Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 19, 2017
Im Wartebereich der Notaufnahme eines Krankenhauses. Ein alter Mann. Ihm gegenüber sitzt sein Enkel mit Freundin. Die jungen Leute schauen beide auf ihr Handy. Irgendwann fragt er die Frau, was sie mache. »Ich habe hier eine Internetverbindung und recherchiere wegen unserer Hochzeitsreise.« Diese Auskunft ist Anlass, sich an die eigene Hochzeit und die damalige Reise in die 30 km entfernte Großstadt zu erinnern. Bald wird wieder geschwiegen und auf den kleinen Schirm geschaut.
Der Mann war morgens beim Aufstehen gestürzt und lag mindestens eine Stunde auf dem Boden. So viel hatte ich mitbekommen. Wenn dies eine Filmsequenz wäre, hätte niemand Schwierigkeiten, so einiges herauszulesen, zum Beispiel das Verhältnis der drei Menschen zueinander sowie ihre innere seelische Verfasstheit. Filme, Social Media und die allgegenwärtige Werbung füttern uns mit Bildern, die wir zu entziffern gelernt haben – und wir haben uns daran gewöhnt, sie schnell vorbeiziehen zu lassen.
Jedes Ereignis oder Erlebnis hinterlässt eine Spur.
Wie anders ist es, mit allen Sinnen wahrzunehmen, sagen wir im Garten an einem Sommertag: Morgentau, das Ziehen der Wolken am Himmel, die Gerüche von Lavendel und Basilikum, leuchtende Blütenpracht, die Sonne auf der Haut, ein kühles Windchen, summende Insekten, tanzende Schmetterlinge, Amseln, die sich Trauben holen, spielende Kinder, Geräusche eines Rasenmähers, Licht und Schatten, wechselnde Tagesstimmungen. Statt der fotografischen visuellen Zusammenfassung auf dem Handy bietet die Verlangsamung eine Fülle an Eindrücken. Die Schönheit und die Bereitschaft, sich einzulassen, können einen mit einem Gefühl der Erholung und der Dankbarkeit beschenken, das oft lange nachklingt.
Wenn man sich selbst wach beobachtet, kann man bemerken, dass bei jeder Art von Wahrnehmung etwas im Inneren aktiv wird und eine Art Nachbild erschafft. Zum Beispiel bildet sich beim konzentrierten Schauen auf eine Farbe im Auge die Komplementärfarbe. Wenn dann der Blick von der Ausgangsfarbe zu einer weißen Wand wandert, ist dort für die meisten Menschen die Gegenfarbe erkennbar. Sie ist nicht statisch, sondern pulsiert und verwandelt sich fortwährend, bis sie für die Wahrnehmung verschwindet. So hinterlässt jedes Ereignis oder Erlebnis eine Spur. Oft bleibt diese unbemerkt, aber manchmal dringt im Nachhinein unerwartet ein tieferes Verstehen des Geschehenen ins Bewusstsein.
Was mir im Alltag entgegenkommt, ist nicht leblos und ordentlich gepixelt, sondern es atmet, ist leicht chaotisch und vielfältig und wandelt sich andauernd. Indem ich mich einlasse, verstärkt sich das Nachbild der gemachten Erfahrungen. Wenn ich das bemerke und dies mit meinen eigenen Gedanken und Gefühlen ins Gespräch bringe, füge ich der Wirklichkeit etwas hinzu, wenn auch oft auf subtile Art und Weise, aber vermutlich wirksamer als geahnt. Gerade im Sozialen begegnet einem oft ein feines, schwer zu entwirrendes Gefüge aus Erlebnissen und Nachbildern, aus Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken. Wer kennt nicht die Erfahrung, in einen Raum hineinzukommen und zu spüren, was dort stattgefunden hat? Welche Stimmung ist nach dem gestrigen »Tatort« beim Frühstück vorhanden? Wozu veranlasst mich eine Reportage über Missstände in der Welt? Was klingt von einem intensiven Gespräch nach? Wie lange bin ich von tiefen Naturerlebnissen erfüllt? Wie lebt die Landschaft meiner Kindertage in mir? An welche Artikel und Bücher, die ich gelesen habe, erinnere ich mich? Wie habe ich die Inhalte integriert? Wie prägen bestimmte Gemälde meine Wahrnehmung der Welt und meinen eigenen Ausdruck?
Neulich fragte mich eine Nichte nach den Freunden meiner Eltern. Julien und seine Familie sind mir in Erinnerung geblieben. Jede Woche verfasste er eine Zeitungskolumne. Abgabetermin am Montag. Obwohl wir nicht oft zu Gast waren, zog er sich am Sonntagabend trotz Besuchs zurück. Seinen Schilderungen entnahm ich, dass das Thema für den Artikel in dem Moment bereits deutlich war, aber der Text noch geschrieben werden musste. Das faszinierte mich.
Ich verstand dadurch schon früh, dass der Kolumnenschreiber jemand ist, der besonders wachsam das Leben beobachtet und diese Wahrnehmungen und den Nachklang auf eindringliche Weise mit dem eigenen Sein und Ausdruck verbindet – wie in einem vertieften Gespräch zwischen Außen- und Innenwelt. Er ist dabei auf kein Thema festgelegt. Der persönliche Blick auf die alltäglichen Dinge ist erwünscht. Das ist, was er dann – in Juliens Fall am Sonntagabend – in Worte fasst.
Allmählich erkenne ich, dass wir alle bewusst oder unbewusst unsere Kolumnen schreiben und sie Tag für Tag unseren Mitmenschen und der Welt übergeben. So weben wir fortwährend etwas von uns selbst in den Lebensstrom hinein – im Idealfall in Form von Anteilnahme, Wertschätzung und Verständnis.