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Seit drei Jahrzehnten setzt sich Mallika Dutt für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt gegen Frauen ein. Dabei rückt für sie immer mehr die Frage in den Mittelpunkt, welche wirksamen Alternativen es zu einem Wandel durch Widerstand gibt. Mit evolve spricht sie über die Möglichkeiten eines post-oppositionellen Aktivismus.
evolve: Wie hat sich in den letzten Jahrzehnten Ihr Verständnis des Engagements für sozialen Wandel verändert?
Mallika Dutt: Ich befinde mich diesbezüglich gerade in einer tiefgreifenden Transformation. Meine Arbeit für Menschenrechte begann ich als überzeugte Aktivistin und radikale Feministin. Durch mein Jurastudium habe ich meinen Aktivismus durch ein tieferes Verständnis von Recht und Politik ergänzt, um mich wirksamer für sozialen Wandel einsetzen zu können. Ich arbeitete für eine Organisation in New York City, die misshandelten südasiatischen Frauen half. Als Menschenrechtsbeauftragte arbeitete ich für die Ford Foundation in Indien. Am Center for Women’s Leadership an der Rutgers University habe ich mich als Teil der weltweiten Menschenrechtsbewegung für die Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechte eingesetzt. Dann engagierte ich mich interdisziplinär für die Rechte von Immigranten und für Rassengerechtigkeit und erkannte dabei, wie Macht und Privilegien unser Leben und unsere Gesellschaft beherrschen.
Seit einiger Zeit habe ich meinen Fokus verändert und konzentriere mich auf die Veränderung der Kultur, denn als ich durch meine Arbeit im Bereich Recht und Politik den Menschen helfen wollte, die Gewalt erlebt hatten, beschäftigten wir uns erst mit dem Problem, nachdem die Gewalt schon geschehen war. Durch Veränderung in Gesetzen und Politik haben wir versucht, Strukturen zu schaffen, die oft schwer umzusetzen waren. Wir versuchten, den Wandel mit denselben patriarchalischen Normen zu erreichen, die das bisherige System bestimmen.
¬ Viele von uns in der Bewegung für soziale Gerechtigkeit reden nur miteinander, ohne einen größeren Kreis von Menschen in unser Gespräch einzubeziehen. ¬
Ich erkannte auch, dass viele von uns in der Bewegung für soziale Gerechtigkeit nur miteinander redeten, ohne einen größeren Kreis von Menschen in unser Gespräch einzubeziehen. Selbst meine Eltern verstanden nicht, was ich tat! Also fragte ich mich: Was müssen wir tun, um eine viel breitere Verlagerung von Macht und Privilegien zu erreichen? Wie können wir Medien, Kunst, Technologien und andere Ausdrucksformen nutzen, um die Narrative, die Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen, zu verändern? Zuerst produzierten wir ein Musikvideo und ein Musikalbum in Indien, welches die Geschichte einer Frau erzählt, die häusliche Gewalt erlebt hatte, ihren Mann verließ und Lkw-Fahrerin wurde. Eine verrückte Story, die von einer wahren Geschichte inspiriert war. Trotz aller Pessimistinnen in der Frauenbewegung und in der Unterhaltungsindustrie wurde das Album ein großer Hit und kam in Indien in die Top 10. Es veränderte die öffentliche Diskussion über häusliche Gewalt so, wie ich es mir immer erhofft hatte, und es begann sich tatsächlich etwas zu bewegen.
Deshalb verließ ich die Ford Foundation, um die Organisation »Breakthrough« zu gründen, und widmete mich der Frage: Wie verändern wir die Kulturen, in denen wir leben? Wie können wir in dieser Hinsicht unsere Worte, unsere Gedanken und unser Handeln verbinden und ausrichten? Diese Frage stellen wir uns ständig. Kulturelle Veränderung ist für mich gleichbedeutend mit der Frage: Wie können wir die Herzen der Menschen erreichen? Wie können wir die Denkmuster verändern? Und wie können wir ein Handeln unterstützen, das in dem Bereich meiner Arbeit, der Gewalt gegen Frauen, eine Veränderung bewirkt?
Miteinander reden
e: Machtstrukturen verändern zu wollen, ist etwas völlig anderes als die Herzen und das Denken der Menschen zu erreichen. Eine Kommunikation von Mensch zu Mensch im gegenseitigen Verständnis, dass die Kultur sich verändern kann, setzt voraus, dass wir nicht aus einer Perspektive der Unterdrückung sprechen. So entsteht eine andere Grundlage für Aktivismus. Ist das die Einsicht, die Ihrer Arbeit zugrunde liegt?
MD: Zuerst müssen wir die Frage nach Macht in einer vielschichtigen Weise beleuchten. Wie wir Macht anders einsetzen, ist eine dringende Frage für den ganzen Planeten. Wie können wir als Individuen in unserem Leben anders mit Macht umgehen – in unserer Familie, an unserem Arbeitsplatz, in unseren Gemeinden, in unseren Schulen und Universitäten, in unseren Regierungen? Das unterscheidet sich sehr von einem oppositionellen Ansatz, der auf Widerstand gegen äußere Machtstrukturen beruht, denn wir verstehen, dass wir alle Teil dieses einen Ökosystems sind. Diese Systeme sind nicht aus sich selbst entstanden, wir leben in ihnen. Es gibt kein »Wir und die anderen« – wir sind alle gemeint.
¬ Kulturelle Veränderung ist für mich gleichbedeutend mit der Frage: Wie können wir die Herzen der Menschen erreichen? ¬
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Lange Zeit war in unserem Umgang mit Männern beim Thema häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe die Rede von »Täter und Opfer«. Durch die Privilegien, die Männer in unserer Gesellschaft haben, wird durch Männer sehr viel Gewalt gegen Frauen ausgeübt. Gleichzeitig können wir keine Veränderung herbeiführen, wenn Männer nicht auch Teil der Lösungsansätze sind. Mit diesem Ansatz haben wir experimentiert, als wir die TV-Kampagne »Ring the Bell« konzipiert haben. In der Kampagne schlagen wir vor, dass Männer, die häusliche Gewalt bei einem Nachbarn wahrnehmen, zum Nachbarn gehen und an der Türe klingeln, um die Gewalt zu unterbrechen, und dann zum Beispiel fragen: »Haben Sie etwas Milch für mich?« In diesem Austausch macht der eine Mann dem anderen Mann durch diese Unterbrechung klar, dass er die Gewalt missbilligt. Es ist eine Veränderung, die Männer einbezieht und sie ermutigt, sich aktiv einzubringen. Das unterscheidet sich vom bisherigen Ansatz, in dem jeder als potenzieller Täter gesehen wurde. Stattdessen bieten wir ihnen an, ein Teil der Lösung zu werden. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, sich zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Diese Kampagne zog eine unglaubliche Resonanz nach sich. Für viele Männer war es das erste Mal, dass sie sich konstruktiv an einer Lösung dieses Problems beteiligen konnten.
Wenn ich mit Männern in Studentenvereinigungen in den USA arbeite, bin ich mit ähnlichen Fragen konfrontiert. In der ersten Woche, wenn neue Studenten an die Universitäten kommen, gibt es oft diese Banner an den Häusern der Studentenvereinigungen, auf denen herabwürdigende Sprüche gegenüber Frauen zu lesen sind, zum Beispiel: »Väter, gebt eure Töchter hier ab, wir wissen, wie man mit ihnen umgehen muss.« Im Grunde also Aussagen einer um sich greifenden Atmosphäre, in der sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung zu etwas Normalem werden. Einige der Männer, mit denen wir zusammenarbeiten, haben Banner kreiert, die eine ganz andere Botschaft vermittelten. Wenn wir die Kultur verändern wollen, ist es wirklich wichtig, mit Männern und Frauen zu arbeiten. Deshalb sprachen wir mit den Männern in den Studentenvereinigungen und fragten sie, wie sie ihre Werte von Männlichkeit, Ehre, Brüderlichkeit zum Ausdruck bringen und wie sie dafür einstehen. Denn wir sind doch alle Teile des gleichen kulturellen Milieus, das diese Muster hervorbringt. Wir sind alle mitverantwortlich.
Alte Strukturen verlassen
e: Es ist ein systemischer und komplexer Ansatz, der nicht einfach Gegensätze schafft. Denn wenn man gegen etwas handelt, verändert man die Dynamik in einer Kultur nicht grundlegend.
MD: Für diejenigen von uns, die sich mit der Entwicklung des Bewusstseins beschäftigen, stellt sich die Frage: Gibt es einen post-oppositionellen Weg jenseits der Gegensätze, jenseits des Widerstands? Gibt es einen Weg, wie wir allem mit Liebe und Mitgefühl begegnen können? Und verändert diese Haltung die Qualität, mit der wir versuchen, etwas zu verändern? Oder ist allein der Wunsch, etwas zu verändern, in sich schon auf Gegensätze und auf Widerstand gerichtet?
Ich habe mich erst in den letzten fünf bis sechs Jahren für Bewusstseinsarbeit und Spiritualität geöffnet und dadurch stellen sich mir viele neue Fragen: Wie halte ich den Raum der Liebe, des Mitgefühls und der wechselseitigen Abhängigkeit als Werterahmen offen und setze mich gleichzeitig für einen Wandel unseres Zusammenlebens auf diesem Planeten ein? Ausgehend von der Einsicht, dass unser derzeitiges Verhalten nicht uns selbst und auch nicht den anderen Wesen dient, mit denen wir auf diesem Planeten leben. Wenn wir das verstehen und unser Bewusstsein dementsprechend verändern, wie verändert sich dann unser Handeln? Was würden wir aus dieser Haltung heraus anders machen? Vor diesen Fragen stehe ich gerade. Selbst bei meiner Arbeit für einen Wandel der Kultur bleiben viele Fragen offen, weil ich mir nicht sicher bin, inwieweit dadurch weiterhin die gleichen Machtstrukturen und Privilegien, die wir eigentlich überwinden wollen, unterstützt werden. Und ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.
e: Auch wenn dies noch eine offene Frage für Sie ist, können Sie mehr darüber sagen, wie solch ein post-oppositioneller Ansatz jenseits der Gegensätze aussehen könnte?
MD: Ich frage mich zum Beispiel: Was ist der Unterschied zwischen einem Paradigma der Menschenrechte und einem Paradigma der Verbundenheit? Wenn man sich Themen oder Situationen aus der Sicht des Paradigmas der Menschenrechte nähert, wie ich es in den letzten drei Jahrzehnten getan habe, bewegt man sich oft im Dreieck von Opfer, Täter und Problemlösung. Man versucht also, etwas zu verändern, indem man die Menschen innerhalb dieses Dreiecks verortet.
Aber aus einer Haltung der Verbundenheit können wir uns fragen: Was steht dieser Verbundenheit im Weg? Dann verändert sich vielleicht die Art und Weise, wie wir auf die Frage zugehen. Damit experimentiere ich im Moment. Ich kann Ihnen ein Beispiel von einem einwöchigen Intensivseminar über Leadership für Frauen geben. Als ich über Macht und Privilegien aus der Sicht der Menschenrechte sprach, schuf ich einen Raum, in dem für die Teilnehmerinnen ihr Schmerz und ihre traumatischen Erfahrungen stärker spürbar wurden. Unter den 30 anwesenden Frauen gab es ganz unterschiedliche Erfahrungen mit Macht und Privilegien, abhängig von sexueller Orientierung, Rasse, Klasse, Religion oder Fähigkeiten. Als wir den Raum auf diese Weise öffneten, waren so viel Schmerz und tiefe traumatische Erfahrungen spürbar. Diejenigen, die sich im Besitz von Macht und Privilegien sahen, kamen in eine Verteidigungshaltung, und die anderen fühlten sich in ihrer Opferhaltung bestätigt. Es war schwer, das Gespräch in einem offenen Rahmen zu halten. Seitdem ich unsere grundlegende Verbundenheit als Rahmen nutze, in dem sich das Gespräch über Macht und Privilegien vollzieht, hat sich unser Sprechen darüber sehr verändert und es eröffnen sich neue Wege des Handelns. Es heißt nicht, dass wir die schwierigen Aspekte von Macht und Privilegien in der Gruppe vermeiden, aber der Raum, in dem wir dieses Gespräch führen, verändert die Art des Sprechens grundlegend. Wenn ich also aus dieser Haltung der Verbundenheit lebe, dann muss sich vielleicht mein ganzes Tun verändern!
Wir können nicht in einer Haltung der Verbundenheit leben und gleichzeitig ignorieren, wie sich Macht und Privilegien manifestieren. Das haben viele Menschen in der spirituellen Szene getan. Man geht an einen ruhigen Ort, meditiert und singt »Om« und erwartet, dass sich dadurch alles verändert. Wenn wir aber andererseits ständig mit erhobenem Schwert herumlaufen, uns immer im Krieger-Modus befinden, dann sind wir in einer Welt der Gegensätze und der Feindschaft gefangen. Irgendwo zwischen diesen Extremen, oder vielleicht jenseits dieser Haltungen, liegt etwas Neues. Aus diesem Grund ist das Nichtwissen so wichtig. Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer Bewusstseinshaltung oder gegenüber spirituellen Aussagen, in denen wir alles zu wissen meinen. Und auch beim Engagement für soziale Gerechtigkeit kommen wir schnell in eine Gewissheit, dass wir den einen richtigen Weg zur Gerechtigkeit zu kennen.
Neue Geschichten erzählen
e: Verbundenheit bedeutet In-Beziehung-Sein, deshalb brauchen wir gemeinsame, kollektive Antworten und Handlungswege. Sehen Sie, dass sich hier neue Wege eröffnen?
MD: Es gibt so viele Fragen zu diesem Thema und ich bin im Gespräch mit Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit engagieren und einen ähnlichen Weg gehen. Wir müssen einsehen, dass eine sehr große Zahl der Menschen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, Weiße sind, privilegierte, westliche Menschen. Die Stimmen der indigenen Völker oder der Weisheitshüter alter Traditionen, die seit langer Zeit eine Haltung der Verbundenheit pflegen, finden kaum Gehör. Ich mache oft die Erfahrung, dass es schwierig ist für Menschen mit verschiedensten Erfahrungen, Voraussetzungen und Positionen, in ein Gespräch zu kommen, ohne dass die Verletzungen, die jeder in sich trägt, das Gespräch beeinflussen. Wie können wir uns offen begegnen, in dem Verständnis, dass wir alle unsere eigenen Erfahrungen, traumatischen Erlebnisse und Machtpositionen in uns tragen, die uns beeinflussen?
¬ Wenn ich aus dieser Haltung der Verbundenheit lebe, dann muss sich vielleicht mein ganzes Tun verändern! ¬
Ich möchte hier noch einmal auf etwas zurückkommen, das wir in Bezug zur Veränderung der Kultur schon angesprochen haben: die Bedeutung des Geschichtenerzählens, der Narrative und der Gestaltung von Mythen. Die Narrative oder Geschichten, die unser Verstehen und unser Schicksal beschreiben, sind mir sehr wichtig. Wie auch in den TV-Spots, frage ich mich immer: Was ist die Geschichte dahinter? Wie wird die Geschichte erzählt? Wie wirkt diese Geschichte? Wer erzählt die Geschichte? Wer ko-kreiert diese Geschichte? Wer nimmt diese Geschichte auf? In den letzten 15 Jahren ging es in meiner Arbeit oft um Musikvideos, Videospiele, Video-Geschichten, Fernsehwerbung, Comedy, Spoken Word – verschiedene Arten, Geschichten zu erzählen. Geschichten sind Wege, um auf die Menschen zuzugehen.
e: Solche Geschichten zu finden und zu fragen, »Was ist in diesem Zusammenhang die richtige Geschichte?«, ist ein ganz anderes Verständnis von Aktivismus.
MD: In meinem Engagement für Menschenrechte befinde ich mich gerade in einer Krise und ich leite eine Organisation mit dem Motto: »Menschenrechte beginnen mit dir«. Geschichten erzählen als eine Möglichkeit der Kommunikation kann alles verändern, zum Beispiel den Ausdruck von Hierarchie, Macht und Privilegien. Geschichten und Narrative können aber auch einen Völkermord, das Kastensystem oder Gewalt gegen Frauen rechtfertigen. Geschichten können für alles eingesetzt werden, so wie beispielsweise die Werbung, die Grundlage unserer Konsumkultur ist. Wenn wir die Kultur verändern wollen, müssen wir andere Geschichten erzählen. Die Art und Weise, wie wir heute mit neuen Technologien und Sozialen Medien Geschichten einsetzen können, verändert alles. Wir stehen heute an einem neuen Punkt, wo sich uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Wie beeinflussen diese Möglichkeiten den Wandel, für den wir mit alten und ganz modernen Methoden einen Raum öffnen wollen? Wie bringen wir diese Möglichkeiten zusammen, um auf unserem Weg zu einem tiefgreifenden Wandel voranzukommen?
Das Gespräch führte Elizabeth Debold.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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