüchtlinge sind ethnisch völlig verschieden im Vergleich zu den Millionen Menschen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und später nach dem Balkankrieg aufnahm. Kann Ihre Arbeit über Antidiskriminierung uns helfen zu verstehen, wie die Deutschen mit dieser Multikulturalität am besten umgehen könnten?

Raul Quiñones-Rosado: Ja, ich glaube schon. Zuerst sollten wir darüber nachdenken, was wir mit »Multikulturalität« meinen. Die Welt war immer mannigfaltig und multikulturell. Unterschiedlichkeit im Allgemeinen ist bedeutungslos, wenn wir nicht über soziale Gruppenidentitäten und die Dynamik sozialer Macht sprechen. Damit meine ich die Politik herrschender und untergeordneter Identitäten oder die Politik der Inklusion und Exklusion in Bezug auf die Teilnahme an den sozialen Institutionen und Strukturen einer Gesellschaft. Mit anderen Worten, die Idee der »Multikulturalität« ist nur relevant, wenn wir soziale Gruppenidentitäten und die Realität der Unterdrückung berücksichtigen.

e: Was verstehen Sie unter »sozialer Gruppenidentität«?

RQR: Die soziale Gruppenidentität ist der Aspekt des Selbst, der uns mit anderen Menschen verbindet, mit denen wir ein gemeinsames Identitätsgefühl teilen. Dadurch empfinden wir ein Zugehörigkeitsgefühl. Dabei sind unsere verschiedenen sozialen Gruppen­identitäten – Geschlecht, soziale Klasse, Rasse, Nationalität, Ethnie, Sexualität, Religion, politische Ideologie, Alter und körperliche bzw. geistige Fähigkeiten – unterschiedlich und können uns leider auch trennen.

Soziale Gruppenidentität entwickelt sich in dem enorm komplexen System der sozialen Übereinkünfte und historischen Prozesse, die eine »Gesellschaft« ausmachen. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen sozialen Übereinkünfte, die »Verschiedenheiten, die einen Unterschied machen«, die auf den kulturellen Identitäten beruhen, die diese Gruppen in einer bestimmten Kultur haben. Und in dieser Kultur wird jedes Kind von der Familie, den Nachbarn und den pädagogischen und religiösen Institutionen erzogen, durch die diese Bedeutungen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Durch diese frühen Interaktionen des Selbst mit den anderen entsteht die soziale Ebene der Identität.

Als Kind habe ich zum Beispiel von meinen Eltern, Lehrern, Freunden, aus Fernsehen und Filmen sowie zahllosen anderen Quellen gelernt, dass »ich« ein Junge bin (und kein Mädchen). Dass »ich« arm bin (und nicht reich). Und an einem bestimmten Punkt lernte ich, dass ich Puertoricaner, vielrassig und somit farbig bin (und nicht weiß). Einige dieser Lektionen wurden mir explizit beigebracht, die meisten wurden aber implizit kommuniziert und unbewusst psychologisch verinnerlicht. Egal wie sie mir in der Kindheit und im Laufe des Lebens beigebracht wurden, ich habe das Gefühl entwickelt, dass ich zu diesen und vielen anderen sozialen Gruppen gehöre. Zudem habe ich das Gefühl und den Glauben entwickelt, dass ich diese Identitäten bin. Mit anderen Worten, diese Identitäten sind nicht nur Aspekte von mir: Sie sind meine Identität. Diese verschiedenen Gruppenidentitäten verbinden mich mit anderen, sowohl subjektiv (innerlich) als auch konkret (äußerlich).

¬ RASSE IST EINE KATEGORIE, DIE DURCH EUROPÄISCHE ANTHROPOLOGEN IM 18. JAHRHUNDERT EINGEFÜHRT WURDE. ¬

e: Die Kategorien, die Sie benannt haben, sind oft Quellen von Vorurteilen und Voreingenommenheit.

RQR: Ja, das ist richtig. Aber soziale Gruppenidentitäten sind nicht so sehr die Quelle von Vorurteilen, es ist eher so, dass diese Kategorien die Folge von Vorurteilen sind. Oder genauer gesagt, soziale Gruppenidentitäten sind die Folge von Vorurteilen plus institutioneller Macht. Sehen Sie, Geschlecht, soziale Klasse, Rasse, Nationalität, Ethnie, Sexualität, Religion, politische Ideologie und andere Identitäten sind soziale Konstrukte oder Konventionen, die im Laufe der Zeit aufgrund systemischer und systematischer Unterdrückung entstanden sind.

Vorurteile sind normal, und es gibt starke Belege dafür, dass sie Teil der Beschaffenheit unseres Gehirns sind. Kinder gewöhnen sich leichter an Personen, die denen ähneln, die sie häufig sehen. Bei der Voreingenommenheit jedoch, von der wir bei Rassismus oder Fremdenangst sprechen, handelt es sich um Vorverurteilungen, die nicht auf persönlicher Erfahrung basieren, sondern auf positiven und negativen Stereotypen und Vorstellungen, die wir in unseren Gesellschaften in Bezug auf den innewohnenden Wert jeder sozialen Gruppe haben. Diese Sichtweisen wurden über Jahrhunderte und Jahrzehnte konstruiert und geteilt. Wir sprechen hier von vorurteilsvollen Narrativen, die von Menschen mit sozialen Machtpositionen geschaffen wurden – von Mitgliedern sozialer Gruppenidentitäten, die erfolgreich ihre bestimmte Weltsicht und Denk- und Verhaltensmuster anderen sozialen Identitätsgruppen aufgezwungen haben.

Diese Vorurteile sind aber nicht nur kulturelle oder rassenbezogene Narrative über Überlegenheit und Unterlegenheit, die inter­personell zwischen Menschen kommuniziert werden. Rassistische oder fremdenfeindliche Narrative werden institutionalisiert und in die ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Strukturen der Gesellschaft eingebettet. Dadurch beeinflussen sie, was in unseren Schulen gelehrt wird, wie verschiedene Gruppen im Fernsehen, in den Künsten oder der Unterhaltungsindustrie dargestellt werden. Sie beeinflussen auch, wie Menschen vom Gesetz und den Gerichten behandelt werden und welchen Platz sie auf dem Arbeitsmarkt innehaben.

Die Institutionalisierung der Vorurteile in Bezug auf soziale Gruppenidentität ist gleichbedeutend mit struktureller oder systemischer Unterdrückung. Unterdrückung von Rassen oder Ethnien, die sich auf solche Vorurteile bezieht, kann die Quelle von Vorverurteilungen sein. Diese Unterdrückung stützt sich aber auch auf Gesellschaftsstrukturen, die Sinn und Werte vermitteln.

Nehmen wir beispielsweise die Kategorie der Rasse. Was ist »Rasse«? Haarqualität? Gesichtseigenschaften? Das sind sehr oberflächliche Unterschiede. Die Unterschiede zwischen Rassen machen tatsächlich weniger als ein zehntel Prozent unserer DNA aus. ­Rasse ist eine Kategorie, die durch europäische Anthropologen im 18. Jahrhundert eingeführt wurde, um genozidalen Kriegen und der Sklavenwirtschaft den Anschein einer wissenschaftlichen Rechtfertigung zu geben. Sie wurde auch dazu benutzt, die 275 Jahre währende Kolonialisierung Afrikas und Amerikas in der Zeit der Moderne und der Entstehung der ersten konstitutionellen Republiken zu rechtfertigen. Die europäischen Anthropologen waren von den rassistischen und fremdenfeindlichen Narrativen ihrer Herkunftsorte und ihrer Zeit geprägt und entschieden, dass die kaukasische oder weiße »Rasse« nicht nur anders war als andere Rassen, sondern auch überlegen. Damit war es für sie aber auch »wahr« und »real«, dass die negroide oder schwarze Rasse gegenüber allen anderen Rassen minderwertig war.

Das Konzept der »Rasse« basiert also nicht nur auf mehr als 275 Jahren Genozid und Landraub an den indigenen Völkern und auf der Versklavung von entführten Afrikanern durch Kapitalisten europäischer Herkunft, sondern auch auf der »Wissenschaft« der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, die durch den Staat gestützt wurde. Die rassistische Unterdrückung und institutionelle Macht, die Weiße als überlegen sieht und Schwarze als minderwertig verdammt, wurde genutzt, um staatlichen Rassismus und Genozid in den USA, in Australien und natürlich auch in Deutschland zu rechtfertigen.

e: Rassen, eine Rangordnung von Rassen und ethnischen Gruppen wurden eine allgemeine Realität. Wie können wir das verändern? Wir können nicht einfach sagen: »Das ist nicht real!«, oder?

RQR: Nein, das können wir nicht. Wir müssen verstehen, dass institutioneller Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht nur Ideologien, Glaubenssätze, Neigungen, Weltsichten und Praktiken in unserem Geist oder in der Vergangenheit sind. Die Überlegenheit der Weißen, Fremdenangst, das Patriarchat und andere Formen der Unterdrückung sind in den modernen Gesellschaften – und in uns – sehr tief eingebettet. Manche Leute erfahren mehr über den Rassismus und sagen: »Moment mal, wenn Rasse ein soziales Konstrukt ist und von Anfang an falsch war, machen wir es einfach rückgängig.«

¬ SOZIALE GRUPPENIDENTITÄTEN SIND DIE FOLGE VON VORURTEILEN PLUS INSTITUTIONELLER MACHT. ¬

e: So als ob uns das über die Rassenidentität hinausbringen würde.

RQR: Man kann den erforderlichen Entwicklungsprozess nicht überspringen. Wir müssen uns anschauen, wie diese unterschiedlichen Aspekte der sozialen Gruppenidentität konstruiert sind. Schauen wir auf die Geschlechteridentität: Es gibt Unterschiede in der DNA zwischen XX- und XY-Chromosomen. Aber sind diese biologischen Unterschiede die Ursache für alle sozialen und kulturellen Unterschiede und für alle Machtdynamiken?

Die unterschiedliche Macht von Männern und Frauen, zusammen mit den impliziten Annahmen, die von der Überlegenheit des Mannes ausgehen, sind ebenso sozial konstruiert und institutionell abgesichert.

Können wir also einfach sagen: »Lasst es uns rückgängig machen!«? Nein, so einfach ist es nicht. Es gibt einen Prozess, der uns dabei unterstützt, uns durch die Entwicklungsstufen der sozialen Identität zu bewegen. Am Anfang müssen wir vor allem fähig sein, über die vorurteilsvollen Narrative hinauszuschauen, die unserem Leben bisher Sinn gegeben haben. Wir müssen sehen, dass ­Rasse, Ethnie, Geschlecht usw. sozial konstruiert und ökonomisch, kulturell und politisch ausgenutzt wurden. Mit anderen Worten, wir müssen unsere kollektiv geteilten sozialen Identitäten historisch analysieren, vielleicht bis zurück zum Beginn der Moderne vor 500 Jahren.

Ein weiterer Schritt in diesem Prozess ist die Erkenntnis, dass beide, der Unterdrücker und der Unterdrückte in uns existieren. Hier besteht die Arbeit darin, uns von den Denk- und Verhaltensmustern der beherrschenden und untergeordneten Identitäten, die wir gelernt und angenommen haben, zu befreien. Dadurch befreien wir uns von Unterdrückung, während wir uns in die Transformation und Emergenz umfassender Stufen der sozialen Identität und integralen Stufen von Beziehung bewegen.

e: Können Sie noch mehr darüber sagen, wie diese Transformation vor sich gehen kann?

RQR: Wir können damit beginnen, dass wir unsere Fähigkeit für Selbstreflexion nutzen, um uns der emotional verengenden Zustände bewusst zu werden, die für Interaktionen mit anderen Rassen oder ethnischen, sexuellen und religiösen Identitäten typisch sind. Meditationsübende können ihre Selbstbeobachtung und Achtsamkeit nutzen, um die emotionale Verengung und das Gefühl der Trennung loszulassen. So gut wie möglich sollten wir im Dialog bleiben, uns nicht zurückziehen, aber wir sollten respektieren, wenn der andere sich zurückziehen will. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass sich unsere Entwicklung durch die Stufen der sozialen Gruppenidentität in Beziehungen entfaltet. Wir alle haben die verzerrten Botschaften und vorurteilsvollen Narrative unserer Kulturen gelernt. Wir haben sie internalisiert und wir glauben an sie, selbst wenn wir im späteren Leben erkennen, dass sie nicht wahr sind. Diese Einsicht ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns bewusst durch die Entwicklungsstufen der sozialen Identität bewegen.

Dadurch können wir uns über die Stufe der Akzeptanz hinaus entwickeln, wo wir die Narrative von Unterdrückern und Unterdrückten, von Überlegenheit und Unterlegenheit als wahr ansehen. Dann können wir zu der Einsicht kommen, dass sie nicht wahr sind. Es emergiert die Stufe des Widerstands gegen solche Narrative und Verhaltensweisen. Wir verstehen, wie Rassismus psychologisch internalisiert und ausagiert wurde. Durch kritische Analyse beginnen wir zu verstehen, dass unterdrückte Gruppen durch dominante Gruppenmitglieder und institutionelle Systeme jahrhunderte- oder jahrzehntelang traumatisiert wurden. Wir sehen, dass es Gründe dafür gibt, wie sich Menschen aufeinander beziehen – was uns selbst natürlich mit einschließt.

Das Bewusstsein, das aus diesem Widerstand entsteht, ermöglicht die Suche nach einem anderen Selbstgefühl, in dem wir uns selbst neu definieren können. Auf dieser Stufe der Neudefinition können wir sagen: »Ich bin ein Mitglied dieser sozialen Identitätsgruppe, aber ich identifiziere mich nicht mehr mit unterdrückenden Mustern meiner Gruppe. Ich will diese Muster in mir selbst und anderen herausfordern.« Diese Stufe der Neudefinition ist eine tiefe Erforschung des Selbst, in der man mit anderen aus der eigenen Gruppe, die ebenfalls auf dieser Stufe sind, in Beziehung ist. All diese Stufen führen zu einem Gefühl der Spannung. Nur in den nachfolgenden Stufen der Verinnerlichung und Integration wird der Prozess leichter. Auf der Stufe der Verinnerlichung haben wir die kollektiven rassenbezogenen Narrative der weißen Überlegenheit transzendiert. Wir erkennen die eigene Rassen­identität an, identifizieren uns aber nicht mehr damit und haben diesen Aspekt des Selbst mit lebensförderlichen Gedanken- und Verhaltensmustern verbunden – man könnte es als befreite Rassenidentität bezeichnen.

Bei der Entwicklung zur Stufe der Integration geht es aber um mehr als unsere rassische, ethnische oder Geschlechteridentität. Integration bedeutet, dass wir die Entwicklung in den verschiedenen Gruppenidentitäten durchlaufen. Dieser Prozess erfordert unser absichtsvolles Mitwirken. Aber wenn wir verstehen, dass die Dymaniken in allen sozialen Gruppenidentitäten gleich sind, wird es leichter, durch diesen Prozess zu gehen.

Author:
evolve
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