Wirkliches Zuhause

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

July 19, 2018

Mit:
Charlotte Roche
Dr. Andreas Weber
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AUSGABE:
Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Landschaft als großes Gegenüber

Stadt und Land begegnen uns heute oft als Gegensätze. Es ist ein Riss, der sich auch durch unser Inneres zieht. Doch die Beziehung zu unseren Lebensräumen kann auch zur Umarmung werden. Wenn wir uns tiefer für unsere Umgebung öffnen, kann die Ganzheit, die alles umspannt, durchscheinen.

Mitten in Frankfurt, ganz in der Nähe der City, steht eine alte Linde. Als sie Ende des 17. Jahrhunderts dort gepflanzt wurde, war da noch freies Feld am Rande einer unbebauten Chaussee. Die Linde ist stille Zeugin des Wachstums der Stadt. Sie war da, als hier die ersten Häuser gebaut wurden. Sie war da, als der Zweite Weltkrieg Teile der Stadt zerstörte. Sie war da, als man die ersten Hochhäuser baute. Sie war da, als man die ersten von ihnen wieder abriss. Inmitten des vom Menschen Geschaffenen vermittelt ihre Anwesenheit eine Erhabenheit und Lebenskraft, die etwas Essenzielles durchscheinen lässt. Architektur kann uns inspirieren, die Frankfurter Skyline hält uns vor Augen, wozu menschliche Kreativität im Stande ist. Doch die Vitalität, die durch diese Linde wirkt, kann der Mensch nicht machen. Sie erwächst aus etwas Größerem.

Als vor 50 Jahren die U-Bahn gebaut wurde, führte man ihre Strecke dort, wo die Linde steht, behutsam in einem Bogen. Hier umarmt die Stadt das Land. Und aus dem Land erhebt sich das Leben. Es sind Umarmungen wie diese, die aus Orten Lebensräume werden lassen, die unsere Seele nähren.

Organische Beziehungen

Die Eschersheimer Linde, U-Bahn-Station
Am Lindenbaum, Frankfurt am Main.

Unsere Sehnsucht, als Menschen unser Potenzial zu entfalten, hat viel mit Pflanzen gemein, die sich nach dem Licht strecken. In unserer Umgebung dafür Raum zu finden, ist wesentlich für unsere Lebendigkeit. Diese organische Beziehung des Wachsens zu unserem Lebensraum war seit jeher eine offene und eine in der Tiefe verbundene. Die Jurte der Nomaden wusste noch nicht um die Wolkenkratzer heutiger MegaCities. Doch die Weite des Landes barg ihre Möglichkeit in sich.

Heute stehen wir an einem Wendepunkt. Der Grund, aus dem die Frankfurter Linde wächst, ist der gleiche, der auch uns gedeihen lässt. Doch mit Beton und Asphalt verstellen wir uns heute immer mehr den Zugang dazu. Und im Schatten der Hochhäuser verkümmert etwas von dieser organischen Kraft des Nährenden und Erblühenden.

Städte bauen zu können, war wie ein menschlicher Sieg über die Urkräfte der Natur. Als wir die ersten Zelte und Hütten zu errichten begannen, suchten wir Schutz vor Wind und Wetter und wilden Tieren. Wir waren der Erde noch nahe. In ihr gründet unser Dasein. Sie war immer schon da. Und sie wird es bleiben, solange der Planet Erde existiert. Ungeachtet unserer menschlichen Anwesenheit. Diese elementare Uneinnehmbarkeit hat uns als Menschheit immer wieder angetrieben, uns an dieser Unverfügbarkeit des Landes zu reiben und ihr etwas abzuringen. Der Bau von Häusern, Hochhäusern, Wolkenkratzern ist Ausdruck dieser Inspiration. Sie haben etwas Triumphales. Das vom Menschen Geschaffene überragt das, was das Land aus sich selbst heraus hervorbringen kann. An unseren Bauwerken wächst unser Menschsein, denn an ihnen zeigt sich, wozu wir fähig sind.

Unsere Sehnsucht, als Menschen unser Potenzial zu entfalten, hat viel mit Pflanzen gemein, die sich nach dem Licht strecken.

Doch dieses Menschsein verkümmert, wenn es sich zu sehr von dem entfremdet, was es nährt. Das erleben wir heute schmerzlich. Wir selbst sind dann lebendig, wenn unser Ringen mit dem Land uns in eine lebendige Beziehung zu unserer Umwelt stellt. Wenn wir ihr nicht allein unseren Willen aufzwingen, sondern bereit sind, uns ihr auch anzuvertrauen. Umarmt zu werden setzt voraus, dass wir uns hingeben. Dort, wo wir durch unsere Städte das Land beherrschen, beherrschen sie irgendwann auch uns. Das erleben wir immer mehr.

Echte Erde

Das Unbehagen an einer Urbanität, die uns überrollt, ist greifbar. »Verlasst die Städte!«, forderte kürzlich die Schriftstellerin Charlotte Roche. In ihrer Kolumne in der »Süddeutschen Zeitung« beschrieb sie, wie die Stadt uns heute ihre Form geradezu aufzwingt: »Der Indianer in mir vermisst echte Erde unter den Füßen. Die Bäume in der Stadt sind eingemauert oder umgeben von Asphalt. Nachts sieht keiner Sterne. Die Stadt ist einfach keine artgerechte Haltung für Menschen!«

Roche neigt zum Polemisieren, doch trifft sie hier das Leiden, das entsteht, wenn unser Lebensraum uns erdrückt und überwuchert. Ein Baum, der in die Höhe schießt und dabei nicht genügend Wurzeln bildet, fällt im Sturm um. Unsere Städte sind in den letzten zweihundert Jahren zum Teil explosionsartig gewachsen. Und heute stehen viele von ihnen auf der Kippe. Zu viele Abgase und Verkehr, Betonwüsten, Lärm und Hektik. Die urbane Dynamik hat sich entkoppelt von den organischen Prozessen, die sie erden.

Die Enge der Stadt hält unseren Geist gefangen.

Heute hat man bisweilen das Gefühl, die Stadt will immer mehr von sich selbst und beginnt, die, die in ihr leben, auszuzehren. Angsterkrankungen und Depressionen kommen in Städten 40 Prozent häufiger vor als auf dem Land. Psychologen sind besorgt, weil die menschliche Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation immer mehr schwindet, je länger die Stadt unser Zuhause ist. Die Stadt ergreift Besitz von uns. Und wir verlieren uns in ihr. Ein Feng-Shui-Experte würde vielleicht sagen, der Mensch als Wesen zwischen Himmel und Erde ist dabei, in der Stadt den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil er in seinen Hochhäusern die Erde nicht mehr berühren könne. Und der Himmel verschwindet hinter einer Decke aus Smog.

Eingebunden sein

Diese Enge hält längst auch unseren Geist gefangen. Und es ist uns oft nicht bewusst. Wir glauben vielleicht, mit Großem verbunden zu sein, doch ist es längst ins Überschaubare geschrumpft. Charlotte Roche trifft etwas Existenzielles, wenn sie sagt: »Da fehlt die Demut vor dem Universum, denn wir denken: Wir sind der Sternenhimmel, wir leuchten mehr als die Sterne. Aufm Land, immer wenn ich draußen bin im Dunkeln, gibt’s diesen kurzen Blick zum Himmel, ich werde klein, unbedeutend, ich verstehe das große Weite nicht, das ist nur eins von vielen Universen. Bäm im Kopf!« Es ist mehr als Ehrfurcht vor der Natur, was sie hier anspricht. In Momenten wie diesen blitzt vielleicht die Grenzenlosigkeit und Tiefe unserer eigenen Natur auf. Und für einen Augenblick merken wir, wie klein doch das ist, was wir als Lebensräume schaffen. Es ist ein kurzer Moment, ein schmerzlicher.

Wir stehen an einer Schwelle. Noch können wir spüren, dass wir dabei sind, etwas zu verlieren. Doch wie lange wird diese Wahrnehmung uns noch zugänglich sein? Mir kommt es beinahe so vor, als hätten wir innerhalb weniger Jahrzehnte so gut wie vergessen, dass sich die Orte, die uns ein wirkliches Zuhause bieten, aus unserem lebendigen Miteinander mit dem formen, was uns umgibt. Betrachten wir Landschaft als großes Gegenüber, kann sie uns in unseren alltäglichen Lebensräumen eine tiefere Geborgenheit vermitteln. Es ist ein Eingebundensein, das wir selbst nicht machen können.

In meiner Kindheit in den 1970er Jahren war dieses Wechselspiel noch gegenwärtiger, weil die Stadt dem Land noch näher war. Im Rückblick erscheint mir diese Zeit fast wie der Ausklang eines Übergangs. Die Eltern meines Vaters waren ursprünglich Bauern. Allein der Gedanke daran hat heute für mich beinahe etwas Seltsames, so fern ist diese bäuerliche Lebenswelt inzwischen, die noch ganz unmittelbar mit dem Land und Boden verbunden war. Nach ihrer Vertreibung durch den Krieg wurden meine Großeltern in einer Kleinstadt sesshaft, in der auch ich aufgewachsen bin. Zu dem kleinen Reihenhaus, in dem sie mit zwei anderen Familien lebten, gehörte ein großer Nutzgarten, was damals noch sehr verbreitet war. Meine Großeltern hielten Hühner und bauten viel von dem selbst an, was bei ihnen auf den Tisch kam. Sie hatten ein Stück Landleben mit in die Stadt genommen. Und ihr Garten gab ihnen etwas, das das Haus, in dem sie lebten, ihnen allein nicht hätte geben können. Ich erinnere mich noch gut: Wenn ein Huhn seine besten Tage hinter sich hatte, gab es sonntags Hühnergulasch. Das Fleisch war immer sehr trocken und zäh. Die Hähnchen, die meine Mutter beim Metzger kaufte, schmeckten viel besser. Doch für mich hatten diese Mahlzeiten eine besondere Bedeutung. Ich hatte eine unterschwellige Verbindung zu dem, was ich da aß, weil ich für eine Weile den Lebensraum mit ihm geteilt hatte.

Auch die Mutter meiner Mutter kam aus einer Bauernfamilie. Sie war in ihrer Familie die erste gewesen, die sich für ein Leben in der Großstadt entschieden hatte. Ich liebte es, mit meiner Großmutter in ihren Schrebergarten zu gehen, wenn wir sie in Frankfurt besuchten. Ich konnte Stunden damit verbringen, mit der verrosteten Pumpe Wasser zu schöpfen und die Obstbäume und Gemüsebeete zu wässern. Bei jedem Besuch überprüfte ich ungeduldig, ob die Früchte schon reif waren. Ich gab dem Land etwas und das Land erwiderte meine Geste. Es war weit mehr als eine Tauschbeziehung. Was im Garten wuchs, lebte aus einem größeren Zusammenhang, und ich konnte in meinem Tun an ihm teilhaben.

Sehnsucht nach der Wildnis

Man kann meine Erinnerungen als Kindheitsnostalgie abtun. Für mich werfen sie die Frage auf, was wir verlieren, wenn wir uns Landschaften aneignen und sie allein nach unserem Willen formen. Die Felder, in denen ich als Kind noch tobte, wurden schon vor vielen Jahren zugebaut. Und der Wald, in dem wir früher spielten, ist einer Flugzeuglandebahn gewichen. Doch das vom Menschen Unangetastete übt eine ungebrochene Faszination auf uns aus. 90 Prozent aller Deutschen sehen in der Wildnis einen Freiraum in unserer technisierten Welt, in dem unsere ursprüngliche Natur noch erlebbar ist. Wir ahnen, dass ihre Landschaft noch ein ganzer Lebensraum ist.

Wirkliche Wildnis aber gibt es in Deutschland heute nicht mehr. Der Wald, in den es uns an Wochenenden zieht, ist Wirtschaftswald. Die weiten Felder und selbst viele Biotope sind größtenteils Kulturlandschaften. Das Grün hat nach wie vor eine vitalisierende Wirkung auf uns, doch fühlt unsere Seele, wenn wir tiefer spüren, auch, dass hier etwas fehlt. Heute leben 75 Prozent der Menschen in Deutschland in Städten. Wer in Häusern aus Beton aufwächst und sich meist auf Asphalt bewegt, vergisst die existenzielle Dimension der Landschaft irgendwann. Wir können Städte nachhaltig und ökologisch planen. Doch die Lebendigkeit dieser Lebensräume braucht unsere lebendige Beziehung zum Raum als Ganzem.

Die Lebendigkeit unserer Lebensräume braucht unsere lebendige Beziehung zum Raum als Ganzem.

Echo werden

Der Weltacker der Zukunftsstiftung Landwirtschaft in Berlin ist einer von vielen Orten, die versuchen, diese Ganzheit wieder in die Erfahrbarkeit zu bringen. Hier werden Größenordnungen und Beziehungen wahrnehmbar. Seine 2.000 Quadratmeter entsprechen der Fläche, die – rein rechnerisch – jedem Menschen auf der Erde zur Verfügung steht: als Boden, auf dem das wächst, was uns ernährt; als Ort, an dem wir Obdach finden; als Ressource für all die Rohstoffe, die wir zum Leben brauchen. Auf der Fläche des Ackers könnte man 200 Autos parken oder 33 Wohnungen mit 60 Quadratmetern bauen. Ein typischer Supermarkt in der Stadt hat etwa diese Fläche. Hier spricht das Funktionale in unserer Beziehung zum Land. Was, glauben wir, ist wichtig? Wo setzen wir Prioritäten?

Und dann ist da noch diese Dimension des tieferen Spürens, des Wahrnehmens, des Sich-Einlassens. Wie wirkt das Grün auf uns, das die Erde uns gibt? Wie fühlt sich der Asphalt unter unseren Füßen an? Wo können wir durchatmen? Wo wird kreative Reibung möglich? Welche Umgebung gibt uns Energie, welche nimmt sie uns? Hier fragt die Lebendigkeit. Es sind bewusste Annäherungen wie diese, die uns die originäre Kraft des Landes unmittelbar erleben lassen und uns zeigen, was Räume ausmacht, wie sie auf uns wirken und wie wir ihnen wirklich begegnen können.

»Leben ist das, was sich selbst will, indem es anderes, was auch sich selbst will, zu berühren vermag«, sagt der Philosoph Andreas Weber. Und dabei ist »jedes des anderen Echo«. Natur und Kultur, Stadt und Land, wir und unsere Umgebung sind keine Gegensätze. Wie Yin und Yang können sich diese Gegenüber nahekommen in einem ewigen Tanz. Was könnte aus unseren Städten und unserem Land werden, wenn wir sie nicht mehr als voneinander und von uns selbst getrennte Räume ansehen? Wenn wir im Dazwischen wieder die eine, große Beziehung erleben, die Leben immer ist? Wenn wir Zugang zu dieser Lebendigkeit haben, zur Ganzheit, die alles umspannt, können wir wirkliche Lebensräume schaffen. Diese Ganzheit ist unser wirkliches Zuhause.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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