Würde ist heilig

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
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April 2016
Europa sucht seine Seele
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EIN GEMEINSAMER BODEN UNSERES MENSCHSEINS

In den momentanen Debatten zeigt sich immer wieder, wie schwierig es ist, die kulturellen Unterschiede in den Genderidentitäten in einer differenzierten Weise zur Sprache zu bringen. Wie können wir unsere eigenen Werte würdigen und gleichzeitig Verständnis für die Werte der anderen finden – und vielleicht auch mit den Problemen, die ihnen unsere Werte machen? Wo finden wir einen gemeinsamen Boden unseres Menschseins, der ein respektvolles Miteinander ermöglicht?

Die Hoffnung auf eine vereinte, pluralistische deutsche Kultur innerhalb einer größeren europäischen Einheit wird zu einem nicht unerheblichen Maße davon abhängen, wie wir uns als Frauen und Männer verstehen. Betrachten wir nur die verworrene Gender-Diskussion, die nach den Angriffen in der Silvesternacht in Köln entbrannt ist. Wie können wir gleichzeitig vermeiden, Frauen als zu »provokativ« zu beschuldigen, und Männer aus anderen Kulturen zu stigmatisieren? Kulturen, in denen es, wie ein muslimischer Asylsuchender aus Eritrea sagte, üblich ist, dass »ein Mann einfach eine Frau nimmt, wenn er sie will, und dafür nicht bestraft wird.« Wir leben Seite an Seite mit so vollkommen verschiedenen Glaubenssätzen über die richtigen Verhaltensweisen von Frauen und Männern. Diese Unterschiede sind nicht oberflächlich oder nur eine kleine Irritation. Sie reichen bis in die Tiefe unseres Wesens.

Minenfeld Gender

Gender ist heute ein Minenfeld. Der Fortschritt in Richtung Gleichheit der Geschlechter hat große Unsicherheit und Frustration unter Männern ausgelöst, deren Identität darauf gründet, dass sie ihre Frauen und Kinder schützen und für sie sorgen. In diese Situation kommen nun Migranten und Flüchtlinge, die unter Stress stehen und aus Kulturen kommen, in denen nur Prostituierte allein auf die Straße gehen, mit unbedeckten Armen und Beinen, Männer anlächeln und Augenkontakt herstellen. Das Schreckgespenst dunkelhäutiger Männer, die junge blauäugige Frauen vergewaltigen – worauf kürzlich auf einem Plakat der AfD angespielt wurde –, bringt sowohl Traditionalisten als auch Rechtsradikale dazu, ihre Männlichkeit beweisen zu wollen und ihre Frauen zu beschützen. Die Fortschritte, die Frauen in den letzten 50 Jahren in Bezug auf Autonomie und Unabhängigkeit erreicht haben, werden in einem Klima, in dem es sich immer unsicherer anfühlt, allein auf die Straße zu gehen, einem schweren Test unterzogen. All das geschieht vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, die den ganzen Kontinent erfasst hat, und der fortgesetzten Zerstörung des Nahen Ostens, die junge Muslime, insbesondere Männer, erniedrigt und isoliert. Selbst die Muslime, die in Europa geboren wurden, finden immer schwerer ihren Platz im Sinne einer Arbeit oder ihrer Integration in die Gesellschaft. Eine sehr kleine aber entscheidende Prozentzahl dieser jungen Männer reagiert mit dem radikalsten Opfer: als Selbstmordattentäter mit extra vielen Jungfrauen als Belohnung.

Auf allen Seiten gibt es das Gefühl, nicht respektiert zu werden – eine Nichtachtung, die bis zum Kern dessen dringt, was es heißt, wirklich eine Frau oder wirklich ein Mann zu sein. Haben wir in unserer säkularen Kultur die Fähigkeit, Menschen mit solch einer Breite von kulturellen Erwartungen Respekt zuzugestehen? Sprechen die Werte, die wir als die Basis der westlichen Kultur vertreten, unser innewohnendes menschliches Bedürfnis nach Respekt an? Wenn wir eine Kultur schaffen, in der wir einander bedingungslos respektieren, einfach aus dem Wert des gegenseitigen Respekts heraus, geben wir der Seele Europas eine Grundlage. Können wir solch einen Kontext entwickeln und aufrechterhalten, damit eine tiefere menschliche Verbindung zwischen uns Wurzeln schlagen kann?

¬ ZUNEHMEND WERDEN MENSCHLICHE BEZIEHUNGEN ZU EINER WARE. ¬

Blick aus der Burka

Kann das Tragen einer Burka Selbstrespekt vermitteln? Schon lange Zeit bin ich sehr neugierig, einmal eine Burka zu tragen. Nicht nur ein Hijab, wie das Kopftuch mit wunderschönen Rosenmustern, das die junge Praktikantin in der Praxis meiner Hausärztin manchmal trägt. Mich interessiert die volle Bedeckung, mit dem kleinen Sehschlitz zum Hinausschauen. Für gläubige Muslime mag meine Neugier missachtend erscheinen, für sie ist die Burka ein wichtiger Aspekt und Ausdruck ihres Glaubens. Aber ich meine es nicht oberflächlich oder herablassend. Ich frage mich tatsächlich, ob diese verschleierten Frauen vielleicht leichter Zugang zu innerem Frieden und Selbstsicherheit haben, die wir postmoderne Fashionistas fast verloren haben. Für uns Westlerinnen, für die »alles erlaubt ist«, erscheint diese Bedeckung von Kopf bis Fuß als eine Unterdrückung und eine Begrenzung unserer Entscheidungsfreiheit. Wir reagieren auch auf die ganz realen Grenzen, die patriachale Islamisten den Frauen aufdrücken, was nicht nur die Burka umfasst, sondern auch die Schrecken der Zwangsehe und Ehrenmorde. Gleichzeitig entscheiden sich viele intelligente muslimische Frauen im Westen dafür, sich zu verschleiern – aus eigener Entscheidung. Vielleicht sind unsere Ideen von Freiheit und Unterdrückung in einer vielfältigen kulturellen Landschaft zu vereinfacht.

Eine gute Freundin berichtete mir von einem Gespräch mit einer jungen muslimischen Londonerin in voller Burka. Meine furchtlose Freundin hatte den Mut, die Frage der Freiheit mit ihr zur Sprache zu bringen: Führte die Verschleierung aus religiösen Gründen dazu, ihr Gefühl persönlicher Freiheit zu begrenzen? Die junge Frau antwortete nachdrücklich: Nein. Stattdessen war sie davon überzeugt, dass junge westliche Frauen viel abhängiger sind, weil sie durch ihr »Sexysein« ständig nach der Anerkennung und Bestätigung durch Männer suchen. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Bringen heranwachsende Mädchen und junge Frauen im Westen mit ihrem Aussehen wirklich Freiheit zum Ausdruck? Andererseits kann bei jungen Frauen eine Scham für ihren sich entwickelten Körper erwachsen, wenn sie ab der Pubertät eine vollständige Bedeckung wie eine Burka, einen Nikab oder gar den Tschador tragen müssen. Wenn eine Frau ihren Körper vor den Augen anderer verstecken muss, dann muss wohl etwas Schlechtes oder Gefährliches daran sein. (Gefährlich für wen?) Von außen erscheinen Frauen in Burkas anonym, ohne Persönlichkeit, ein leerer Raum im Meer sozialer Interaktion. Junge Frauen in Europa scheinen im Gegensatz dazu frei zu sein, ihre Kleidung als eine Form des Selbstausdrucks zu nutzen. Aber welche innere Erfahrung haben sie dabei? Ich könnte mir vorstellen, dass die Erfahrung des Schutzes vor neugierigen Blicken, die Frauen nach dem Aussehen beurteilen, eine tiefe Erleichterung sein könnte, eine Quelle von Selbstrespekt – und sogar ein bestärkender Akt des Widerstands gegen das, was oft als soziale »Fleischbeschau« bezeichnet wird. Die junge Frau in der Burka hat wenig Respekt für die Freiheit, sich zu kleiden, wie man will, auf die wir bestehen. Für sie erscheint es eher wie eine verblendete Form von Versklavung.

-KANN DAS TRAGEN EINER BURKA SELBSTRESPEKT VERMITTELN?-

Freiheit wofür?

Der Wert der Freiheit – der Entscheidungsfreiheit – hat im säkularen Westen eine hypnotische Macht. Die feministische Bewegung im späten 20. Jahrhundert machte Entscheidungsfreiheit zur Parole der Frauenemanzipation. Aber wofür entscheiden wir uns? Die meisten Entscheidungen werden innerhalb des Status quo getroffen – seit wir, die wir heute über 50 sind, gegen unsere Eltern und ihren verstaubten Traditionalismus rebellierten. Der heutige Status quo wurzelt in einem materialistischen Kapitalismus, der unsere Bedürfnisse kultiviert, indem er eine Beziehung auf angenehme Empfindungen – Essen, Unterhaltung, Sex – reduziert und unsere Fähigkeit für sinnvolle Entscheidungen betäubt, weil wir mit unwichtigen Optionen beschäftigt sind – Shampoo, Käse oder Mobiltelefonverträge. Zunehmend werden auch menschliche Beziehungen zu einer Ware, eine weitere von vielen Möglichkeiten für eine Stunde oder einen Abend. Sind diese Entscheidungen ein Zeichen von Freiheit? Vielleicht. Wir sind frei, das zu tun, was uns reizt, nicht wahr? Ich nehme an, das hängt davon ab, woher der Reiz kommt. Den unbewussten Bedürfnissen zu folgen, die mit unseren grundlegenden Säugetierinstinkten verbunden sind, ist nicht das, wofür unsere Entscheidungsfreiheit gedacht war.

Das ist auch keine Freiheit. Progressive Medien betonen oft, dass es in den Staaten mit dem stärksten religiösen Fundamentalismus den höchsten Pornokonsum gibt – insbesondere brutale und bizarre Pornos. Wahrscheinlich sollen wir angesichts dieser Heuchelei mit Kopfschütteln und einem überlegenen Lächeln reagieren. Nach den Anschlägen vom 11. September gab es einen Fernsehbericht, der mir in Erinnerung geblieben ist. Darin ging es um einen Reporter, der mit einem der Nachbarn der Todespiloten gesprochen hat. Der Nachbar sagte dem Reporter, dass er sich sehr lebhaft an ein Gespräch erinnern kann, das er mit dem Dschihadisten geführt hat. In typisch amerikanischer Art hatte der Nachbar den offensichtlich aus dem Nahen Osten stammenden und wahrscheinlich muslimischen Mann gefragt, wie ihm die Freiheit in den USA gefalle. Zum Schock des Nachbars antwortete der Mann mit einem verächtlichen, finsteren Gesichtsausdruck: »Ich hasse eure Freiheit!« In der Wohnung des Dschihadisten fand die Polizei viele Stapel mit Porno-DVDs – Pornos, die im Islam vollkommen verboten sind. Warum hasste dieser Mann die USA, wenn er dort doch tun konnte, was er wollte? Porno-»Sucht« scheint unter militanten islamistischen Männern fast eine Epidemie zu sein. Pornos zu verschlingen, sich verzweifelt und beschmutzt zu fühlen, weil man als muslimischer Mann versagt hat, und dann eine gerechtfertigte Wut gegenüber der »Quelle« dieser Beschmutzung – dem Westen – zu empfinden, ist ein weitverbreitetes Muster. Selbst wenn der Hass dieses Dschihadisten auf unsere Freiheit eine Übertragung der Verantwortung für seine Selbst-­Beschmutzung auf die westliche Kultur ist, erkennt er, vielleicht besser als wir, dass in diesem zwanghaften Pornokonsum weder Freiheit noch Selbstrespekt liegen.

¬ AUF SOZIALER UND GEOPOLITISCHER EBENE SCHAFFEN WIR EINE SITUATION CHRONISCHER NICHTACHTUNG. ¬

Die Entscheidungsfreiheit, die wir im Westen haben, gibt es so nirgends auf der Welt. Sie wurde in der Entwicklung der Menschheit schwer erkämpft. Unsere Fähigkeit für rationale Entscheidung wurde durch das Ringen und die Anstrengung entwickelt, Entscheidungen zu treffen, die frei sind von den Impulsen, Emotionen und Zwängen, in denen unser Menschsein eingebettet ist. Die Entscheidungsfähigkeit wird entwürdigt und verliert ihre Stärke und Kraft, wenn sie nur auf einem Marktplatz verwendet wird, der die Aspekte in uns anspricht, die besonders unbewusst, zwanghaft und konditioniert sind. Unsere Entscheidungsfreiheit weiter zu entwickeln, damit wir Herz und Intelligenz, statt Angst und unbewusste Reaktivität in unsere Begegnung mit der Welt bringen, ist sowohl die Praxis der spirituellen Freiheit als auch der Weg zu Selbstrespekt.

Essenz unseres Menschseins

In einem sozialen Kontext, in dem man das Gefühl hat, dass die eigene Identität als Mann oder Frau nicht respektiert wird, ist die Freiheit, der zu sein, der man sein will, kein ausreichend starker Wert, um uns über Unterschiede hinweg zu verbinden. Zudem haben wir trotz der postmodernen Laissez-faire-Haltung des »Mach, was du willst« Schwierigkeiten, die Menschlichkeit derjenigen zu respektieren, die ganz anders sind als wir – wie verschleierte Frauen oder nationalistische Hooligans, die ihre »Überlegenheit« als Männer durch Gewaltandrohung behaupten wollen. Auf sozialer und geopolitischer Ebene schaffen wir eine Situation chronischer Nichtachtung. Und wie James Gilligan, der Autor von »Violence: Reflections on a national Epidemic«, erklärt: »Der Sinn der Gewalt besteht darin, von anderen Respekt zu erzwingen.« Er erklärt, dass Gewalt Angst schafft, »ein Ersatz dafür, bewundert zu werden«.

Obwohl die Genderidentität so ein tiefer Teil unseres Wesens ist, müssen wir noch tiefer schauen, um etwas zu finden, das uns in einer gemeinsamen europäischen Seele verbindet. Dieses »Etwas« ist meiner Ansicht nach die Würde. Würde ist die Essenz unseres Menschseins, die uns dazu auffordert, einander zu respektieren. Wir sehen sie in der würdevollen Haltung einer Frau, die ihr einziges Kind verloren hat und zur Quelle der Kraft für andere wird. Oder wir erkennen sie in den Augen eines David Steindl-Rast, der die menschliche Zerbrechlichkeit so gut kennt und trotzdem tiefe Dankbarkeit für das Leben zum Ausdruck bringt. Würde ist ein Geschenk, das wir anderen geben, die Frucht ernsthafter spiritueller Praxis, die an der Schnittstelle des Menschlichen und des Geheimnisvollen reift. Würde erwächst aus dem bewussten Wissen, dass wir im Leben Kräften ausgesetzt sind, die wir nicht kontrollieren können, und dass gleichzeitig das Leben unglaublich kostbar ist. »Man muss sich keiner bestimmten Form von religiösem Glauben verpflichtet fühlen, um zu glauben, dass einige Dinge heilig sind«, sagt Gilligan. Es gibt »etwas in der menschlichen Persönlichkeit oder der menschlichen Seele oder Psyche, das heilig ist, wie immer wir es auch nennen«. Dieses Heilige bezieht sich nicht auf eine bestimmte Religion. Es ist unser Geburtsrecht als Menschen, egal wer wir sind.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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