Aktivismus für die schönere Welt, die unser Herz kennt
Charles Eisenstein gilt als einer der Vordenker der Occupy-Bewegung. In seinen Büchern und Vorträgen lädt er die Menschen ein in eine neue Sicht der Welt und des Aktivismus. Seiner Ansicht nach sind wir auf dem Weg von einer Kultur der Trennung zu einer Kultur der Verbundenheit.
evolve: Wir leben inmitten zusammenhängender Krisen — Klimawandel, Oligarchien, geschwächte Nationalstaaten, zahlreiche Kriege und Gewaltherde. Wie können wir etwas dafür tun, dass sich unsere Welt zum Positiven verändert?
Charles Eisenstein: Ich habe viel über den Klimawandel nachgedacht. Wenn wir versuchen, den Klimawandel von global messbaren Variablen wie Kohlendioxid oder Treibhausgasen abhängig zu machen, werden wir die ökologische Krise noch verschlimmern, selbst wenn es gelingt, diese Variablen zu reduzieren. Wir kennen die Geschichte: Gesetze werden mit Geld und politischer Macht durchgesetzt. Es gibt immer einen Weg, sie zu umgehen. Heute gewinnt man in Europa, besonders in Deutschland, einen hohen Prozentsatz der Energie aus erneuerbaren Ressourcen, also aus Windenergie, Solarenergie und Biomasse. Die Zahlen machen also einen guten Eindruck, aber dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass Wälder zerstört werden, um Holzspäne für Kraftwerke zu gewinnen. Das gilt als CO2-neutral, weil die Bäume wieder nachwachsen werden. Die Entwaldung hat sich an einigen Orten aufgrund dieser Form von »Nachhaltigkeit« vervierfacht. Es ist vollkommen verständlich, dass so etwas passiert, weil wir unsere Weltsicht nicht verändern. Aber das erfordert einen Wandel unseres Bewusstseins. Ein Bewusstseinswandel transformiert unsere Wahrnehmung und unsere Geschichten. Ich persönlich denke, dass es tiefere Ursachen für den Klimawandel gibt, Treibhausgase sind nur ein Grund dafür. Aber unser Verständnis der Natur ist einfach zu rudimentär.
Wenn wir in der Lage wären, die Natur als ein intelligentes, eigenständiges und heiliges Wesen zu erkennen, würden Gesetze eine Form der Erinnerung oder rituelle Übereinkünfte sein, die mit unserer Weltsicht übereinstimmen. Wenn wir unsere Weltsicht nicht verändern, dann wird uns kein Gesetz helfen, weil es immer umgangen werden kann. Aber wenn wir den Ökozid stoppen wollen – und mit Ökozid meine ich die schwere Schädigung und Zerstörung von Ökosystemen, egal wie klein sie sind –, ist das viel bedrohlicher für den normalen Gang der Dinge, unseren Status quo. Jedes wirtschaftliche Projekt hat auch eine Wirkung auf ein Ökosystem. Wir müssen also die Regeln für unseren Umgang mit den »Ressourcen« unseres Planeten vollkommen umschreiben. Sogar die Bezeichnung »natürliche Ressourcen« ist Teil des Problems, weil wir damit sagen: »Der Planet ist für uns da, die Natur ist für uns da.« Auch der Begriff »Umwelt« ist problematisch, weil er suggeriert, dass wir davon getrennt sind.
e: Wie verändern sich durch solch einen Wandel der Weltsicht unsere Ideen von Aktivismus?
CE: Wenn wir akzeptieren, dass die Maschinerien, die unsere Welt zerstören, auf unserer Wahrnehmung, unserem Bewusstsein, unserem Selbstbezug und den Geschichten oder Narrativen, in denen wir leben, beruhen, dann ist alles, was diese Geschichten hinterfragt oder uns in eine neue Geschichte einlädt, tatsächlich ein politischer Akt. Normalerweise stellen wir uns einen Aktivisten als einen politisch aktiven Menschen vor, was gewöhnlich bedeutet, dass er versucht, irgendetwas aufzuhalten. Wenn wir ansehen, was in der Welt geschieht, scheint es beispielsweise klar zu sein, dass wir irgendetwas Schreckliches beenden müssen. Für einige dieser Vollblut-Aktivisten ist man ein wenig verdächtig, wenn man nicht versucht, etwas aufzuhalten. Wenn du aber als Freiwilliger in einem Obdachlosenasyl einer alten Frau stundenlang die Hand hältst, die damit seit zwanzig Jahren zum ersten Mal eine liebevolle Geste erfährt und im nächsten Jahr an Krebs stirbt – ist das ein politischer Akt? Ich denke, ja. Ich denke, wir sollten diese Form von Aktivismus wertschätzen, nicht als Ersatz für einen »echten« Aktivismus, sondern als etwas ebenso Wichtiges. Denn das ist in Wirklichkeit eine Praxis für wirklich wirksamen Aktivismus auf der politischen Ebene, weil solch ein effektiver Aktivismus aus der Liebe kommt, nicht aus dem Versuch, den Feind gewaltsam zu überwinden. Wenn wir glauben, die Feinde mit Gewalt besiegen zu müssen, verlieren wir. Sie haben mehr Gewalt. Sie haben den militärisch-industriellen Komplex, den Überwachungsstaat, die Medien und die Finanzindustrie auf ihrer Seite. Wenn sie sich nur aufgrund von Gewalt ändern, ist es hoffnungslos. Diese Vorstellung kommt aus einer Wunde voller Schmerz und Trauer, sie kommt aus dem Schmerz von Betrug, zerstörter Hoffnung, Entsetzen und Enttäuschung über die menschliche Natur. Ist es wahr, dass wir nur mit Gewalt siegen können? Ist das die Wahrheit, oder ist das die Projektion unserer unverarbeiteten Trauer? Eine weitere Grundlage für wirksamen Aktivismus wäre also Trauerarbeit. Wenn Menschen Trauer tief erfahren und von einer Gemeinschaft gehalten werden, gehen sie viel freudiger, positiver, optimistischer und effektiver daraus hervor.
»Alles, was uns in eine neue Geschichte einlädt, ist ein politischer Akt.«
e: Oft sind wir weit entfernt von Freude oder Positivität, weil wir nicht an die Möglichkeit des Wandels glauben. Zynismus scheint der Handlanger des alten Systems zu sein, der es stabilisiert.
CE: Die Herzensregung oder das Wissen, dass es eine andere Möglichkeit gibt, legt nahe, dass es einen Weg gibt, um dorthin zu gelangen. Aber wir können keine Kette von Ursache und Wirkung entwerfen, die uns dahin bringt. Wenn wir es versuchen, wird der Zyniker kommen und sagen, dass das nicht funktionieren wird: »Die Polizei wird euch ins Gefängnis stecken, der Finanzminister wird niemals zustimmen, das wird niemals funktionieren … .« Auf jeder Ebene gibt es gute Gründe, warum es nicht funktionieren wird. Der Zyniker versucht es nicht einmal. Aber der Unschuldige sagt: »Ich werde es trotzdem versuchen.« Und dennoch fühlt es sich nicht an wie eine reine Fantasie oder wie ein zweckloses Martyrium. Es fühlt sich nicht an wie: »Ich geh da bloß raus, um verhaftet und ins Gefängnis gesteckt zu werden, und es wird nicht funktionieren, aber ich tue es trotzdem, weil wir es versuchen müssen.« Sondern es gibt darin auch diese Freude, Kreativität und Kühnheit. Der naive Mensch versucht das, von dem der »praktische« Mensch sagt, dass es nicht möglich ist – und manchmal hat der Naive Erfolg.
e: Der Geist oder das Gefühl, aus dem das Handeln kommt, ist auch das Ziel. Es richtet sich nicht gegen etwas, es stärkt einen tieferen Teil in uns, der auch ein tieferer Aspekt des Lebens ist. Wenn wir von diesem Platz aus handeln, bringen wir den Wandel in die Welt, den wir eigentlich bewirken wollen.
CE: Ja, unser Handeln schafft sozusagen ein Feld, das aus unserer Absicht entspringt, sogar wenn diese spezielle Aktion nicht erfolgreich ist. Ich kenne einen Umweltaktivisten aus Kalifornien, der jahrelang versuchte, einen Fluss davor zu bewahren, eingedämmt zu werden. Einige Jahrzehnte lang versuchten er und seine Kerngruppe alles Mögliche: legale Anfechtungen, direkte Aktionen, Proteste, Petitionen, Lobbyarbeit. Und sie verloren. Es war der traurigste Tag seines Lebens. Man dämmte den Fluss ein, und das schöne Ökosystem wurde überflutet. Die Niederlage war so schmerzlich, dass er und die anderen Aktivisten es nicht ertragen konnten, sich wieder zu treffen. Aber das war der letzte Damm, der in Nordamerika gebaut wurde. Es war, als ob ihre Kampagne wie ein Gebet war, und Gott nach jedem Rückschlag fragte: »Meint ihr das ernst? Wollt ihr wirklich, dass das aufhört?«
»Verzweiflung ist wichtig, weil sie direkt vor der Hingabe kommt und wir für etwas Größeres offen werden.«
Unser konventionelles Verständnis von Kausalität ist Teil der gleichen Mythologie, die die Wurzel unseres Systems ist. Es ist im Wesentlichen eine auf Macht basierende Kausalität. Wirkliche Kausalität ist viel, viel umfassender und weitaus subtiler. Wir haben keine Ahnung von den Zusammenhängen, die die Phänomene in unserer Welt verbinden; wir haben nicht die geringste Ahnung. In dem Film »Aluna« verbringen die Kogi-Schamanen in Kolumbien Stunden damit, Blasen in einem See zu beobachten, und das Aussehen dieser Blasen sagt ihnen etwas über die Verhältnisse in der ganzen Region. Für sie gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Blasen und den bedrohten Mangroven-Sümpfen 800 Kilometer entfernt. Das ist ihre Weltsicht. Zum Teil erhalten wir die vorherrschende Weltsicht dadurch aufrecht, dass wir solche Vorstellungen als Aberglauben oder als magisch-religiöses Denken abwerten. Wir wenden auf diese Menschen einen ontologischen Imperialismus an, der ein perfektes Spiegelbild unseres ökonomischen Imperialismus ist. Der ökonomische Imperialismus sagt: »Unsere Lebensweise ist besser als eure, und Entwicklung heißt, dass ihr unsere Lebensweise annehmt.« Der ontologische Imperialismus sagt: »Euer Bild der Wirklichkeit, eure Erkenntnisformen, euer Glaube sind rückständig.« Sollten wir diese Hybris nicht langsam loslassen? Wessen Gesellschaft ist nachhaltiger? Wessen Gesellschaft ist schöner? Vor 50 Jahren waren wir davon überzeugt, dass wir die vollkommene Welt schaffen werden. Aber diese Überzeugung wurde durch die ökologische Krise und die vielen anderen Krisen zerschlagen. Wir können nicht mehr sagen: »Wir wissen, dass unsere Lebensweise, unser Wissen, unser Dasein überlegen sind, weil wir so eine wunderbare Zivilisation geschaffen haben! Seht nur, wie gut sie funktioniert!« Das können wir nicht mehr sagen.
e: Was gibt Ihnen heute Hoffnung und Inspiration?
CE: Das geschieht jedes Mal, wenn die gewöhnliche Reaktion wie Rache, Hass und Strafe durch eine Antwort von menschlicher Liebe ersetzt wird. Vor vier oder fünf Jahren kam ein Bewaffneter in eine Schule der Amischen und tötete einige Schulkinder. Als die Medien die Eltern fragten, was sie dem Mörder wünschten, sagten sie, dass sie ihm vergeben, weil schon genug Gewalt geschehen sei. So etwas macht Hoffnung.
»Effektiver Aktivismus kommt aus der Liebe.«
Was mir heute wirklich Hoffnung macht, geschieht meist unter der Oberfläche. Mein Optimismus kommt aus dem Verstehen, dass große Veränderungen im Leben durch einen Prozess von Krisen, Zusammenbrüchen, Unsicherheit und schließlich der Entstehung oder Emergenz von etwas Neuem geschehen. Deshalb kann ich die Unausweichlichkeit und den Schrecken von Krisen ertragen, ohne zu verzweifeln, denn so geschieht Veränderung. Das heißt nicht, dass man selbstgefällig zusehen sollte, was passiert. Diese Dynamik funktioniert so, dass die Krise in uns den Aktivismus und die Fähigkeiten wach ruft, die gebraucht werden, um sie zu transformieren. Wir befinden uns im Grunde in einem Geburtsprozess, und wir sind die Babys. Die Mutter macht 99 Prozent der Arbeit, aber die Babys müssen 1 Prozent beitragen. Es ist viel leichter, ein lebendes Baby zu gebären als ein totes, weil die lebendigen Antworten des Babys bei der Geburt gebraucht werden. Wenn wir kein tot geborenes Baby sein wollen, sondern ein lebendes, wenn wir in die schönere Welt hineingeboren werden wollen, die unser Herz kennt, dann sind unsere lebendigen Antworten sehr wichtig. Dazu gehören auch alle Aktionen, die wir im Angesicht von Kriegen und Falschheit unternehmen. Dazu gehört sogar unsere Verzweiflung. Verzweiflung ist wichtig, weil sie direkt vor der Hingabe kommt, wobei wir das scheinbar Gewusste loslassen und für etwas Anderes und Größeres offen werden.
e: Dieser Moment der Hingabe ruft Antworten, Wissen, Informationen, Lösungen, Kreativität ins Leben, die wir bisher noch nicht hatten. In unserem bisherigen Verständnis existierten sie noch nicht. Wir öffnen uns für etwas vollkommen Unbekanntes, und dieses Unbekannte führt uns zum nächsten Schritt, den wir bisher nicht sehen konnten?
CE: Genau. Das ist Aktivismus, durch den wir die Welt entdecken, von der unsere Herzen wissen, dass sie möglich ist
Das Gespräch führte Elizabeth Debold für die Ausgabe 7/2015 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org