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Ist es möglich, Tragödie in Liebe zu verwandeln? Der Beginn der westlichen Kultur gründete auf Geschichten von Verlust und Trennung, die sich in jeder Generation in der sich in Kernfamilien entwickelnden Psyche der Kinder wiederholt. In ihrem Artikel zeigt Elizabeth Debold die Dynamiken, die das maskuline Männliche und das feminine Weibliche ausbilden – in ihrer scheinbaren Normalität verbergen sie ein Trauma, das an der Wurzel unserer Kultur liegt.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Geburt der westlichen Zivilisation in Griechenland mit der Geburt der Tragödie einhergeht. Die Kernmythen unserer Kultur sind Geschichten von Gewalt, Verlust und Trennung. Denken Sie nur an die Schrecken des Trojanischen Krieges oder an die mörderische Medea. Freud erklärte die Geschichte von Ödipus zur Kernerzählung der menschlichen Entwicklung im Westen: Ein Kind, dem prophezeit wird, seinen Vater zu ermorden, wird verlassen, gerettet und wächst heran, um tatsächlich seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Das ist die nette Zusammenfassung einer Geschichte, welche die meisten im Westen aufgewachsenen Menschen kennen. Aber nehmen wir uns einmal die Zeit, um diese Worte auf uns wirken zu lassen, um zu verstehen, wie merkwürdig brutal dieses psychische Muster eigentlich ist. Die amerikanische Psychologin Carol Gilligan bringt es in »The Birth of Pleasure« auf den Punkt: »Die grundlegenden Geschichten der westlichen Zivilisation sind Geschichten von traumatischen Erfahrungen.« Sie stellt eine Frage, die auch mich beschäftigt: Wie können wir dieses Trauma heilen oder wie können wir die Tragödie in Liebe verwandeln?
Gilligan antwortet darauf, dass wir unser grundlegendes Narrativ ändern müssen. Können wir eine neue Geschichte kreieren? Die Feststellung, dass dies nicht leicht sein wird, ist eine Untertreibung. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Wurzeln dieses Traumas untrennbar in alles hineinreichen, was wir als normal und richtig ansehen. Das bezieht sich besonders auf die Art und Weise, wie wir als Frauen und Männer leben. Weiblichkeit und Männlichkeit scheinen uns »natürlich« zu sein. Ich würde jedoch dagegen stellen, dass diese Teilung der Menschheit in zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von Menschen – den maskulinen Mann und die feminine Frau – Ausdruck des eigentlichen Traumas ist. Um die westliche Kultur zu heilen, müssen wir tiefer verstehen, wie die Geschlechteridentität durch die ständige Wiederholung dieses traumatischen Dramas wortwörtlich verkörpert wird. Erst dann kann eine neue Normalität entstehen: eine Geschichte der Liebe, die mehr ist als eine Liebesgeschichte.
Wie Jungen zu Männern werden
»Er ist einfach – er ist einfach – so unschuldig«, sagte mein Bruder über seinen ersten Sohn, als dieser kaum älter als zwei Jahre alt war. Das war der kleine Junge, den die meisten aufmerksamen Eltern kennen: Der dich tröstet, wenn du traurig bist, der über eine zerdrückte Spinne weint, der ältere Jungen mit unerschrockener Neugierde und Respekt anschaut, der so offen ist, dass sein Herz oft verletzt wird. An der Stimme meines Bruders erkannte ich, wie beeindruckt und gleichzeitig beängstigt er von der Unschuld seines Sohnes war. Voller Ehrfurcht vor der Würde und Menschlichkeit darin, so vermute ich, und auch erschrocken darüber, was dieser Unschuld passieren könnte. Als mein Neffe sechszehn Jahre alt war und Rugbyspieler werden wollte, kommentierte mein Bruder das folgendermaßen: »Er wird nicht hart genug trainieren können und wahrscheinlich auch noch weinen, um Himmels Willen.« Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Bruder Schwierigkeiten, mit den Gefühlen seines Sohnes umzugehen, und verstand nicht, woher seine Tränen kamen. Ihm war nicht klar, dass sein Sohn seine Gefühle nicht verdrängt hatte, wie die meisten Jungen es lernen. Und der Grund dafür hatte viel mit meinem Bruder zu tun.
Mein Bruder war die erste Bezugsperson für seinen Sohn. So eine Situation erleben tatsächlich nur wenige Jungen. Die Heldengeschichte der westlichen Kultur erzählt uns, dass man das Haus und die Nähe der Frauen zurücklassen muss, um ein Mann zu werden. Aber das ist mehr als nur eine Geschichte. Es ist die psychologische Wirklichkeit des Erwachsenwerdens in einer Kultur der Kernfamilien, die selbst eine Trennung von dem lebendigen Netzwerk von Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen ist, das die Familie in den meisten Kulturen unterstützt. In der modernen Welt bleiben die Frauen zuhause und die Männer nicht, entweder, weil sie arbeiten gehen oder weil sie ihre Familie wegen einer Scheidung oder vielleicht wegen einer Gefängnisstrafe verlassen haben.
Die zentrale Liebesgeschichte des Westens handelt von der Macht zwischen Ungleichen.
Stellen Sie sich vor, ein kleiner Junge zu sein, zwischen zwei und fünf Jahren alt, der versucht, herauszufinden, was es heißt, ein männliches Kind zu sein. Wir werden ja nicht geboren mit dem Wissen, was es heißt, ein »Junge« oder ein »Mädchen« zu sein. Wenn man ein frühreifes zwei Jahre altes Kind fragt, ob es lieber Mami oder Papi sein will, wenn es groß ist, neigt es dazu, beides sein zu wollen, abhängig davon, wie es sich gerade fühlt oder was es gerade will. Aber mit drei Jahren verstehen die meisten Kinder, dass die Antwort »beides« nicht funktioniert: Wenn du ein Junge bist, wirst du ein Mann und Vater, und wenn du ein Mädchen bist, wirst du eine Frau und möglicherweise Mutter.
Was tut also ein kleiner Junge, wenn er entdeckt, dass er nicht der gleiche ist wie die Person, die ihm zu essen gab, die ihm beim Anziehen half, die seine Kratzer verband und ihm die Tränen getrocknet hat? Wenn er zudem versteht, dass er seine Mutter nicht lieben und mit ihr für immer zusammen sein kann, weil er als kleiner Junge gegen seinen Vater kämpfen müsste, der ihm so groß erscheint? Das ist emotional überwältigend. Das Problem dabei ist, dass der kindliche Verstand in diesem Alter nicht sehr differenziert ist und zu einem Entweder-oder-Denken tendiert. Also fängt er an, seinen Vater zu imitieren – falls er präsent ist – und definiert sich selbst als das Gegenteil von weiblich, mütterlich, mädchenhaft. Plötzlich wird es eine tiefe Beleidigung, »Mädchen« genannt zu werden und die Einflussbereiche der Frauen wie das Zuhause werden seinem Selbstverständnis als Junge gefährlich. Und Jahre später liegt er als Mann neben der Frau, die er liebt, und kämpft mit der Zärtlichkeit in seiner Brust, weil er nicht weiß, wie er sie ausdrücken soll.
Gilligan beobachtet, dass die Kennzeichen von Verlust Idealisierung und Diffamierung sind, beides verdeckt Wut und Traurigkeit. Kleine Jungen erleben einen tiefen und oft unvollständigen Verlust in den Grenzen der Kernfamilie – die dem afrikanischen Sprichwort spottet, das sagt, dass man ein Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen. Frauen – als die Menschen, die sie sind – werden dann durch eine gebrochene Linse gesehen, geteilt in Heilige und Sünderin, Retterin und Verschlingende. Madonna und Hure, Emotion und Verstand, Körper und Geist, das Selbst und das Andere, Mann und Frau – es sind allesamt binäre Kategorien westlichen Denkens, die das Produkt der geteilten, männlichen Psyche sind. Diese innere Teilung, die aus dieser traumatischen Überwältigung in so verletzlichem Alter entstanden ist, wird durch eine Angst vor Verletzlichkeit aufrecht erhalten – eine Verletzlichkeit, die als »weiblich« und als »Tabu« codiert wird. Das ist klassische Männlichkeit. In diesem »Deal« bekommen Männer für die Verkörperung von Männlichkeit das Recht, der Mann, der Eine zu sein und für ihr aufopferungsvolles Mannsein geliebt zu werden. Da dieser Handel während der letzten fünfzig Jahre in sich zusammengebrochen ist, zieht seitdem die Wut der Männer und die darunter liegende Depression durch den Westen.
Wie Mädchen zu Frauen werden
Und wie sieht es bei den Mädchen aus? Kleine Mädchen entwickeln ebenfalls diese binären Begriffe von Junge/Mann und Mädchen/Frau. Da jedoch ihre engsten Beziehungspersonen während der Kindheit normalerweise wie sie selbst sind – weiblich –, erfahren sie oft nicht diesen überwältigenden Verlust wie die Jungen. Sie bekommen Schwierigkeiten in einem anderen Stadium: wenn sich ihr Geist und ihr Körper in der Pubertät verändern.
In der frühen Kindheit treten Mädchen in eine soziale Welt ein, die sich auch heute noch entlang der Linien des kulturellen Traumas bewegt, das die Psyche der Männer teilt. Wollen sie sexuelle und »böse« Mädchen oder reine, »gute« Mädchen sein? Obwohl die Frauenbewegung wichtige Schritte bei der Befreiung der weiblichen Sexualität erreicht hat, wurde diese Befreiung von der »Befreiung« der Pornografie im Mainstream begleitet. Das Ergebnis für junge heranwachsende Mädchen ist Angst – Angst davor, tief und authentisch in ihrem Körper zu leben. Der soziale Ausdruck dieser Angst ist das, was wir Weiblichkeit nennen: ein Dämpfen und Abtrennen der sexuellen Lust (sogar bei sexueller Aktivität), ein Verschwimmen der eigenen Identität und eine scharfe Wahrnehmung dafür, wie man die Erwartungen der anderen erfüllen kann.
Bevor aus unserer kollektiven Psyche eine neue Geschichte entstehen kann, müssen wir uns an einem Ort der Nichtgetrenntheit begegnen.
Stellen Sie sich vor, zwölf Jahre alt zu sein, die Brüste formen sich, die Menstruation beginnt. Plötzlich werden Sie angeguckt, bekichert und erwachsene Männer kommentieren Ihren Körper oder berühren Sie in unangemessener Weise. »In den vergangenen drei Jahren haben weiße Männer mich auf der Straße angeschaut«, schreibt Marguerite Duras in ihrem Klassiker »Der Liebhaber« über ein fünfzehn Jahre altes französisches Mädchen, das in Saigon lebt, »und die männlichen Freunde meiner Mutter haben mich höflich zum Tee eingeladen, während ihre Frauen im Sportklub Tennis spielten.« Es liegt Kraft darin – wenn ihr Körper sich entwickelt, kann das Mädchen Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber es ist immer riskant. Empfindet es jemand als Aufforderung zum Sex? Wird ein Mann so sehr angezogen, dass er nicht mehr zu stoppen ist? Und was ist mit dem Verstand, dem Geist, den Talenten des Mädchens – wer hat dafür Aufmerksamkeit?
Weiblichkeit ist eine traumatische Antwort auf eine Kultur, die auf dem Trauma der Männlichkeit aufbaut, das diese binären Unterschiede erzeugt. Weil aber Mädchen älter sind, wenn sie von dieser Trennung bedroht werden, und weil so viel kulturelle Arbeit aufgewendet wurde, um Platz für die Wünsche der Frauen zu machen, haben Mädchen oft mehr Möglichkeiten, um darauf zu reagieren. Hierbei hängt viel von den Familienkonstellationen ab. Gleichzeitig ist bei manchen Frauen die Angst vor ihrer körperlichen Verletzbarkeit sehr real, weil sie tatsächlich verletzt worden sind.
Das kulturelle Narrativ, das aus der Vermählung von Männlichkeit und Weiblichkeit entsteht, ist der klassische Liebesroman, eine literarische Form, die zuerst im frühen 18. Jahrhundert entwickelt wurde, als die westliche Kultur die Moderne gebar. Von »Die kleine Meerjungfrau« über literarische Klassiker wie »Sturmhöhe« von Emily Brontë bis zu historischen romantischen Groschenromanen vermischen diese Geschichten oftmals Selbstaufopferung, Abhängigkeit und sogar Vergewaltigung mit der Leidenschaft der romantischen Liebe. Diese zentrale Liebesgeschichte des Westens handelt von der Macht zwischen Ungleichen – ein Narrativ, das mit dem Aufstieg des Feminismus seinen Inhalt verloren hat.
Autonomie und Verbundenheit
Meine Kurzdarstellungen sind kaum mehr als breite Pinselstriche, die der Resilienz und der integrativen Bewegung der menschlichen Psyche nicht gerecht werden. Wobei sich der Mensch meist immer wieder in Situationen begibt, die dem ursprünglichen Verlust gleichen – in dem Versuch, ihn zu überwinden. Aber vielleicht übertreibe ich auch etwas: Ist das wirklich ein Trauma? Werden Traumen nicht durch Gewalt oder Krieg ausgelöst? Traumen treten auf, wenn die Fähigkeit eines Menschen, auf Bedrohungen seines Lebens oder seiner Integrität zu antworten, überwältigt wird und er es nicht verhindern kann. Die Wissenschaft weist auf die größere psychologische Verletzlichkeit von Jungen in der frühen Kindheit hin (Stottern, Lernprobleme, Ausagieren wilder Wut), während Mädchen in der Adoleszenz verletzlicher scheinen (Depression, Selbstverstümmelung, Essstörungen).
Nach Ansicht von Robert Kegan bewegt sich die menschliche Entwicklung im Westen zwischen zwei rivalisierenden psychischen Kräften, dem Wunsch nach Verbindung und nach Autonomie. Er geht davon aus, dass Männer aus der Kindheit die Angst vor erfolgloser Verbindung mitbringen und Frauen Angst vor dem Verlust ihrer Unabhängigkeit haben (weil es ihnen so schwerfällt, sich von der Mutter abzugrenzen). Somit legen Männer zu viel Aufmerksamkeit auf Unabhängigkeit und Frauen auf die Verbundenheit – »als eine Art Trostpreis für die fehlende Hälfte ihrer Dualität«. Diese »fehlende Hälfte« ist das Merkmal der Spaltung und Teilung, die den Kern eines traumatischen Verlustes bilden. Dieser grundlegende Verlust der Ganzheit ist so tief, weil er durch die Menschen ausgelöst wird, die die Kinder am meisten lieben – die Eltern.
Eine neue Geschichte
Können wir im Westen ein neues kulturelles Narrativ entwickeln, das die Ganzheit jenseits der durch die Geschlechter geprägten Trennung zwischen Autonomie und Verbundenheit unterstützt? Ich denke nicht, dass solch ein Narrativ als nächster Schritt aus dem Feminismus oder der Männerbewegung entstehen wird, weil beide zu sehr die Gegensätze und das »Anderssein« betonen. Es wird erst möglich sein, wenn die Ganzheit selbst in uns und unserer Kultur lebendig wird. Bevor aus unserer kollektiven Psyche eine neue Geschichte entstehen kann, müssen wir uns an einem Ort der Nichtgetrenntheit begegnen: in unserem gemeinsamen Menschsein, im Urgrund des Seins, den wir alle miteinander teilen und in dem offenen Raum, in dem wahrer Dialog lebendig wird. Aus dieser Perspektive heraus können wir hinterfragen, wie wir die Arbeit und das Familienleben strukturieren, was wir als »normal« für Frauen und Männer sehen und wer die Erziehung der Kinder übernimmt. Erst dann – und nur dann – können wir im Westen der Welt eine neue und heilsame Geschichte des menschlichen Potenzials anbieten.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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