Dem Leben eine Stimme geben

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

October 19, 2016

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Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
Was können wir tun?
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Globale Vernetzung, mächtige Algorithmen und Zeichen für einen neuen Aktivismus

Das Engagement für sozialen Wandel wie wir es heute kennen ist in unserer Kulturgeschichte entstanden und steht heute in einer vernetzten Welt vor einem weiteren Umbruch. Welche Rolle spielt dabei die Entwicklung einer neuen Bewusstseinskultur?

Sonntagnachmittag – wieder einmal sitze ich an meinem Computer. Ich bin mit Menschen rund um den Globus in einer gemeinsamen Videokonferenz unseres Onlineseminars »One World in Dialogue« verbunden. Mein Bildschirm sieht aus wie ein lebendes Mosaik, ein Fenster in verschiedene Teile der Welt – die Philippinen, Taiwan, Indien, Afrika, Europa, die USA. Wir sehen Menschen aus all diesen Ländern und Kontinenten direkt ins Gesicht. Eine Frau aus den Vereinigten Staaten spricht darüber, wie sich durch unsere Begegnungen am Bildschirm ihr Verhältnis zu den Nachrichten völlig verändert hat. Die Nachrichten aus den Philippinen, über die Mordwelle an Drogenabhängigen, zu denen dort der neue Präsident aufruft, haben für sie eine persönliche Dimension bekommen. Unsere philippinischen Freunde – beide hören gerade auch am Bildschirm zu – haben diesen Nachrichten von der anderen Seite der Welt ein Gesicht gegeben. Über die Monate sind wir in diesem Seminar globale Freunde geworden, die miteinander in einem lebendigen Austausch stehen.

Ein anderer Teilnehmer spricht über die tiefe Seelenbeziehung, die er mit jedem in dieser Gruppe empfindet. Er hat noch niemanden von uns persönlich getroffen, aber die gemeinsame Zeit am Bildschirm bedeutet ihm viel. Diese Seelenverbindungen über das Internet sind für uns wichtig und bedeutsam geworden. Als würde sich hier eine neue Welt auftun.

¬ Die Geburt des Internets greift tiefer in unsere menschliche Identität, als wir vielleicht meinen. ¬

Ein wenig später sehe ich auf meinem Facebook-Feed ein­ Video über Homs. Die Kamera zieht über die wüste Landschaft einer zu Tode gebombten Stadt. Bilder von Dresden 1945 steigen in mir auf. In dieser Todeszone gibt es kein Leben mehr. Das Video wird sarkastischerweise von Russian Today, dem russischen Propagandasender verbreitet, von jenem Land, das der syrischen Regierung dabei hilft, Syrien in Schutt und Asche zu legen.

Ich schließe Facebook, und halb verdeckt von meinen Dateien und Ordnern erscheint das Hintergrundbild meines Bildschirms. Es ist ein Bild des Dachsteingebirges in den österreichischen Alpen, einer meiner »besonderen Plätze« auf dieser Welt. Nur das Foto auf meinem Bildschirm entspricht nicht mehr ganz dem Dachstein, wie er sich heute zeigt. Seine Gletscher schmelzen. Sein funkelndes Eis war für mich schon als kleines Kind eine verzauberte, himmlische Welt. In 20 Jahren wird es den Dachsteingletscher nicht mehr geben.

Was können wir tun? Diese Frage verfolgt wahrscheinlich die meisten sensitiven und aufgeschlossenen Menschen. Ja, wir sind heute alle durch das Internet verbunden. Auch die Myriaden fast unlösbarer Probleme, welche die Menschheit und unsere Biosphäre fest im Griff halten, verbinden uns. Viele Menschen haben sich in den letzten Jahren den inneren Dimensionen unserer menschlichen Transformation gewidmet. Kann das, was wir dabei gelernt haben, uns heute helfen, mit der Welt anders umzugehen? Und die sozial engagierten Menschen unter uns, die sich vielleicht seit Jahrzehnten als Aktivisten für eine andere Welt einsetzen – sind die Denkweisen, die Modelle, die wir verwenden, um den Wandel zu erreichen, heute noch angebracht? Es gibt keine einfachen Antworten.

Vom Untertan zum Bürger

Vielleicht hilft ein frischer Blick auf die Geschichte der sozialen Bewegungen. Denn ein politisches Bewusstsein wie wir es heute für selbstverständlich nehmen, gibt es noch gar nicht so lange. Bis weit in das Mittelalter hinein waren Politik und Religion nicht voneinander getrennt. Kaiser und Papst waren beide von Gottes Gnaden und Deutschland war ein Heiliges Römisches Reich. Im Mittelalter gab es soziale Proteste, aber sie kamen immer in der Form religiöser Bewegungen. Auch Martin Luthers Reformation war religiös und politisch zugleich. Die Reformation war ein Aufstand gegen Kaiser und Papst. Und sie war ein Übergang in etwas Neues. Mit Martin Luther begann die Trennung von weltlicher Herrschaft und Religion.

Im Zentrum von Luthers Lehre stand die »Freiheit des Christenmenschen«, die er 1520 in Wittenberg verkündete. Mit ihm wurde der christliche Glaube persönlich. In seiner Spiritualität standen nicht mehr Kirche und Tradition im Mittelpunkt, sondern die persönliche Beziehung zu einem persönlichen Gott. Luthers Satz, »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan«, wurde auch bald zu einem der Auslöser des Deutschen Bauernkriegs. Luther war vehement gegen diesen Aufstand. Er verfolgte die rebellischen Bauern mit harschen Worten und wurde so zu einem Mitbegründer einer rein weltlichen Herrschaft der deutschen Fürsten.

Doch seine »Freiheit des Christenmenschen« sollte Geschichte schreiben. Der Übergang vom Mittelalter zur Moderne war ein Übergang vom Untertan zum Bürger. Dieser Übergang begann in den freien Städten. Es folgten Staaten wie Holland und die Schweiz, bis sich das freie Bürgertum in ganz Europa ausbreitete. Die Idee der Menschenrechte begann in England. Mit der Magna Charta trat der englische König einige seiner »gottgegebenen Rechte« zuerst an seine Fürsten ab, später auch an die »niederen Stände«. Die Magna Charta war der Anfang der Menschenrechte in Europa. Mit der Französischen Revolution triumphierten die freien Bürger über die Obrigkeit. Das Parlament wurde zur neuen Tribüne des bürgerlichen Engagements in einer freien Gesellschaft. Damals entstand der politische Aktivismus, wie wir ihn heute noch kennen. Aber gleiche politische Rechte bedeuten noch lange nicht gleiche soziale Rechte. Mit Marx und Engels wurde auch die »soziale Frage« der Lohnabhängigen zu einer neuen Bewegung. Wir sind Menschen und Bürger, mit Menschen- und Bürgerrechten. Das war die große Errungenschaft der europäischen Moderne.

In den 60er und 70er Jahren entstand eine neue Form des Aktivismus. Mit dem Fernsehen kamen damals Vietnam und Latein­amerika in Haus. Die Militärjunta in Argentinien oder der Bombenkrieg in Vietnam wurden zu einem Teil unserer täglichen Wirklichkeit. Die ehemaligen europäischen Kolonien fanden ihre eigene Stimme. Und eine neue Frauenbewegung stellte viele selbstverständliche Normen infrage. Schwule und Lesben ließen sich nicht mehr einfach ausgrenzen und mit den neuen, großen ökologischen Fragen meldete sich die Natur selbst zu Wort. Soziales Engagement wurde komplex und vielfältig. Was früher eine einfache Frage nach gleichen Menschenrechten war, wurde zu einem bunten Kaleidoskop sehr vielfältiger auch widersprüchlicher Formen des Aktivismus. Der Philosoph Jürgen Habermas prägte damals den Begriff der neuen Unübersichtlichkeit.

Verloren in der Algorithmenwelt

Heute hat sich die Unübersichtlichkeit vervielfacht. Die Geburt des Internets greift tiefer in unsere menschliche Identität, als wir vielleicht meinen. Der Individualismus, der sich in den langen Zeiträumen der europäischen Geschichte herausgebildet hat, überhöht sich heute in neuen Formen des Hyperindividualismus und gleichzeitig beginnt er sich in einer neuen Form der Netzwerk-Identiät auch wieder aufzulösen. Sind wir noch Individuen oder mehr menschliche Knotenpunkte einer sich radikal ausbreiteten Facebook-, Google-, Amazon-Welt? Wer weiß besser, welche Bücher ich eigentlich lesen möchte? Ich oder der Algorithmus von Amazon, der seit Jahren meine Vorlieben studiert und mir nun täglich zu zeigen versucht, welche Vorlieben ich habe? Wie sehe ich eigentlich die Welt? Auf meine ganz persönliche Art oder auf die ganz besondere Art der Facebookwelt, die sich um mich gebildet hat, eine Mischung aus einem mit mir konformen Freundes- und Bekanntenkreis, in dem sich ähnliche und verwandte Sichtweisen wie in einem neuen, globalen Spiegelkabinett selbst bespiegeln? Es wird sehr leicht zu glauben, mein algorithmisches Spiegel­kabinett sei die Welt.

Der Aktivismus der sozialen Bewegungen von­Martin Luther, über die Französische Revolution bis zu den sozialen Bewegungen der 70er Jahre lebte davon, dass die Bewegungen ein klares Gegenüber hatten, mit dem sie im Widerstreit lagen – die katholische Kirche, König und Adel, das Großkapital. Dieses Gegenüber entflieht uns heute. Der Film »Matrix« war auch deshalb so ein kultureller Erfolg, weil er unsere Befürchtungen widerspiegelte, dass wir zu Knotenpunkten in einem großen, sich immer mehr selbst steuernden Datennetz geworden sind. Selbst Wall Street ist Teil der Matrix.

Micah White, einer der Begründer von Occupy Wall Street beschreibt in seinem Buch »The End of Protest«, dass die Protestbewegungen heute oft nicht mehr so wirksam sind, wie man es erwarten würde. In der globalen vernetzten Wirtschaft entflieht uns das Gegenüber. Sitzt es noch in Silicon Valley oder pulsiert es, den eigenen Algorithmen folgend durch die großen Daten-Highways der Welt? Wenn der politische Spielraum der gewählten Regierungen dahinschmelzt, gegen wen richtet sich der Protest? Natürlich gibt es die Nutznießer des Systems, aber in vielen Entscheidungen sind auch sie Getriebene.

¬ Bewusstseinskultur ist ein Beitrag, um uns nicht in den Algorithmen zu verlieren. ¬

Der Internet-Philosoph Jaron Lanier spricht auch von der Ironie, dass wir als Konsumenten uns darüber empören, dass der amerikanische Geheimdienst NSA (und andere) weltweit unsere Daten abhört. Wir fühlen uns in unseren Persönlichkeitsrechten verletzt, wenn unsere intimsten Emails mitgelesen werden. Gleichzeitig überlassen wir freiwillig unsere persönlichsten Informationen den weltweit sammelnden Internetfirmen, die uns in manchen Bereichen langsam besser kennen, als wir uns je gekannt haben.

Anwälte des Lebens

Und doch gibt es Proteste und soziales Engagement, manchmal auch sehr erfolgreich. In den USA wurde gerade ein großes Öl-­Pipeline-Projekt vorläufig gestoppt, weil die indigenen Völker Nordamerikas sich zum ersten Mal seit über hundert Jahren im Protest zusammengetan haben, um ihr Trinkwasser am Missouri und die »heiligen Stätten der Ahnen« der Sioux gegen die Interessen der Ölindustrie zu verteidigen. Seit Jahren entsteht, auch vernetzt über das Internet, eine globale Bewegung der indigenen Völker, die weltweit aktiv ihren Lebensraum und die Biosphäre verteidigen. »Der Spiegel« berichtete gerade vom indigenen High-Tech-Widerstand gegen die Rodung des Regenwalds in Borneo. Es scheint heute ein rasant zunehmendes Bewusstsein dafür zu geben, dass unsere­Erde nicht nur eine Ressource, sondern selbst ein lebendiger Organismus ist. In der weltweit pulsierenden Kommunikation verbindet sich dieses neue Verständnis von unserem Planeten auch mit den heiligen Mythen der Erde, welche die wenigen überlebenden Naturvölker bis heute pflegen.

»Die Zeit« schrieb unlängst, dass sich heute »weltweit die größte Studentenbewegung seit 1968 formiert. An über hundert Universitäten in den USA toben die Proteste.« Es gibt also eine neue Protestbewegung. Micah White gehört zu dieser jungen Generation der Aktivisten. Er ist auch ein gutes Beispiel für viele, die in dieser neuen Bewegung ihre Philosophie und Sozialkritik auch mit neuen Formen der Spiritualität verbinden. Gibt es vielleicht einen besonderen Beitrag von jenen Menschen, die sich seit vielen Jahren mit Meditation und innerer Transformation beschäftigen, für das heute so drängende neue soziale Engagement?

Die Welt ist nicht nur der Puls der Finanz- und der Daten­industrie. Sie ist zuerst und zuletzt der Puls eines großen Lebensfeldes, das sich über unseren Planeten, vielleicht auch über den ganzen Kosmos spannt. Können wir zu Anwälten dieses globalen Lebensfeldes werden?

In einem der Gärten in der Nähe unseres Hauses besitze ich einen kleinen Bienenstock. Ich lasse meinen Bienen im Herbst ihren Honig. Einerseits mache ich das, weil die Honiggewinnung bei der Bienenhaltung die meiste Arbeit macht. Aber der Honig war auch nicht der Grund, warum ich mit der Bienenhaltung begonnen habe. Die Obstbäume und die Wiesen rund um uns brauchen dringend Bienen und unsere Bienen sind – wie so vieles – in Gefahr. Und es ist eine Freude, den Bienen zuzuschauen, sich von ihrem Wesen berühren zu lassen. Der deutsche Philosoph der Leben­digkeit Andreas Weber spricht darüber, wie wichtig es für unser Überleben ist, dass wir die Welt berühren und dass wir uns von der Welt berühren lassen.

Wenn ich meine neuen Freunde in unseren globalen Videokonferenzen treffe, träume ich von einer Vielzahl globaler Bewusstseins- und Beziehungsnetze, nicht getragen von Algorithmen, sondern von bewusster Begegnung. Teilhard de Chardin sprach von einer neuen lebendigen Noosphäre, von einem globalen Bewusstseinsfeld, das wir gemeinsam kultivieren müssen. Bewusstseinskultur ist ein Beitrag, um uns nicht in den Algorithmen zu verlieren. Sie entsteht zum Beispiel in Meditationszentren, in Ökodörfern und Transition-Towns – und manchmal auch auf einer globalen Videokonferenz. Ich bin gespannt, welche Formen eines neuen Aktivismus aus ihnen noch entstehen.

Flying Bees on Ellsworth Street, London, Jim and Louis.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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