Der Alltag als Geheimnis

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

October 29, 2014

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Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
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Über den Film Boyhood

Der geniale russische Regisseur Andrej Tarkowskij schrieb einmal, dass für ihn der ideale Film daraus bestehen würde, dass man das Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod aufnimmt – um dann aus diesen Millionen Metern Film einen 90-minütgen Film zu machen. Tarkowskijs kaum zu verwirklichende Vision cineastischer Perfektion hat durch Richard Linklaters bahnbrechendes Werk Boyhood einen kräftigen Schritt in die Manifestation getan. Der Film kam Anfang des Jahres nach 12 Jahren Arbeit heraus und folgt dem Leben von Mason Evans Jr. vom sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr, gespielt wird er dabei vom Schauspieler Ellar Coltrane. Wir sehen also nicht nur, wie Coltrane sozusagen in Echtzeit aufwächst, sondern verfolgen auch, wie die Schauspieler, die seine Familie spielen, altern und sich im Laufe der 12 Jahre verändern. In Übereinstimmung mit Tarkowskijs Vision ist das Ergebnis eine Skulptur, die aus sorgfältig ausgewählten Momenten des Lebens eines Menschen besteht, die die universelle Würde (und das Geheimnis) des Erwachsenwerdens einfangen.
Boyhood ist erfüllt von einer transzendentalen Erhabenheit, aber diese Kraft bildet sich im Hintergrund durch die übergreifende Geschichte und weniger durch bestimmte Szenen. Tatsächlich besteht der Film vor allem aus ziemlich alltäglichen Szenen und Momenten, mit denen viele Menschen in ihrer Jugend zu tun haben: der erste Schultag, die Auseinandersetzung mit geschiedenen Eltern, die erste enttäuschte Liebe, der Abschied von zuhause und der Beginn des Studiums. Mit Ausnahme einer schmerzhaften Sequenz, in der es um Masons gewalttätigen Stiefvater geht, gibt es kaum dramatische Konflikte oder Leiden. Das Aufregende an dem Film ist seine vielschichtige Wiedergabe des Prozesses, durch den die Protagonisten (und die Schauspieler) körperlich und energetisch von der Kraft der Zeit selbst transformiert werden. Und das bedeutet weitaus mehr, als allein das Altern des Körpers. Der Film ist ein Zeugnis der Beziehung zwischen der Entwicklung unserer innersten Essenz und dessen Ausdruck durch unser körperliches Dasein.

Boyhood ist erfüllt von einer transzendentalen Erhabenheit.


Mason ist zwar der wichtigste Charakter des Films und wie der Titel des Films schon sagt, ist er vor allem eine Feier der Jugend, aber Masons Erwachsenwerden kann nicht von den wichtigen Beziehungen getrennt werden, die er mit den Begleitern auf dieser Reise hat. Langsam, aber dann scheinbar doch ganz plötzlich, wird der neugierige Junge vor unseren Augen zu einem nachdenklichen und glühenden jungen Mann. Wenn man dieses Wachsen von Mason (und dem Schauspieler Coltrane) miterlebt, beobachtet man etwas Geheimnisvolles. Wir sehen die menschliche Entwicklung als einen ständigen Dialog zwischen der reifenden Individualität und all den unzähligen Einflüssen, die das Leben für uns bereithält.
Neben Mason durchlebt wohl sein Vater, der von Ethan Hawke gespielt wird, die tiefste Transformation. Die körperliche Veränderung ist natürlich subtiler als bei Mason/Coltrane, aber im Laufe der 12 Jahre sehen wir, wie sich sein Vater langsam von einem jungen und unverantwortlichen Mann zu einem geerdeten und liebevollen Beistand für seinen Sohn entwickelt. In den meisten Filmen wäre diese Verwandlung des Charakters formelhaft, in Boyhood erscheint sie fast kosmisch! Was bringt einen Menschen dazu, mehr mit sich in Frieden zu sein und diese Energie dann großzügiger mit anderen zu teilen? Wir verfolgen diese unbeschreibliche Alchemie im Handeln des Vaters, wobei wir es gleichzeitig als ein Strahlen wahrnehmen, das seinen Körper zu durchdringen scheint.
Boyhood hat eine Spielzeit von fast drei Stunden, die aber wie im Fluge vorübergehen. Wie eine Ahnung der Vision Tarkowskijs inspiriert er uns, dieses tiefreichende Abenteuer genauer zu betrachten: einfach am Leben sein.

Author:
Kenzo An
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