Eine Politik des Ortes
Durch Internet und Flugverkehr sind selbst entfernte Orte erreichbar für uns. Aber welche Rolle spielen die Orte, an denen wir leben, und unsere Verbundenheit mit ihnen in einer globalisierten Welt?
Heute sind wir global stärker als je zuvor miteinander verbunden. Aber können wir deshalb von einer »globalen Identität« sprechen? Unternehmen, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und sogar Schulen haben sich bemüht, nationale zu globalen Identitäten umzuformen. Und tatsächlich verbinden uns weltweit viele Gemeinsamkeiten: die globalen Medien, technologische Möglichkeiten und vor allem der Konsum von Luxusgütern und Dingen des alltäglichen Bedarfs. Aber lässt sich daraus eine »globale Identität« entwickeln, die ein bestimmtes Maß von Gemeinsamkeit erzeugt? Ich denke nicht. »Der Ort«, an dem wir leben, ist vielleicht wichtiger als je zuvor.
Die Teilhabe an globalen Formen von Konsum, die zu einer gewissen Homogenisierung oder Gleichheit führt, ist nur zum Teil ein Element von Identität und umfasst auch, dass es in unterschiedlichen Kontexten Abweichungen gibt. Gemeinsamkeiten sind durch unseren jeweiligen Standort beeinflusst. Außerdem gibt es bewussten Widerstand gegen die Kräfte der Homogenisierung, der sich im Neuerstarken des Traditionalismus zeigt. Wenn wir auf die 1980er und 1990er Jahre zurückschauen, bemerken wir, dass das, was wir Globalisierung nennen – hauptsächlich die von neuen Technologien unterstützte Weltwirtschaft – von Anfang an von erstarkendem kulturellem Nationalismus und einer Politik der Identität auf nationaler und internationaler Ebene begleitet wurde. Eine Identitäts-Politik könnte eine Antwort auf die leere, örtlich entfremdete Kultur des Kapitalismus sein, die versucht, den Horizont einer globalen Identität zu definieren.
Infolgedessen können wir zurzeit ein starkes Anwachsen der bewussten Bezugnahme auf Identitäten beobachten. Nationale, ethnische und besonders religiöse Identitäten bekommen die größte Aufmerksamkeit. Interessanterweise hat die zunehmende Durchlässigkeit nationaler Grenzen, die auf die Globalisierung der politischen Ökonomie zurückzuführen ist, auch zu einer lautstarken Forderung nach trans- und sub-nationalen Identitäten geführt, die wiederum neue Grenzbildungen verursachen. Nationen, ethnische Gruppen, Klassen, Geschlechter – sie alle sind im Strudel dieser neoliberalen Globalisierung gefangen, aber sie erfahren sie unterschiedlich, was auch zu einer Fragmentierung von Identitäten geführt hat.
Menschen sind in Bewegung. Aber unsere Herkunft hat in der Identitäts-Politik enorme Bedeutung gewonnen. Die Effekte der Globalisierung ermöglichen eine Identitäts-Politik, die das Erstarken von früher marginalisierten Gruppen ermöglicht. In den USA drückt sich das in »zusammengesetzten Identitäten« aus: Bezeichnungen wie afroamerikanisch und asiatisch-amerikanisch, die der Identifikation mit dem Herkunftsort dienten, wurden in den 1960er Jahren in der Auseinandersetzung mit der Dominanz der weißen Bevölkerung genutzt. In Europa könnte diese Dynamik mit dem Aufrechterhalten einer islamischen Identität bei Zuwanderern noch herausfordernder werden.
¬ »DER ORT«, AN DEM WIR LEBEN, IST HEUTE WICHTIGER ALS JE ZUVOR. ¬
Migrationsbewegungen schaffen soziale Spannungen innerhalb und zwischen Nationen. Diese drücken sich unter anderem in einem erstarkenden Rassismus aus. Auf der anderen Seite scheint es dank neuer Kommunikations- und Transporttechnologien für Migranten nicht länger notwendig zu sein, ihre Verbindungen zu ihren kulturellen Ursprüngen zu verlieren oder sich in die neue Gesellschaft, in die sie kommen, zu assimilieren. Im Extremfall entstehen neue kulturelle Diasporen, die in der neuen Lebensumgebung die kulturellen Formen und Praktiken der Herkunftsorte reproduzieren. Der Multikulturalismus ist die ideologische Anerkennung dieser neuen Wertschätzung von »Unterschieden«. Er stellt auch den Versuch dar, mit diesen Unterschieden umzugehen. Man kann überall Spannungen erkennen, die aufgrund von kultureller Reibung entstehen, besonders in den ökonomisch weit entwickelten Gesellschaften, die bevorzugte Migrationsziele sind.
Eines der Nebenprodukte der Globalisierung ist ein neues Augenmerk auf den »Ort«. Der Ort, an dem wir leben, war schon immer wichtig. Er ist der Platz des täglichen Lebens, den wir gestalten und von dem wir gestaltet werden. Seit den 1980er Jahren nehmen Orte eine herausragende Bedeutung ein, vielleicht weil ein aufkommendes ökologisches Bewusstsein unser Denken verändert hat – Orte wurden zunehmend nicht nur als Orte des täglichen Lebens wahrgenommen, sondern auch als Orte des Überlebens. Zunehmend sichtbare Kapitalbewegungen innerhalb nationaler Grenzen und über sie hinaus – als ein besonderes Kennzeichen der heutigen Globalisierung – zogen die Aufmerksamkeit zusätzlich auf die Bedeutung von Orten. Der Verfall von Industriestandorten in England in den 1980er Jahren könnte erklären, warum englische Wissenschaftler neue Theorien des »Ortes« formulierten. In den USA spielten kapitalreiche Unternehmen die Orte gegeneinander aus. Einige Orte, wie zum Beispiel Detroit, wurden zerstört und zurückgelassen; die Verheißung neuen Wohlstands (und neuer Arbeitsplätze) wurde an andere Orte getragen, die sich dem Diktat des Kapitals beugten.
Bei der »Politik der Orte«, die ich meine, handelt es sich nicht um die Beziehung professioneller Politiker zu ihren Wahlkreisen, sondern um Politik als eine Kunst der Gemeinschafts-Bildung für nachhaltige Gemeinden, in denen die ökologische und soziale Gesundheit und das Wohl der Gemeinschaft das allererste Ziel von Politik sind. Dies setzt eine geringer werdende Abhängigkeit vom Staat und von Unternehmen voraus. Das ist kein Ruf nach geschlossenen Gemeinschaften oder nach Orten, die voneinander und den größeren nationalen oder globalen Räumen getrennt sind. Orte existieren niemals isoliert. Die Beziehungen von Orten untereinander und zu den größeren Räumen, in denen sie sich befinden, sollten Teil der Kunst der Gemeinschafts-Bildung sein. Vielleicht ist die unmissverständlichste Formulierung die, dass Nationen so gut sind wie die Orte, aus denen sie bestehen. Das erfordert eine Politik von unten nach oben, um Nationalstaaten zu formen, die ihren Angehörigen über ihre verschiedenen Bezugsräume hinweg dienen. Es ruft aber auch nach einer viel größeren Aufmerksamkeit für Orte selbst. Genauso stellt es unser tägliches Leben in den Vordergrund, im Gegensatz zu einem abstrakten Entwicklungsdenken, das argumentiert, die ökonomische Globalisierung ermögliche es den Nationen und Menschen, sich zu »entwickeln«. Solch eine Sicht von »Entwicklung« ist ein globaler Wahn geworden, obwohl die augenscheinliche Evidenz sozialer und ökologischer Zerstörung eine andere Geschichte erzählt.
In diesem Kontext können indigene Bewegungen meiner Meinung nach als Inspiration dienen. Nicht als Modell, sondern als Inspiration für die neu zu definierende Beziehung zwischen der menschlichen Gesellschaft und ihrer natürlichen Umgebung. Man könnte es als ein Leben innerhalb unserer ökologischen Grenzen bezeichnen. In der Konsumgesellschaft wurde »indigene Spiritualität« sehr oft ausgebeutet. Trotzdem ist es meiner Meinung nach ein wesentlicher Beitrag indigener Spiritualität, dass sie in die materielle Existenz eingebettet ist: das Materielle und das Spirituelle sind Teile einer ganzheitlichen Existenz, die über eine Trennung beider Bereiche hinausgeht. Möglicherweise brauchen wir eine Art post-wissenschaftlichen Animismus, um die Entfremdung von der Natur zu überwinden und das, was Karl Marx als »Gattungswesen« bezeichnete, wieder zu stärken.