Das Fremde umarmen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 19, 2017

Mit:
Bernie Glassman Roshi
Dr. Anna Gamma
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AUSGABE:
Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Heilung als Berührung

Wie hängen individuelle und kulturelle Prozesse der Heilung zusammen? Wie bedingen und unterstützen sie einander? Diese Fragen erforscht Anna Gamma seit vielen Jahren, auch auf Reisen in den Nahen Osten, die Philippinen, nach Bosnien und Nigeria. Wir sprachen mit der Psychologin und Zen-Meisterin über ein umfassenderes Verständnis von Heilung und dessen Relevanz für unsere Zeit.

evolve: Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen persönlicher psychologischer und spiritueller Entwicklung und der Tatsache, dass wir Teil von großen kulturellen Prozessen und auch deren Traumata und Schmerzpunkten sind. Wenn ich deine Arbeit richtig verstehe, versuchst du, die Beziehung zwischen diesen beiden Dimensionen zu verbinden: die persönliche Entwicklung und unser Eingebettetsein in ein großes kulturelles Ganzes. Ethische, politische, soziale Konflikte und kulturelles Trauma sind kollektive Prozesse, die sich auch in unseren Seelen widerspiegeln. Wie bist du dazu gekommen, diese zwei Dimensionen zu verbinden, und welche Erfahrungen hast du damit gemacht?

Anna Gamma: Das Interesse an der Verbindung dieser beiden Dimensionen unseres Menschseins geht zurück bis zu meinem Psychologiestudium. Schon damals habe ich verstanden, dass sich Menschen und Systeme nur von innen her transformieren können. Jeder einzelne Mensch ist ein System, aber wir sind eingebettet im Familiensystem, in Institutionen und in Kulturen. Ein weiterer starker Impuls waren meine jährlichen Studienaufenthalte in einem Slum auf den Philippinen. Wir beschäftigten uns mit der Frage, was auf unserem Planeten geschieht, aus der Perspektive materiell armer Menschen. Über die Jahre hat mich das einfache Leben im Slum für die globalen Strukturen geöffnet.

Die Berührung mit dem Fremden kann in uns eine Vielfalt wecken, die unsere Persönlichkeit fördert.

Das Eintauchen in die Kultur auf den Philippinen hat mich außerdem sehr verändert. Dort gibt es noch eine tiefe Verbindung zum magischen Bewusstsein. Alles schwingt und ist lebendig. An jeder Straßenecke gab es Marienerscheinungen. Sie wurden auch von Menschen gesehen, die eine hoch entwickelte mentale Intelligenz haben. Dieses selbstverständliche Miteinander von magischer Wahrnehmung und rationaler Intelligenz hat in mir zu einer inneren Öffnung geführt. Es war, als würde der Vorhang zur unsichtbaren Wirklichkeit zerrissen, was eine große Krise ausgelöst hat. Für mein mental geprägtes Weltbild waren die neuen Wahrnehmungen unzumutbar. So sah ich plötzlich in Menschen den ganzen kollektiven Hintergrund, nicht nur die Familiengeschichte, sondern wie das Schicksal dieser Familie sich im einzelnen Menschen manifestiert hat.

In der Begleitung von Menschen erfahre ich heute immer häufiger, dass sich kollektive Erinnerungen im Einzelnen zeigen, nicht nur die Familiengeschichte, sondern die Geschichte eines Volkes oder einer Nation. Deshalb musste ich Wege finden, um damit umzugehen und zu einer Heilung beizutragen. Es war mir ein Anliegen, nicht zuletzt um selbst gesund zu bleiben, einen Weg zu einer Bewusstheit zu finden, in der die Dunkelheit und der Schmerzkörper nicht das Letzte sind. In der christlichen Spiritualität und in der Spiritualität des Zen fand ich Hilfestellungen.

Bernie Glassman Roshi hat den Begriff »Bearing Witness« populär gemacht. Es ist eine Umformulierung einer uralten Praxis, in der zunächst der Anfängergeist geübt wird, d. h. allen Phänomenen wird mit einem weiten Geist begegnet – ohne einzuordnen, ohne zu verurteilen. »Bearing Witness« ist der zweite Schritt und bedeutet Mitgefühl. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wir müssen lernen, uns auch dem grenzenlosen Körper bewusst zu öffnen, denn wenn man individuell ein Trauma erlebt, meldet sich auch der kollektive Schmerzkörper. Es gibt für mich keine Heilung da draußen in der Welt, ohne dass ich selbst heiler werde. Und es hilft dem einzelnen Menschen, sich nicht singulär in einem Trauma zu erleben, sondern sozusagen das Feld dieses Traumas wahrzunehmen. Dann sind die Schritte der Heilung auch kollektive Schritte der Heilung. Ich habe zum Beispiel vor Kurzem mit einer Frau gearbeitet, bei der sich das Thema »Entwertung« zeigte. Das ist aber auch ein kollektives Thema – insbesondere in Deutschland als Schatten der Nazizeit. Wenn die entwertende Haltung sich oder anderen Menschen gegenüber nicht erkannt, integriert und transformiert wird, dann wird sie von einer Generation auf die nächste weitergegeben.

Ein dynamischer Prozess des Seins

e: Was bedeutet vor diesem Hintergrund Heilung für dich?

AG: Als Psychotherapeutin war ich schon früh mit jungen Mädchen konfrontiert, die zwischen Gefängnis, Straße und Klinik lebten. Ich war bestens ausgebildet, hatte aber nach kurzer Zeit den Eindruck, dass ich gar nichts weiß. Alle therapeutischen Techniken, die ich gelernt hatte, wurden mir aus den Händen genommen. Die Frage danach, was Heilung ermöglicht, löste einen neuen Erkenntnisprozess aus. Ich begann, mich mit Heilungsgeschichten, die von Jesus überliefert sind, zu beschäftigen. Dabei fiel mir auf, dass es immer Berührungsgeschichten sind. Jesus wurde für mich zur Inspiration. Ich begann, wach zu werden für Herzensberührungen. So bedeutet Heilung für mich heute auf der ganz personalen Ebene, auf der institutionellen Ebene und auf der globalen Ebene, in Berührung mit dem Schmerz zu gehen, ohne mich zu identifizieren. Es ist wichtig, nicht mit dem Schmerz zu verschmelzen, sondern in einer Haltung des teilnehmenden Gewahrseins präsent zu sein, ohne etwas zu tun, zu bewerten oder zu verurteilen. Dann kann Heilung geschehen.

Eine Heilung auf der individuellen Ebene hat immer auch Auswirkung auf die kulturelle Dimension und umgekehrt.

Seit einigen Jahren leite ich regelmäßig Studienreisen im Nahen Osten. In diesen Jahren sind einige Freundschaften zu Israelis und Palästinensern entstanden. Auf beiden Seiten sind Menschen verletzt. Fast täglich geschehen Übergriffe. Die Opfer-Täter-Dynamik ist allgegenwärtig. So kann ich gut verstehen, dass die eine Seite versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen und das andere Volk zu verurteilen. Damit ist jedoch niemandem geholfen. Unsere Aufgabe besteht darin, so weit zu werden, dass wir mit beiden Seiten verbunden bleiben können, ohne Anklage und Verurteilung. Oft ermöglicht unsere Haltung, dass eine Verständigung möglich wird und beide Seiten wieder beginnen, miteinander zu reden. Auch in uns Besuchern findet ein Lernprozess statt: Je mehr wir dem Fremden begegnen können, umso mehr wird unsere Persönlichkeit ausgeweitet. Die statische Persönlichkeit weicht einem dynamischen Prozess des Seins.

Wenn ich mit Orten konfrontiert werde, wo das Abgründige des Menschen offensichtlich ist, wo Grausamkeit, Gewalt und Bosheit geherrscht haben, habe ich erfahren, dass die Haltung von »BearingWitness« nicht ausreicht. Hier brauche ich andere Formen, die ich in der christlichen Tradition gefunden habe. Wir verbinden uns an den Orten des Schreckens mit dem göttlichen Licht. Für diese Praxis habe ich zusammen mit anderen Lichtmeditationen entwickelt. Es geht zunächst darum zu lernen, sich selbst zu schützen, denn niemandem ist damit gedient, wenn man im Elend oder im Entsetzen ertrinkt. In einem weiteren Ritual werden Opfer und Täter eingeladen, im göttlichen Licht zu stehen. Der Raum des Mitgefühls öffnet sich dabei gleichermaßen für Opfer und Täter. Durch diese rituelle Arbeit schaffen wir ein heilendes Feld, das Opfern und Tätern die Kraft und Freiheit gibt, sich durch Vergebung und Versöhnung vom Vergangenen zu lösen. Heilung kann man nicht machen, Heilung geschieht.

Die Angst vor dem anderen verlieren

e: Aus dieser Verbindung von persönlicher und kultureller Arbeit entsteht die Frage: Was kann ich persönlich für kulturelle Heilung tun? Und welche Bedeutung hat die Öffnung für die kollektive Dimension für mein persönliches Wachstum? Inwiefern braucht mich dieser kulturelle Heilungsprozess, und inwiefern kann auch ich nicht ganz ich selber werden, ohne mich wirklich auf diese kollektiven und kulturellen Dimensionen unserer Wirklichkeit einzulassen?

AG: Da jeder Mensch Anteil an einem größeren Ganzen hat, gibt es nur eine gemeinsame Entwicklung; eine Heilung auf der individuellen Ebene hat immer auch Auswirkung auf die kulturelle Dimension und umgekehrt. Es ist deshalb wichtig, dass wir lernen, Verschiedenheit zu wagen. Ich denke dabei ganz konkret an die heutigen Migrationsbewegungen oder die Globalisierung, die nicht mehr aufzuhalten ist. Der nächste Wachstumsschritt besteht darin, dass wir das Fremde, das Andere, nicht länger als Gefährdung unserer eigenen Identität verstehen und deshalb bekämpfen müssen. Vielmehr kann die Berührung mit dem Fremden in uns eine Vielfalt wecken, die unsere Persönlichkeit fördert. In diesem Prozess entwickeln wir innere Schönheit, innere Freiheit und auch innere Autorität. Die innere Freiheit wird uns in dem Maße genommen, wie wir uns vom Anderen, dem Fremden in und außerhalb von uns, abgrenzen müssen. Wenn wir diesen Schritt lernen, können wir miteinander auch neue, dem Leben dienende gesellschaftliche Strukturen finden und aufbauen.

Es gab kürzlich einen interessanten Artikel in der NZZ, in dem ein Historiker über die Dankbarkeit als Basis der Demokratie schreibt. Das finde ich sehr interessant. Ich habe das Konzept und die Erfahrung der Dankbarkeit bisher ausschließlich aus einer spirituellen Dimension verstanden. Dieser Historiker aber vertritt die Ansicht, dass Demokratie nur funktionieren kann, wenn wir lernen, dankbar zu sein, auch für unsere Vorfahren, auf deren Schultern wir stehen, auch wenn sie viele Fehler gemacht haben. Das ist heute besonders relevant, denn wenn wir uns selbst von unseren Wurzeln abschneiden, wird das Fremde stärker als Gefahr wahrgenommen. Aber wenn wir für unsere Kultur dankbar sind, sehen wir ihre Schönheit und ihren Reichtum. Wir werden frei, auch die Schönheit der Kultur anderer Völker zu sehen und uns daran zu erfreuen. Das ist ein nächster wichtiger Schritt: die Angst vor dem anderen zu verlieren und zu verstehen, dass das Fremde ergänzend sein kann. Das macht unsere innere und äußere Welt bunt und reich.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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