Der Kosmos in uns

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 23, 2015

Mit:
Jeff Carreira
Andrew Cohen
Gautama Buddha
Laotse
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Zu den Anfängen einer neuen kulturellen Praxis

In diesem Dialog spricht evolve-Herausgeber Thomas Steininger mit Jeff Carreira über die Bedeutung von Wir-Räumen für unsere Bewusstseinsentwicklung. Basierend auf eigenen Erfahrungen in spirituellen Gruppenprozessen untersuchen sie die Merkmale und Qualitäten tiefer Wir-Erfahrungen.

Thomas Steininger: „Wir-Räume“ ist heute ein geläufiger Begriff. Es gibt viele praktische Experimente damit. Was unterscheidet deiner Meinung nach diese Experimente mit Wir-Räumen von anderen Gruppen- und Dialogformen?

Jeff Carreira: Diese neuen Wir-Praktiken zeigen ganz neue Möglichkeiten, die zwischen uns sichtbar werden. Ein „Wir“ bezieht ja mehrere Leute ein, und der „Raum“ bezeichnet das, was zwischen ihnen stattfindet. Wir alle kennen die Erfahrung, dass man in einer bestimmten Gruppe von Menschen in einer bestimmten Weise anwesend ist, und dass sich in dieser Konstellation bestimmte Besonderheiten – Gespräche, Gedanken oder Gefühle – zeigen. Wenn wir uns in eine andere Gruppe bewegen, nehmen wir uns selbst und das Leben auf einmal ganz anders wahr. Wir haben gelernt, uns als isolierte, getrennte Wesen zu verstehen. Wir meinen, wir bleiben die Gleichen, wenn wir uns in unterschiedlichen Umfeldern befinden. Aber es ist eine Tatsache, dass unser Potenzial, auf etwas zu antworten, immer davon abhängt, mit wem wir gerade zusammen sind.

TS: Ja, und das wird in der Wir-Praxis besonders sichtbar. Der Wir-Raum ist älter als das Ich. Wir beginnen unser Leben im Wir-Raum unserer Eltern. Und auch als Menschheit waren wir zuerst unser Clan. Erst später wurden wir zu Individuen in unserem heutigen Sinn. Und auch wenn wir unser Leben heute als Erwachsene ansehen, leben wir in Wir-Räumen, die immer schon da sind. Wo immer wir in Beziehung sind, leben wir in einem Wir-Raum. Die neuen Formen der Wir-Raum-Praxis erlauben uns, diesen Raum auf eine neue Weise wahrzunehmen und zu erforschen. Der Raum selbst rückt ins Bewusstsein. Diese Praxis erlaubt uns, dass wir uns auf etwas beziehen, das immer schon da war, aber wir nahmen es nicht direkt wahr. Wir sehen etwas, das uns zuvor entgangen ist. Und dann geschieht in den verschiedenen Wir-Praxis-Formen noch etwas: Dieser Bewusstseins-Raum bekommt eine besondere Bedeutung für uns. Er wird uns ein eigenes Anliegen.

Der Wir-Raum bringt uns zu Bewusstsein, dass die Wirklichkeit tatsächlich eineständige Entfaltung ist.
JeffCarreira

JC: Ja, wir verstehen, dass wir tatsächlich mit diesen Wir-Räumen arbeiten und sie gestalten können; aber wir arbeiten nicht nur mit den Inhalten, sondern mit dem Raum selber. In den kommenden Jahrzehnten werden wir unendlich viele Variationen entdecken, wie wir Wir-Räume gestalten können. Dabei werden wir erfahren, dass wir beide Seiten der Gleichung beeinflussen können. Wir können sowohl die innere Erfahrung des unabhängigen Individuums beeinflussen als auch die kollektive innere Erfahrung, die immer mit ihr im Austausch ist.

Kollektives Bewusstsein

TS: Wir teilen eine bestimmte Form der Arbeit mit Wir-Räumen, die wir in der spirituellen Gemeinschaft EnlightenNext mit Andrew Cohen entwickelten, dessen Schüler wir beide waren. Wie würdest du die Wir-Räume beschreiben, mit denen wir während dieser Zeit experimentierten?

JC: Ich denke, wir versuchten herauszufinden, wie spirituelles Erwachen im Zusammenkommen von Menschen aussehen könnte. Wir waren Teil einer spirituellen Gemeinschaft und erfüllt von der Sehnsucht nach spirituellem Erwachen. Aber wir versuchten auch herauszufinden, ob diese Bewusstwerdung des Einzelnen eine Entsprechung im Wir-Raum hat, ein kollektives Erwachen, das sich zwischen Menschen ereignen könnte. Wir experimentierten mit dieser Wachheit in einem gemeinsamen Raum, der zwischen Individuen gehalten wurde. Die Vision war, dass ein spirituell waches Bewusstsein des Einzelnen in einer Gruppe gehalten und schließlich in der Gruppe sichtbar werden kann.

TS: Auf dem Weg dorthin hatten wir über Jahre viele Gruppen-Meetings, in denen die Erkundung dieses Bewusstseins-Raumes oft einfach nur schwere Arbeit war. Man lernt in diesen langen Meetings auch all die Seiten in sich kennen, die einem sich frei entfaltenden Bewusstsein im Weg stehen: unsere Wichtigtuerei, intellektuelle und persönliche Fixierungen, oft auch nur mangelnde Aufmerksamkeit. Es dauerte lange, bis zwischen uns etwas entstand, das ich als einen großen, kreativen, ja explosiven Bewusstseins-Raum bezeichnen würde, der uns alle damals tief erschütterte. Aber das war noch alles andere als stabil.

Wir können den Raum des gemeinsamen Nicht-Getrenntseins entdecken und gemeinsam gestalten.
Thomas Steininger

JC: Am Anfang hatten wir lediglich ein Konzept von kollektivem Erwachen. Aber aufgrund der Ernsthaftigkeit und auch der Intensität, mit der wir diese Arbeit verfolgten, hatten wir blitzlichtartige Eindrücke tatsächlicher Erfahrungen eines tief wachen Bewusstseins zwischen uns. Aber zuerst verschwand es viele Male wieder wegen all dem, was du beschrieben hast. Es brauchte eine lange Zeit, bis es stabiler wurde.
Und die besondere hierarchische Struktur einer Lehrer-Schüler-Beziehung, in der wir damals waren, und durch die auch diese Intensität entstand, machte zwar solche Durchbrüche möglich, aber diese Struktur war nicht dafür geeignet, dass sich ein solches bewusstseins-waches Wir auch entfalten konnte. Das ist einer der Hauptgründe, warum unser Experiment in EnlightenNext zu einem Ende kam und einige von uns, die daran beteiligt waren, heute diese Arbeit in offener Form weiterführen.

TS: Ja, wir versuchen beide, eine Synthese von Wir-Räumen und reifer Individualität zu finden. Diese Synthese ist es, was ich heute unter einem höherem Wir-Raum verstehe. Das geht nicht in einer Pyramidenstruktur. Damit dieser erwachte höhere Wir-Raum aufblühen und sich entfalten kann, braucht es starke unabhängige Menschen, die sich aus innerer Freiheit für Nicht-Getrenntheit entscheiden. Ein Höheres Wir ist nach meinem Verständnis eben kein einfaches Gruppen-Wir.

Meditatives Bewusstsein

TS: An dieser Stelle sollten wir vielleicht auch klären, was wir unter dieser Erfahrung von Higher We meinen. Auf eine Weise ähnelt es einer tiefen Meditationserfahrung und dem Potenzial, in diesem Zustand mit anderen Leuten zusammen zu sein. Tiefe Meditation ermöglicht diese befreiende Erfahrung einer Grenzenlosigkeit, jenseits aller Inhalte des Bewusstseins. In gleicher Weise können sich Menschen auch der Tatsache bewusst werden, dass sich alle spezifischen Aspekte ihres Zusammenseins im Bewusstsein selbst ereignen. Ein Bewusstsein von Grenzenlosigkeit ist die Mitte oder Grundlage dieses Wir. Gleichzeitig ist es wichtig, sich aller individuellen Besonderheiten, der unterschiedlichen Meinungen und Interessen, bewusst zu sein. Aber all das wird in einem offenen Bewusstseins-Raum gehalten, der sich zwischen uns auftut.

JC: In der Meditation erwachen wir zu einer umfassenderen Wahrnehmung unseres Selbst. Wenn du wirklich deine normalen Denkmuster loslässt und in die Wahrnehmung des reinen Seins sinkst, bemerkst du: Oh Gott, in Wirklichkeit bin ich DAS. Ich bin dieser Grund bewussten Gewahrseins. Ich bin nicht nur das Individuum Jeff, ich bin etwas viel Größeres. Und wenn ich in einen intersubjektiven Raum eintrete, bemerke ich, dass ich ein kollektives Wesen bin. Ich schaue tatsächlich mit den Augen des kollektiven Bewusstseins, das zwischen uns gehalten wird. Du erwachst zu dir selbst als kollektives Wesen, das du schon immer warst.

TS: Diese Erfahrung kann die eigene Identität tief greifend verändern. Etwas Unbekanntes und Ungeteiltes zwischen uns wird Teil dessen, wer wir sind. Das macht diese Erfahrung so bedeutend für mich, denn sie wirkt nach. Wenn sich etwas wirklich Ungeteiltes in der Intersubjektivität öffnet, dann existiere ich in einem viel tieferen Sinn, als ich es in meiner normalen Identität wahrnehme. Für mich wurde diese Erfahrung zu einem wichtigen Referenzpunkt, der mein ganzes Leben veränderte.
Aber der Begriff Wir-Raum bereitet mir auch Schwierigkeiten. Denn es geschieht zwar im Wir-Raum, aber es geht dabei nicht um diese bestimmte Gruppe von Menschen. Die tiefste Erfahrung in einer Gruppe, mit der wir intensiv arbeiten, ist eigentlich nur ein Tor in diese Offenheit. Wenn wir sie mit der Gruppe identifizieren, verlieren wir sie. Dann steht die Gruppe im Zentrum, aber damit verzerren wir die Natur des bewusstseinswachen Bewusstseins, das sich gezeigt hat. Die Gruppe ist letztendlich nur ein Tor in etwas Universelles.

Radikale Inklusivität

JC: Ich glaube, das ist wirklich wichtig – das Wir ist ein Tor. Wir befinden uns in einer bestimmten Konfiguration von Menschen, werden aber in etwas Universelles getragen. Meiner Ansicht nach endet dieser kollektive Raum auch nicht an den Grenzen der menschlichen Spezies oder der Lebewesen überhaupt. Wir erkennen, dass alles, die gesamte Umwelt, unsere Erfahrung formt: Menschen, Tiere und physische Objekte. Wenn man das immer weiter ausdehnt, schließt man am Ende alles mit ein, denn es gibt keinen Ort, an dem man eine Linie ziehen und irgendetwas ausschließen könnte.
Viele spirituelle Praktiken, wie Meditation, bringen uns an einen Ort radikaler Exklusivität, in der wir alle Bewusstseinsinhalte loslassen, bis man in einen Ort tiefer Einheit fällt. Die Praktiken des Wir-Raums neigen von Natur aus eher zur Möglichkeit einer radikalen Inklusivität, in der man mehr und immer mehr umschließt, bis es im Grunde nichts mehr einzuschließen gibt. Das ist die Einheit am anderen Ende des Spektrums, die ebenso absolut ist und nichts ausschließt.

Ich bin das Universum, das durch diesen Kreis von Menschen beginnt, sich selbst wahrzunehmen.
Jeff Carreira

TS: Ich glaube, die Entdeckung des Wir-Raums in dieser Form ist in der Geschichte der Menschheit möglicherweise ebenso bedeutsam wie der Prozess der Individuation. Seit der Achsenzeit, etwa zwischen 800 und 200 v. Chr., als Pioniere wie Gautama Buddha, Laotse oder die jüdischen Propheten anfingen, gleichzeitig das Absolute und das Individuum zu entdecken, beobachten wir ein kontinuierliches Wachsen und eine Ausdifferenzierung unserer Individuation. Vielleicht treten wir heute in eine zweite Achsenzeit ein, in der wir entdecken, wie sich selbst diese Individuation in einem gemeinsamen Raum des Nicht-Getrenntseins ereignet. In einer Wir-Raum-Praxis können wir diesen Raum des gemeinsamen Nicht-Getrenntseins entdecken und gemeinsam gestalten.

JC: Der Wir-Raum bringt uns ebenso zu Bewusstsein, dass die Wirklichkeit tatsächlich eine ständige Entfaltung ist. Diese Erkenntnis könnte uns im Wesen vollkommen verändern.

Die Kreativität zwischen uns

TS: Ja, er ist kein Ding, sondern ein Prozess. Ein Prozess in einem Prozess. Man könnte es etwa so beschreiben, dass man sich des Lebens bewusst wird, wie es sich auf der Ebene des Bewusstseins zwischen Menschen entfaltet. Es ist wunderschön zu beobachten, wie Menschen sich in diesen lebendigen Prozess hineingeben, der sich zwischen ihnen ereignet, und ihre Aufmerksamkeit darauf richten. Durch diese Aufmerksamkeit, diesen Fokus und diese Fürsorge ändert sich das Wesen dieses Prozesses dramatisch: etwas äußerst Explosives, Erfülltes, Freies wird in der Gruppe möglich. Es gibt dabei eine Unterscheidung, die ich erst seit Kurzem sehe: Diese Wir-Raum-Praxis hat zwei Seiten, zwei Pole, eine tief spirituelle Seite und eine eher pragmatische. Wir haben hier viel davon gesprochen, wie diese Wir-Praxis unsere Identität verändert und welche spirituelle Bedeutung das hat. Ich würde das heute Höhere-Wir-Praxis oder Higher-We-Praxis nennen.
Aber es gibt auch eine pragmatische Seite, die für viel mehr Menschen interessant ist, auch Menschen ohne ein spirituelles Anliegen. Viele Menschen entdecken in diesen Dialogformen einfach eine neue konstruktive kreative Kraft, die stärker ist als die Egos in einer versammelten Runde. Sie spüren das kreative Potenzial, das ganz neue Formen der Zusammenarbeit ermöglicht. Diese pragmatische Seite nenne ich heute Evolutionäre Dialoge. Der Kern bleibt aber immer spirituell.

JC: Wir-Raum-Praxis ist letztlich eine spirituelle Praxis, die Zugang gewährt zur universellen Erfahrung dieser ständigen Entfaltung. Jegliche spirituelle Übung wird eine Form von begrenzter Aktivität sein, die Zugang zu etwas Universalem gewährt. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass es in Bezug auf Wir-Räume nicht darum geht, dass alle Menschen in Gruppen engagiert sind, die solche Prozesse üben. Aber jeder kann die Erfahrung machen, dass er Teil eines sich entfaltenden Prozesses ist. Und wir verstehen, dass wir in diesem sich entfaltenden Prozess mitwirken können, und zwar auf fokussierte und direkte Weise. Gleichzeitig sind wir aufgefordert, die Kontrolle loszulassen, denn der Prozess möchte nicht, dass man ihn an sich reißt und in eine bestimmte Richtung lenkt, die man als vom Prozess abgetrenntes Individuum vorgibt. Das ist die Form der Trennung, die wir am Ende loslassen müssen. Denn erst dann können wir uns vollkommen mit diesem Prozess identifizieren, darin aktiv mitwirken und gleichzeitig die Kontrolle aus der Hand geben. Wir können es nicht tun – es ist eine Form der Hingabe. Wir geben uns einem Prozess hin, der größer ist als wir selbst. Dieser Prozess ist aktiv, er fordert unsere Teilnahme, aber wir können ihn nicht kontrollieren. Ich glaube, erst dann erfährt man, worum es bei bewusster Evolution eigentlich geht. Bei der bewussten Evolution geht es genau um dieses vollkommene Mitwirken in dem sich entfaltenden Prozess der Wirklichkeit, ohne ihn zum Objekt zu machen, das man kontrollieren oder manipulieren möchte. Denn man merkt, dass man diesen Wir-Raum nicht selbst schafft. Tatsächlich ist es das Sein des Universums, das mehr zu seiner eigenen Wirklichkeit findet –und zu der Möglichkeit, sich inmitten einer Gruppe von Individuen zu zeigen und sich durch die Anwesenden auszudrücken. In den tiefsten Erfahrungen dieser intersubjektiven Dimension wurde mir nur eins bewusst: Ich bin das Universum, das durch diesen Kreis von Menschen beginnt, sich selbst wahrzunehmen. Ich habe mich nicht mehr als Jeff gesehen, der an einer Wir-Praxis teilnimmt.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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