Aktivismus als Dialog
Seit vielen Jahren ist Terry Patten in der integralen Bewegung* aktiv und setzt sich für eine Verbindung von innerer Entwicklung und Handeln in der Welt ein. Wir sprachen mit ihm über die Dringlichkeit, Tiefenökologie und Fortschrittsoptimismus miteinander zu versöhnen.
evolve: Wo stehen wir heute deiner Ansicht nach im Engagement für sozialen Wandel?
Terry Patten: Es gibt viele inspirierende Entwicklungen, etwa kreative, soziale unternehmerische Projekte, gemeinnützige Aktivitäten oder Mikrokredite. Es gibt zahlreiche Initiativen, die das Leben der Menschen tatsächlich verbessern. Doch diese Aktivitäten sind nicht miteinander koordiniert. Man kann eine gewisse Zuversicht schöpfen angesichts der Blüten, die da aufsprießen und sich durch die Risse im Asphalt bohren. Aber die größeren Systeme – unsere gesellschaftlichen und sozialen Institutionen und die Weltwirtschaft – sind schwer krank. Manches ist gar am Zusammenbrechen.
¬ Wir können nicht einfach blind an dem Narrativ des evolutionären Fortschritts festhalten. ¬
Ich sehe also diese inspirierenden Möglichkeiten, und dennoch bin ich äußerst ernüchtert. Ich kann nicht sehr deutlich erkennen, was wir diesen Kräften entgegensetzen können. Wir werden es verstärkt mit intensiven Stürmen, Dürren, Hitzewellen und Waldbränden zu tun haben, sicher wird es auch weitere Terrorangriffe und die entsprechenden Gegenschläge geben, die Entwicklungen hin zu einem Polizeistaat auslösen könnten. Mir ist nicht klar, wie unser Aktivismus darauf eine Antwort finden kann. Ich glaube nicht, dass wir aus einer Haltung abstrakter Objektivität heraus und mithilfe einer rationalen Struktur von Kontrolle eine Lösung finden können. Wir können uns aber auf eine dynamische Partizipation einlassen, um unsere emergierende Wirklichkeit mitzugestalten. Wie ein solches Engagement aussehen kann, das in der Lage ist, auf diese tiefgreifenden Entwicklungen zu antworten, das müssen wir erst noch herausfinden.
Fortschritt & Katastrophe
e: Was kann die integrale Perspektive zu solch einem neuen Aktivismus beitragen?
TP: Die vergangenen elf Monate waren die heißesten seit der globalen Temperaturerfassung. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre beträgt 400 ppm und steigt weiter an. In dieser Situation können wir nicht einfach blind an dem Narrativ des evolutionären Fortschritts festhalten. Die Idee des evolutionären Fortschritts wird sich mit dem ökologischen Narrativ verbinden – dass wir Menschen die Gesundheit der Biosphäre verletzt haben und heute wieder zu einem harmonischen Zusammenleben mit unserem lebendigen Planeten finden müssen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass wir nicht zu einem früheren Idealzustand zurückkehren können. Wir werden wichtige Wahrheiten aufnehmen können, wenn wir von den indigenen Völkern lernen. Sogenannte »frühere« Bewusstseinsstufen pflegen Einsichten über das nachhaltige Zusammenleben auf dem Planeten, zu denen wir den Zugang verloren haben. Wenn wir mit angemessener Bescheidenheit vorangehen, können wir von ihnen lernen, trotzdem können wir nicht zu einem vergangenen Zustand zurückkehren. Diese Klarheit bietet uns die integrale Theorie. Aber dieses Verständnis muss sich mit einer weitaus demütigeren Anerkennung des evolutionären Fortschritts verbinden, in der wir nicht einfach unkritisch die Ideen der Moderne übernehmen.
Bislang hat sich die integrale Weltsicht oftmals stark an die Moderne gebunden, weil es in der Postmoderne so eine vehemente Kritik gegen die Moderne gibt. Wir haben gesagt: »Nein, wir können die Würde der Moderne nicht einfach kaputtreden«, und somit hatte die integrale Weltsicht eine deutlich freundlichere Beziehung zu den Werten der Moderne. Heute aber bedroht uns das Versagen der Moderne in weit substanziellerer Weise. An dem zutiefst kritischen Blick der Tiefenökologen, die die Moderne als einen tödlichen Fluch betrachten, ist etwas Wahres. Die Moderne mag ihre eigene große Würde beinhalten und sie ist wohl ein unabdingbarer Ausdruck der Bewusstseinsentwicklung. Dennoch, die existenzielle Krise, der wir uns jetzt gegenüber sehen, ist durch moderne Technologie entstanden – durch die Verschwendung der natürlichen Ressourcen, insbesondere der fossilen Brennstoffe, für einen stetig wachsenden Konsum und Lebensstandard. Diese Tatsache kann man nicht mit einer philosophischen Haltung wegwischen, die vereinfachend und naiv die zugrundeliegende Arroganz der Moderne übernimmt.
¬ Unsere Gesellschaft braucht dringend eine produktive Dialektik, um sich entwickeln zu können. ¬
Die westlichen Länder haben die Welt erobert und haben den Völkern, die sie kolonisiert haben, ihre moderne Weltsicht aufgezwungen. Bei der berechtigten Kritik an den Schrecken, die dabei von den modernen westlichen Kulturen verübt wurden, verlieren postmoderne Denker immer wieder die wichtige Rolle der Rationalität für unsere Menschheitsentwicklung aus dem Blick. Sie sehen im modernen Bewusstsein etwas »Böses«. Eine integrale Perspektive erkennt, wie sich Bewusstsein und Kultur entwickeln, und kritisiert die naiven Fehlannahmen des postmodernen, pluralistischen Geistes. Das ökologische Dilemma, in dem wir uns heute befinden, bringt völlig neue Lebensbedingungen hervor, die am unmittelbarsten von der postmodernen Weltsicht angesprochen werden. Deshalb wird die Weiterentwicklung einer integralen, evolutionären Kultur eine gesunde Re-Integration postmoderner Sichtweisen umfassen, gewissermaßen eine »integrale Tiefenökologie«.
Tiefenökologie & Technik
e: Wie würdest du diese Tiefenökologie aus einer integralen Perspektive beschreiben?
TP: Wir stehen heute an einem Punkt, wo so viele wichtige Perspektiven wirksam sind, dass wir sie nicht vollkommen integrieren können. Es gibt keinen einzelnen Standpunkt, der alle Perspektiven versammeln kann. Wir können aber genügend Intelligenz und Bescheidenheit aufbringen, um mit dem vollen Spektrum von Sichtweisen, die ansonsten unvereinbar wären, ins Gespräch zu kommen.
Derek Jensen ist ein radikaler Tiefenökologe, der den Wert des nichtmenschlichen Lebens vertritt. Er ist sehr interessant, aber in gewisser Weise ist er zum Misanthropen geworden. Sein Standpunkt ist vollkommen unvereinbar mit den Leuten auf der anderen Seite des Spektrums wie Elon Musk, Larry Page, Bill Gates und anderen Technikoptimisten. Ob es den Tiefenökologen gefällt oder nicht, unsere Zukunft wird zumindest teilweise von solchen Leuten mitgestaltet werden.
Aber die Tiefenökologen sind nicht im Gespräch mit den Technikoptimisten. Es gibt keinen produktiven Dialog, dabei benötigt die Gesellschaft doch dringend eine produktive Dialektik, um sich entwickeln zu können. Eine integrale, evolutionäre Perspektive kann also eine wichtige Aufgabe erfüllen, einfach indem sie einen Raum für Gespräche eröffnet, und die Gesprächspartner miteinander in Verbindung bringt, die eine produktive Beziehung zueinander verloren haben.
e: Das ist faszinierend, denn ich glaube, dass die integrale Weltsicht weniger eine Theorie ist als vielmehr ein Dialog. Ich denke, das könnte ein Beitrag des Integralen sein, eine eigene Form des Aktivismus, denn mit dieser multiperspektivischen Sichtweise und mit dem Verständnis für Entwicklung sowohl der Gesellschaft als auch des Bewusstseins kann man eine informierte Struktur für einen Dialog zur Verfügung stellen, in dem all diese unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Beziehung treten können.
TP: Das ist ein gesunder Prozess, aus dem eine Kreativität entstehen kann, die wir nicht allein besitzen oder gestalten können. Die Zukunft wird zum Teil von Menschen wie Derek Jensen beeinflusst werden. Aber die konventionelle Tiefenökologie führt leicht zu einem statischen Zustand, zu einer Trauer über das, was der lebendigen Erde angetan wird. Dadurch entwickelt sich eine misanthropische Haltung, eine Verbindung mit der nichtmenschlichen Natur und eine Abscheu gegenüber der industriellen Zivilisation und den Menschen, die darin leben.
Aber es ist auch klar, dass Larry Page, Elon Musk und Bill Gates die Zukunft mitgestalten werden. Es wird immer bessere künstliche Intelligenz geschaffen werden und dadurch werden sicher auch technologische Probleme gelöst werden. Das exponentielle Wachstum der technologischen Fähigkeiten wird ganz sicher die Welt verändern. Gleichzeitig werden wir noch spürbarer an die ökologischen Grenzen des Wachstums stoßen. Diese beiden Bewegungen werden spürbar werden und sich auf chaotische Weise gegenseitig beeinflussen. Eine integrale Perspektive versucht, sowohl die tiefenökologischen als auch die technikoptimistischen Sichtweisen zu berücksichtigen, um einen Weg in die Zukunft zu finden.
Dialog & Handeln
e: Es klingt vielleicht etwas vereinfacht, aber ein Aspekt eines integralen Aktivismus besteht einfach darin, diesen Raum zu halten. In einer umfassenden sozialen Dynamik brauchen wir einen Dialog, der die Gesamtheit des Menschseins umfasst. Wir müssen einen Raum halten, damit ein Dialog zum Beispiel zwischen Tiefenökologen und Technikoptimisten möglich ist.
TP: Ein integrales Bewusstsein ist fähig, auf eine Weise besonnen zu bleiben, wie es andere Perspektiven nicht können, die mit einer bestimmten Wahrheit identifiziert sind. Möglicherweise ist es unsere einzigartige Aufgabe in der Gesellschaft, Menschen in Beziehung zu Perspektiven zu bringen, die sich von ihrer eigenen unterscheiden. Andererseits kann es ein Ausweichmanöver sein, immer auf die Metaebene zu verweisen; wenn wir uns nur auf das größere Bild beziehen, kommen wir nicht in ein verbindliches Handeln. Es gibt eine wachsende internationale Bewegung, die sich mobilisiert, um den Klimawandel zu stoppen. Es gibt viele Möglichkeiten, um als Aktivisten in dieser Mobilisierung mitzuwirken. Weil dieses Anliegen so wichtig ist, sollten wir uns alle dafür engagieren.
In unserer Gesellschaft muss sich eine Transformation der »Produktionsmittel« vollziehen, damit wir die menschlichen Bedürfnisse nachhaltig befriedigen können. Es muss ein umfassender Übergang zu erneuerbaren Energien vollzogen werden. Dazu sind zahlreiche technische Innovationen, gesellschaftliche Transformationen sowie Veränderungen in Lebensstil und Verhalten nötig. Dazu braucht es ernsthaften politischen Willen, und die Auswirkungen auf unsere Wirtschaft werden tiefgreifend sein. Es wird kein leichter Weg sein, denn er wird eine Verringerung unseres materiellen Lebensstandards umfassen.
Die Ökonomie lässt sich letztlich nicht von der Ökologie trennen. Darin haben die Tiefenökologen Recht. Wir müssen auf die berechtigten Argumente der Tiefenökologen hören, denn die Ereignisse der Gegenwart bestätigen viele ihrer Aussagen. Wir erkennen, dass wir die Grenzen unseres Planeten respektieren müssen. Das heißt nicht, dass die Tiefenökologie alle Antworten hat. Die integrale, evolutionäre Perspektive umfasst wichtige Einsichten, für die wir uns genauso einsetzen müssen. Unter anderem unsere Verwurzelung in einer multiperspektivischen Wirklichkeit, in lebendiger Verbindung mit der Dynamik der Evolution. Wir können nicht zur Einheit mit einer archaischen Erde zurückkehren, die es so nicht mehr gibt. Die Erde ist dynamisch. Gleichwohl hat die Tiefenökologie darin Recht, dass uns die Beziehung zur Erde mit dem Heiligen verbinden kann. Eine tiefergehende Wertschätzung der Naturmystik ist eine wichtige Entwicklung in einer integralen Spiritualität. Diese immanente, erdverbundene Spiritualität können wir auf neue Weise würdigen.
Eine integrale, evolutionäre Sichtweise muss heute auch die Anliegen der Tiefenökologie umfassen, die sich der ökologischen Zerstörung stellt und daher auch Trauer und Pessimismus beinhaltet. Wir müssen ihre Wahrheit anerkennen, auch wenn sie manchmal nur teilweise gültig ist. Wir können nicht einfach blind die optimistischen Annahmen vertreten, dass sich die Evolution schon auf geheimnisvolle Weise entfalten wird. Gleichzeitig sollten wir diesen Optimismus nicht einfach abtun. Dieser Optimismus wurzelt in einer lebendigen Verbindung mit der Dynamik der Evolution – der Kraft also, die in der Geschichte der biologischen und kulturellen Evolution unvorhersehbare Emergenzen hervorgebracht hat und somit auch Hoffnung gibt für die schwierigen Situationen, auf die wir heute zusteuern. Diesen Optimismus können wir im Dialog mit Tiefenökologen ansprechen. Das sind Aspekte, die wir heute einbringen können: unsere Fähigkeit zum Dialog, unsere Fähigkeit, einen Raum zu halten, und unsere Verbindung mit der lebendigen Dynamik der Evolution.
Differenzierung & Integration
e: Das heißt aber auch, nicht einfach passiv den Raum zu halten, sondern wir müssen auch konkret handeln, aber auf eine Weise, die einen fortlaufenden Dialog ermöglicht.
TP: Ja, es gibt keine Rechtfertigung dafür, sich mit der Evolution des Bewusstseins zu beschäftigen und dabei die drängenden politischen und ethischen Fragen zu ignorieren. Die Umgestaltung der Industriegesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit ist heute von enormer gesellschaftlicher Priorität. Und wir können Möglichkeiten finden, diese Bewegung mitzutragen und in einer integralen, evolutionären Richtung mitzugestalten.
Oft wird gesagt, der Prozess der Evolution sei ein Prozess der Differenzierung und Re-Integration. Die Differenzierung, die sich durch den Prozess der Individuation in der westlichen Kultur ereignet hat, kann zu einer höheren Stufe der Integration führen. Was abgeschnitten wurde – die Verbundenheit mit der lebendigen Erde, die die Naturvölker noch haben – kann re-integriert werden, aber ohne das Projekt der Moderne als etwas Böses abzutun. Das vereinfachte Narrativ, dass die Moderne den falschen Weg eingeschlagen hat, führt sehr leicht zu einer misanthropischen, anti-menschlichen Orientierung.
Ein weiterer Punkt, den wir einbringen, könnte die Erkenntnis sein, dass diese Re-Integration auf einer höheren Ebene notwendig und möglich ist. Auf die Ausdifferenzierung einfach nur zu reagieren ist regressiv. Statt nur auf die »Verbrechen der Moderne« zu reagieren, können wir anerkennen, dass eine Re-Integration notwendig ist. Wir können unseren tiefenökologischen Freunden in vielen Punkten zustimmen. Auch wir wollen von der Weisheit der Naturvölker lernen, auch wir würden gerne eine tiefe spirituelle Beziehung zur lebendigen Erde entwickeln. Wir können aber auch das Gute, Wahre und Schöne wertschätzen, das wir auf dem Weg in die Moderne erreicht haben. Diese Klarheit können wir beibehalten, auch wenn wir uns in tiefer Demut üben. Wir können Brücken bauen und uns mit Menschen aller Bewusstseinsstufen verbinden und die Errungenschaften der prämodernen, modernen und postmodernen Kultur wertschätzen. Und im Handeln findet die integrale evolutionäre Weisheit ihren Ausdruck als tiefer seelischer Dialog, als gegenseitige Unterstützung, als Liebe.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.
* Integral bezieht sich hier auf die integrale Theorie des amerikanischen Philosophen Ken Wilber, mit dem Terry Patten intensiv zusammenarbeitet. In diesem Ansatz werden die verschiedenen Wissens- und Erfahrungsbereiche des Menschen in einer umfassenden Sicht zusammengefasst. Ein Aspekt dieser Theorie ist ein Verständnis kultureller Entwicklung von Prämoderne (Stammeskulturen) über Moderne (Industriegesellschaft) bis hin zur Postmoderne (Pluralismus, Umweltbewegung). Die integrale Weltsicht wird als integrierende Ebene nach der Postmoderne verstanden, die alle vorhergehenden Ebenen wertschätzend integriert.