Zukunft aus einer anderen Perspektive

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Interview
Publiziert am:

February 2, 2024

Mit:
Rūta Žemčugovaitė
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AUSGABE:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Erfahrungsräume für den regenerativen Wandel

Rūta Žemčugovaitė arbeitet als Transformationsgestalterin und Künstlerin mit Prozessen, in denen Menschen die Sicht eines anderen Wesens einnehmen, um Ahnungen einer regenerativen Zukunft zu finden und daraus ihr Handeln zu verändern. Wir sprachen mit ihr über diese Prozesse und ihre Wirkung.

e: Wie würdest du deine Arbeit beschreiben?

Rūta Žemčugovaitė: Eine gute Frage … ich bin noch dabei, das herauszufinden. Vor allem gestalte und begleite ich transformative Erfahrungen, die es Menschen ermöglichen, zu einer regenerativen Welt beizutragen. In solchen Erfahrungsräumen können sie verstehen, was es bedeutet, in einer regenerativen Zukunft zu leben, nicht nur aus menschlicher, sondern auch aus mehr-als-menschlicher Perspektive.

e: Wie gestaltest du diese Erfahrungen?

RZ: Mein Partner und ich haben das Sympoiesis Experience and Design Lab gegründet. Wir führen Workshops für Organisationen und Einzelpersonen durch, bei denen wir die Menschen auf eine Reise mitnehmen, auf der sie ihre menschliche Perspektive verlassen und mittels Visualisierung und Meditation die Perspektive eines anderen Wesens einnehmen, sei es ein Tier, ein Pilz, eine Pflanze oder was auch immer. Wir laden sie dazu ein, eine imaginäre Zukunft aus der Perspektive dieses anderen Wesens zu sehen. Danach wird in Gruppen darüber gesprochen, was es bedeuten würde, in der Zukunft eine andere Art von Wesen zu sein. Dann blicken wir von der Zukunft aus zurück auf das, was jetzt passieren muss, wie sich z. B. die Designpraktiken einer Organisation ändern müssen. Wir eröffnen also verschiedene Ebenen der Wahrnehmung und Komplexität, um so die Welt aus einer mehr-als-menschlichen Sichtweise wahrzunehmen.

e: Wie begleitet ihr diesen Prozess?

RZ: Zunächst bitten wir die Teilnehmenden, ihre persönliche Geschichte in wenigen Worten aufzuschreiben und darin ihre menschliche Identität zu beschreiben. Dann legen sie diese Beschreibung in eine schwarze Box und wir sagen ihnen: »Du lässt jetzt deine menschliche Identität symbolisch hier zurück und kannst sie nach dem Workshop wieder annehmen.« Dann führen wir die Teilnehmenden durch eine Meditation, erlauben ihrem Geist, sich zu entspannen und sich dieser tieferen Erfahrung hinzugeben. Jede Meditation wird individuell für den jeweiligen Workshop und für das jeweilige Team oder die Gemeinschaft gestaltet, denn wir wollen die Teilnehmenden dort abholen, wo sie gerade sind. Wir führen sie durch eine Visualisierung, wobei sie imaginativ in den Körper eines anderen Wesens eintreten, das ihnen in der Meditation erschienen ist.

e: Wie kommt der Aspekt der Zukunft mit ins Spiel?

RZ: Es ist nicht einfach, dich selbst in der Zukunft und aus der Perspektive eines anderen Wesens vorzustellen. Oft sagen wir: »Welche Zukunft sich auch immer dir zeigen mag, nimm sie an.« Es kann eine dystopische oder utopische, eine realistische oder regenerative Zukunft sein. Es könnte zum Beispiel eine Eiche in Brandenburg sein, die zurückblickt auf das, was die Menschen vor 100 Jahren getan haben: Vielleicht hat mir das damals das Leben gerettet. Vielleicht wurden Bäume zum Thema in der Politik, oder der Zustand der Wälder wurde besser überwacht, oder man kümmerte sich um die Erhöhung der Artenvielfalt. Wenn wir uns in die Zukunft versetzen und von dort zurückschauen, kommen wir auf interessante Ideen, die wir nicht hätten, wenn wir nur in die Zukunft schauten.

e: Wie wirkt sich diese Art von Perspektivwechsel auf die Menschen aus?

RZ: Das ist sehr kraftvoll. Die Teilnehmenden haben normalerweise noch nie die Erfahrung gemacht, sich selbst bewusst als ein anderes Wesen zu sehen. Wir haben in den Teams erlebt, dass Menschen weinen, weil sich in ihrem Herzen oder in ihrem Geist etwas geöffnet hat, das ihre Perspektive völlig veränderte. Einige sagten, dass sie dieses Wesen und seine Weisheit in ihre Arbeit und ihr Leben mitnehmen. Auch die Fähigkeit, sich nicht nur in Menschen, sondern auch in andere Wesen einzufühlen, wird verstärkt. Wenn wir unseren Geist erweitern und die mehr-als-menschliche Welt in unsere Designentscheidungen mit einbeziehen, entstehen ganz andere Perspektiven.

e: Wie zeigt sich diese andere Art von Entscheidung bei der Gestaltung eines Projekts?

RZ: Wenn jemand z. B. einen Multi-Stakeholder-Prozess entwickelt, um Entscheidungen über die Gesundheit des Bodens und der Landwirte zu treffen, kann ein solcher Workshop die Menschen dazu inspirieren, den Boden als Lebewesen, als Stakeholder zu sehen und in den Planungsprozess miteinzubeziehen. Dann werden nicht nur die Interessen der Menschen berücksichtigt, sondern auch die des Ökosystems, für das und mit dem wir gestalten.

e: Ihr bietet auch »Regenerative Communications« an. Was ist darunter zu verstehen?

RZ: Bei der regenerativen Kommunikation geht es darum, die Marketing- und Design-Strategien zu verändern, denen es nur um die Aufmerksamkeit und die Daten der Menschen geht. Regenerative Kommunikation behandelt die menschliche Aufmerksamkeit mit Ehrfurcht und Respekt. Mit Texten, Bildern, Video und Audio wollen wir die Geschichten nicht nur von Menschen, sondern auch von nicht-menschlichen Wesen hervorheben. Statt Gefühle von Knappheit, Angst, Gier oder Wut zu erzeugen, wollen wir die Menschen stärken, damit sie sich inspiriert und lebendig fühlen. Wir wollen keine Informationen weitergeben, die sie entwürdigen, sondern Informationen, die für sie wertvoll und lebensdienlich sind.

Zurzeit entwerfen wir zum Beispiel das Branding für ein Designstudio für Agroforstwirtschaft und Waldbeobachtung. Wir fragen: Wie muss ein Logo aussehen, das den Ort und den Sinn eines Unternehmens widerspiegelt? Wie lässt sich das in einem Logo zusammenfassen?

e: Du bist auch als Künstlerin tätig. Worum geht es bei deiner künstlerischen Arbeit?

RZ: Ich arbeite mit Pilzen, mit einem Prozess, der Mikrofabrikation genannt wird. Das bedeutet, dass ich aus einem Mycel, einem Pilzgeflecht eine Skulptur schaffe. Sie wird die Größe eines Menschen haben. Zurzeit arbeite ich mit Prototypen und baue die Skulptur modular auf. Bei der Arbeit mit Pilzen muss man viel ausprobieren, und oft läuft es nicht wie geplant. Das ist aber auch das Interessante dabei, denn Pilze sind lebendige Wesen und besitzen eine eigene Handlungskraft. Wenn man mit einer anderen Spezies zusammenarbeitet, muss man sich auf diese Verwandlungen und Unvorhersehbarkeiten einlassen.

Manche Menschen sehen in Pilzen das neue Allheilmittel für grünes Wachstum. Pilze sollen Plastik, Fleisch oder Leder ersetzen können. Mein Projekt mit dem Titel »Refusal to Heal« (Weigerung zu heilen) stellt die Frage, warum und wie wir Pilze industriell nutzen. Können wir Pilze als ein lebendes, empfindungsfähiges Wesen und nicht als bloßes Biomaterial wahrnehmen? Wie können wir diese ausbeuterische Beziehung in eine Beziehung des Respekts, der Ehrfurcht, der Verwandtschaft und des tieferen Verständnisses verwandeln?

Außerdem befasst sich das Projekt mit der Frage, was körperliche, emotionale, geistige und spirituelle Heilung in einer Gesellschaft bedeuten, die für die menschliche Gesundheit schädlich ist. Was bedeutet es, wenn unser Körper nicht so heilt, wie wir es uns wünschen, wenn er sich weigert, sich zu heilen, oder wenn unsere geistige Gesundheit sich nicht verbessert? Die Pilzskulptur wird zum Vermittler zwischen uns und dem Teil von uns, der sich weigert zu heilen, indem sie die Parallelen aufzeigt zwischen den unterirdisch lebenden Pilzen und den Teilen von uns, die unterhalb unserer bewussten Wahrnehmung leben.

e: Was meinst du mit der Weigerung zu heilen?

RZ: Manchmal weigert sich ein Teil von uns zu heilen, weil er nicht wieder in dieselbe Situation wie vor der Krankheit gebracht werden will: in einen Job, der mir meine Kreativität, meine Zeit und mein Talent raubt, oder in eine Beziehung, in der ich nicht respektiert werde, die mir keine Lebendigkeit, Freude oder Liebe bringt. Nach dem Verständnis der Gesellschaft würde Heilung hier nur bedeuten, dass man zum Mechanismus der Ausbeutung zurückkehrt. So gesehen ist die Weigerung zu heilen eine gute Sache, denn sie macht deutlich, was sich auf einer tieferen Ebene ändern muss.

Author:
Mike Kauschke
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