Über soziale Transformation in Kolumbien
Raul Aramayo Salinas berät Mitarbeiter der kolumbianischen Regierung im Bereich Public Policy* und wendet dabei auch integrale Ansätze an. Wir sprachen mit ihm über diesen Versuch, eine neue Denkweise in die politische Entscheidungsfindung in Kolumbien zu bringen.
evolve: Kolumbien ist häufig in den Nachrichten aufgrund von Gewalt von verschiedenen Guerillagruppen wie der FARC. Wie schätzen Sie die Situation momentan ein?
Raul Aramayo Salinas: Es gibt in Kolumbien viele Probleme mit bewaffneten Gruppen, einerseits die Guerilla und andererseits paramilitärische Gruppen und darüber hinaus noch die Armee. Seit vielen Jahren sind diese Gruppen in ständige Konflikte verstrickt. Aber aktuell sind wir in einem Übergangsstadium, weil es Verhandlungen zwischen der FARC und der Regierung gibt. Sie versuchen zu einer Übereinkunft zu kommen; es ist ein Friedensprozess, über den gerade in Havanna verhandelt wird.
Deshalb beginnt sich die Wahrnehmung zu verändern, und es ist sehr gut möglich, dass in diesem Jahr ein Friedensvertrag unterzeichnet wird. Wenn das passiert, wird nicht mehr die Wahrnehmung der vielen Konflikte im Vordergrund stehen, sondern die Herausforderung des Wiederaufbaus. Das verändert auch die Politik grundlegend, weil es nun darum geht, die Gesellschaft wiederherzustellen. Hierbei ist der integrale Ansatz sehr nützlich, weil er helfen kann, mehr soziale Energie für das Ziel des Wiederaufbaus zu mobilisieren.
e: Wie wenden Sie den integralen Ansatz in Ihrer politischen Arbeit an?
RAS: Wir arbeiten vor allem im Bereich der Menschenrechte. In der Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Abteilung für Menschenrechte und Soziales im Innenministerium versuchen wir, die Problematik der Menschenrechte besser zu verstehen. Dabei verwenden wir die vier Quadranten der integralen Theorie – also die individuellen, kollektiven, innerlichen und äußerlichen Dimensionen. Hierbei erkannten wir, dass die Informationssysteme der Regierung auf die äußeren und kollektiven Quadranten fokussiert sind und die inneren und individuellen Dimensionen ignoriert werden. Um das zu verändern, versuchen wir, den Regierungsmitarbeitern eine neue Perspektive zu eröffnen.
In Bezug auf die Methodologie verwenden wir das Sensitivitätsmodell, das von Frederic Vester begründet wurde, und kombinieren es mit dem integralen Ansatz. Das Sensitivitätsmodell versucht, alle in einem betrachteten Kontext maßgeblichen Aspekte zu betrachten und ihre Beziehungen zueinander bewusst zu machen. In der Betrachtung dieser Berührungspunkte und Wechselwirkungen können wir neue Szenarien entwickeln und so zu neuen Ergebnissen kommen. Durch systemisches Denken versuchen wir, vor allem die Schlüsselfaktoren zu finden, die in der Lage sind, das gesamte System zu bewegen. Daraus entwickeln wir die Public Policies, sodass sie ganzheitlich alle relevanten Dimensionen berücksichtigen, was eine vollständigere Art von Veränderungsprozessen ermöglicht.
Am Beispiel des Themas Sicherheit wurde die Menschenrechtspolitik aus einer äußeren Perspektive auf der Grundlage von institutionellen Maßnahmen begründet. Beispielsweise waren den führenden Menschenrechtsaktivisten Bodyguards zugeordnet. Aber das wirkte nur oberflächlich, weil diese Bodyguards nicht in die Kultur der Menschenrechtsaktivisten passten. Mit Hilfe des integralen Ansatzes sahen wir, dass die Kultur, also die innerlichen Dimensionen, nicht angesprochen waren. Deshalb entwarfen wir Strategien, welche die Kultur berücksichtigten. Wir sorgten dafür, dass die Aktivisten die Wichtigkeit der Sicherheit für ihre Führungskräfte verstanden.
e: Können Sie noch etwas weiter erläutern, wie Sie den integralen Ansatz im Bereich der politischen Entscheidungsfindung anwenden?
RAS: In der Public Policy gibt es oft eine fragmentierte Sicht von Realität. Sachverhalte werden auf eine objektive Art erklärt, ohne die inneren Dimensionen unseres Menschseins zu berücksichtigen. Deshalb brauchen wir einen neuen Ansatz, um komplexe soziale Themen in einer Weise zu verstehen, die mehr der Realität entspricht. Aber um den integralen Ansatz in Institutionen und in der Kultur anzuwenden, wäre es wichtig, dass wir ihn einfacher zugänglich machen. Um Entscheidungsträger in der Regierung zu erreichen, müssen wir den Ansatz stark vereinfachen.
Der Friedensprozess in Kolumbien kann nur dann nachhaltig sein, wenn sich auch das Bewusstsein der Beteiligten entwickelt.
Der momentane Friedensprozess in Kolumbien kann nur dann nachhaltig sein, wenn sich auch das Bewusstsein der Beteiligten entwickelt – in der Regierung, in der Zivilgesellschaft und auch in den militärischen Gruppen. Wir müssen die egozentrischen, rein selbstbezogenen, und die soziozentrischen, allein der eigenen Gruppe oder Subkultur dienenden Sichtweisen überwinden und sehen, dass wir alle Teil einer Gesellschaft sind, die wiederum in einem globalen Kontext existiert. Aus dieser Perspektive sehen wir den Wert der Kooperation mit Menschen oder Gruppierungen, die vielleicht auch andere Ziele haben. Das ist die entscheidende Veränderung. Der Kreis der Einbeziehung wird größer und größer, und wir können mehr und mehr Realität umfassen. Politische Vorgaben müssen also darauf abzielen, das Bewusstsein der Menschen zu entwickeln. Diese Einsicht versuchen wir den Menschen zu vermitteln, die in der Regierung an der Formulierung politischer Strategien beteiligt sind.
Wir arbeiten auf individueller Ebene, damit die Beteiligten durch einen Transformationsprozess gehen können. Durch diese individuelle Veränderung können in der Folge auch neue Strategien und Methoden entwickelt werden. Im integralen Ansatz gibt es aber bisher vor allem Methoden zur persönlichen Transformation, im Bereich der politischen Veränderung stehen wir noch sehr am Anfang. Wir hoffen, dass weltweit Vernetzungen mit Teams entstehen werden, die in diesem Feld arbeiten. Aus diesem Grund veranstalten wir im September dieses Jahres in Zusammenarbeit mit „Integral without Borders“ ein Treffen in Bogota unter dem Titel „Integrale Praktiken für Transformation“, das von einem Komitee mit Mitgliedern aus sechs lateinamerikanischen Ländern organisiert wird. Dabei wollen wir eine globale Zusammenarbeit in der Anwendung integraler Ideen zur Unterstützung sozialen Wandels untersuchen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke, mit freundlicher Unterstützung von Santiago Jimenez für die Übersetzung.
*Public Policy ist ein Begriff der Politikwissenschaft und bezeichnet die Summe der inhaltlichen Entscheidungen, Zielsetzungen und Aktivitäten der am Politikprozess Beteiligten. (Quelle: Wikipedia)